Textatelier
BLOG vom: 03.01.2009

Neujahrsapéro in Biberstein: Sittliche Normen nach I. Kant

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
„Wir freuen uns, mit Ihnen auf das neue Jahr anzustossen“, stand auf der goldgelben Einladung der Kulturkommission Biberstein an die Bevölkerung. Für mich war dies ein willkommener Anstoss, mich wieder einmal unter die Dorfbewohner zu mischen, bei denen nichts Anstössiges zu finden ist. Es sind herzliche, gesprächige und zugängliche Menschen, die selbst kuriose Ansichten, wie ich sie gelegentlich von mir zu geben pflege, tapfer einstecken und mir nichts nachtragen.
 
Man prostete sich zum Auftakt eines neuen Jahrs im oberen Stock des Gemeindehauses fröhlich wahlweise mit Weissem oder Rotem aus dem gemeindeeigenen Rebberg zu, trocknete die Mundhöhle zwischenhinein mit etwas Butterzopf, um wieder empfänglich für eine neue Spülung zu sein. Für Bibersteiner, die sich eher auf der abstinenten Seite bewegen, stand Granini-Orangensaft, frisch aus der Flasche abgefüllt, bereit.
 
Einen önologischen Dämpfer erhielt ich, als ich aus erster Hand erfuhr, dass Walter Bopp seinen kleinen Rebberg unterhalb der Auensteinerstrasse 16 gerodet hat; an dessen Stelle werden demnächst 2 Einfamilienhäuser entstehen. Der selige Rebberg war nur einen Steinwurf von unserem Haus am Rebweg entfernt, etwas schräg nach oben versetzt. Ich hatte die Rodung nicht einmal bemerkt, und Walter Bopp sagte deshalb zu mir: „Du muesch e nöie Brille haa.“ Eva hakte spontan ein: Genau das sage sie schon lange. Wegen der Kratzer auf meiner Brille, Resultat harter Gartenarbeiten, bei denen Kalksteinsplitter fliegen, sollte ich mit dieser Brille ohnehin nicht mehr unter die Leute, sagt sie.
 
Ich bin da weniger zimperlich. Für mich ist eine Brille eine Krücke und kein Schmuckstück. Gebrauchsspuren erzählen Geschichte. Und den Durchblick verschaffe ich mir auch mit anderen Methoden, zum Beispiel durch eine intensive Lesetätigkeit. Zu meiner Lektüre gehörte in jüngster Zeit unter anderem das „Leitbild der Gemeinde Biberstein“, eine üppig bebilderte, 16 Seiten umfassende A4-Broschüre. Das grafisch verbindende Element ist die Zeichnung eines roten Bibers mit weissen, hervorstehenden Nagezähnen, die in natura allerdings mit einer orangefarbenen Schmelzschicht versehen sind. Das freundliche Tier schaut etwas schildkrötenartig drein, weil dem Zeichner das verschliessbare Ohr zu nahe ans Auge herangeraten ist, Ausdruck einer künstlerischen Freiheit. Aber man erkennt allein schon an der Kelle (dem Schwanz) ohne Weiteres, was für ein Tier das darstellen soll.
 
Doch das Schönste am Leitbild sind nicht etwa die Illustrationen, sondern der Text. Schon in der Einleitung steht geschrieben, „dass Biberstein seine Eigenständigkeit und Identität als attraktive Wohngemeinde am Jurasüdfuss wahren will.“ Ich gebe zu, dass ich da (unwillkürlich) einen Satzteil herausgriffen habe, der mir besonders zusagt: Eigenständigkeit. Eigenständigkeit.
 
Ich lobte den anwesenden, beliebten Gemeindeammann Peter Frei (mit F wie Freiheit) zuhanden des 5 Köpfe umfassenden Gesamtgemeinderats für diese sprachschöpferische Meisterleistung, und wir stellten nach einem Prosit übereinstimmend fest, dass wir Bibersteiner uns diese Unabhängigkeit und auch gerade noch die „Berücksichtigung ökologischer Aspekte“ (Leitbild) sehr wohl leisten können. Unter solch günstigen Umständen sollte man sich diesen Luxus gönnen.
 
Inzwischen setzte der neue Präsident der Kulturkommission, Wolfgang Schulze, zu einer kleinen Begrüssungsadresse an, was mir endlich Gelegenheit bot, die Zopfscheibe aufzuessen. Der Präsident, eine stattliche Persönlichkeit, offensichtlich gewohnt, in grösseren Gesellschaften aufzutreten, ohne überheblich zu wirken, erläuterte vorerst die umfassende Bedeutung des Begriffs Kultur. Dieser umfasst eigentlich, was der Mensch hervorbringt – im Gegensatz zur Natur, die ohne menschliches Zutun auskommt. Unter diese Kultur fallen nicht allein als positiv betrachtete Umformungen von Landschaften, Materialien, sondern da ist alles eingebunden, was der Mensch an materiellen und geistigen Umformungen (also auch Gebäck) zustande bringt, einschliesslich Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Philosophie und Religion in all ihren hundertfältigen Ausprägungen.
 
Und Wolfgang Schulze lenkte den Begriff auf das Zusammenleben in einer Dorfgemeinschaft, auf das Eingebundensein, auch auf die Hilfsbereitschaft, wenn jemand den Halt verliert und sich selber nicht mehr zu helfen weiss. Das hat mit Kultur im Allgemeinen und Ethik im Besonderen zu tun. Der Referent zitierte Immanuel Kant (1724‒1804), wonach unser Handeln so sein sollte, dass die Maxime unseres Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte – dass dieses Tätigsein also nicht nach dem rüden Prinzip, wonach der Zweck die Mittel heiligt, erfolgen sollte, besonders wenn der Zweck wenig mit Heiligem zu tun hat.
 
Ich freute mich darüber, dass der kategorische Imperativ nach Biberstein zugewandert ist, sich also gewissermassen expressis verbis (ausdrücklich) hier niedergelassen hat, um mich auch sprachlich den philosophischen Höhenflügen anzupassen. Aber damit möchte ich ums Himmelswillen nicht etwa durchblicken lassen, dass sich die mit einer natürlichen Vernunft gesegneten Bibersteiner Eingeborenen nicht schon bisher nach ethischen Maximen verhalten hätten.
 
Ich fand dann heraus, dass der vor etwa einem Jahr zugezogene Wolfgang Schulze von Beruf Pfarrer gewesen ist, und ich fragte ihn nach der Religion. „Reformiert.“ Er zeigte zur Bestätigung auf den Ehering, der ihn an eine nette Gürbetalerin bindet. Jährlich will die Kommission 4 Anlässe auf die Beine stellen, um das Dorfleben zu beleben.
 
Wir fassten eine neue Butterzopfscheibe, um uns für all das Kommende zu stärken. Dieses Gebäck begleitet viele öffentliche Anlässe in Biberstein, selbst Gemeindeversammlungen. Vielleicht ist die Züpfe ein Symbol für die verschlungenen Bande, wie sie sich in einer überblickbaren Gemeinde (1300 Einwohner) fast automatisch ergeben.
 
Nachdem hinreichend Wünsche nach allen Seiten ausgetauscht waren, spazierten wir durch die von 2 bis 3 Zentimetern Schnee leicht aufgehellte Winternacht heimzu, begleitet von unseren Nachbarn Silvia und Robert Jäger. Wir folgten ihrer Einladung zu einer Zwischenstation in deren lichtvollen und mit dem sicheren Geschmack fürs Stilvolle, Edle aus fernen Zeiten fast museal ausgestatten Haus, wo wir mit dem herrlichen, hausgemachten Weihnachtsgebäck, das Massstäbe setzte, aufräumten und dazu einen Glückstee serviert bekamen; im Glaskrug öffnete sich eine Blume.
 
Kaum waren wir daheim, läutete es an der Haustür. Unsere Nachbarin Ursula Leibbrandt-Wälti brachte ein grosses, wunderbar duftendes, warmes, butteriges Neujahrsbrot mit Weinbeeren – eine weitere echte Nachbarschaftshilfe. Noch einmal konnten wir nicht widerstehen.
 
Das neue Jahr hat gut begonnen. Immanuel Kant hätte seine helle Freude daran gehabt. Wir auch. Ethische Maximen sind in Biberstein guter Brauch.
 
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