Textatelier
BLOG vom: 23.01.2009

Rougemont: Romanische Kirche beim verspielten Châletdorf

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
In der Region Saanen im Berner Oberland mit dem angrenzenden Pays-d’Enhaut ist so viel Sehenswertes versammelt, dass für jeden Durchreisenden die grosse Gefahr des Hängenbleibens besteht – man plane also genügend Zeit ein! Schon ein paar Mal musste ich das Dörfchen Rougemont VD im Bezirk Riviera-Pays-d’Enhaut aus Zeitgründen links beziehungsweise rechts liegen lassen; doch am 10.01.2009 räumte ich etwa 3 Stunden für eine Besichtigung ein.
 
Die alten, ausser Kurs geratenen deutschen Namen für dieses sonnseitige Fleckchen Erde sind Rötschmund oder Retschmund; hier an der Kantonsgrenze Waadt/Bern, im Engnis von Le Vanel, verläuft auch die Sprachgrenze. Doch die Holzchâlets sehen sich auf deren beiden Seiten ähnlich. Das Trennende hält sich also trotz der Kantonsgrenze in Grenzen, auch was das Brauchtum und die Lebensart anbelangt. Die Spuren bernischer Herrschaft sind übergreifend.
 
In einem Prospekt, den ich von einer hilfsbereiten jungen Dame im Informationsbüro Rougemont im oberen Dorfteil erhalten habe, steht von einem „authentischen Dorf zwischen Château-d’Oex und Gstaad“ zu lesen, dessen Geschichte eng mit dem Kloster verbunden sei. Speziell wird auf die Châlet-Architektur, die ja auch das benachbarte Saanenland und das Simmental prägt, hingewiesen; auch wenn die Dachneigungen im Berner Oberland steiler als im benachbarten Waadtland sind, um Schnee und Wasser schneller loszuwerden – obschon es angeblich auch im Berner Oberland gelegentlich regnet oder schneit, wie ich aus zuverlässigen Quellen weiss.
 
Im 19. Jahrhundert hätten die Touristen alle Holzhäuser „Châlets“ genannt; doch ursprünglich sei diese Bezeichnung für Alphütten reserviert gewesen, heisst es in der Schrift über Rougemont im Weiteren. Man könnte sagen, Châlets seien komfortablere Alphütten, also Alphäuser, wie ich beifügen möchte.
 
Ein Dorfrundgang
Im Pays-d’Enhaut mit dem Paradebeispiel Rougemont haben die heimeligen hölzernen Wohnbauten mit dem gemauerten Fundament folgende Eigenarten: breites, weit vorkragendes, flachgeneigtes Dach. Zuoberst an der Fassade (unter dem Giebel) ist jeweils das Datum des Baujahrs eingraviert, dazu manchmal noch ein Bibelzitat sowie die Namen des Besitzers und des Baumeisters. Insgesamt sind die Fassaden zu eigentlichen Schaufronten mit ornamentierten Pfettenkonsolen (statische Elemente zur Verteilung der Dachlast) und Friesen ausgebildet. Und manchmal kommen noch dekorative Malereien mit landwirtschaftlichen Motiven hinzu, etwa das Abbild eines Kuhkopfs oder eines Heu verteilenden Bauern, Bilder, die Einblick ins Hausinnere zu geben scheinen, und Balkone im Laubsägestil. Zu erwähnen sind unbedingt auch 2 symmetrische Treppen, die zu je einer Wohnung führen, da die stattlichen Bauten in der Regel mehr als nur einer einzigen Familie oder Generation dienten oder dienen. Die meist aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Häuser sind Ausdruck einer kunstbeflissenen, hochstehenden Zimmermannskunst. Eindrücklich.
 
Besonders markante Häuser sind „La Cotze“ (1654), das Isaac Saugy, einem berühmten Scherenschneider, gehörte und eine ockerfarbene Fassade besitzt, angeblich ein Holzschutz vor unerwünschten Insekten; den Ausdruck „Ungeziefer“ wollte ich umgehen, da es nur Geziefer gibt. Das Dorfzentrum besteht aus der so genannten „Wiege“, einer Kombination aus 2 Wohnhäusern aus dem Jahr 1623 – welche die ältesten lesbaren Datumsangaben des Dorfs besitzen; aber es gibt in Rougemont noch ältere Bauten mit verblassten Datumsangaben. Ein typischer Bau ist das „Maison du Cordier“ (1655) mit seiner Treppen-Symmetrie an der Dorfstrasse, in die während unseres frühabendlichen Besuchs gerade erhellende Sonnenstrahlen eindrangen. Eine bemerkenswerte Geschichte dürfte das Haus „Les Clématites“ (1647) haben. Die Inschrift „tanzen“ weist vielleicht darauf hin, dass sich das Haus bewegte, das heisst versetzt wurde – tatsächlich wurden alte Gebäudeteile früher oft für Neubauten genutzt. Das Recycling ist ja auch eine Art von Tanz, ein Rundtanz.
 
Zu den bedeutendsten Bauten von Rougemont gehört ferner die „Auberge du Cheval Blanc“. Sie stammt aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Baumeister Moïse Henchoz liess sich von weit älteren Vorgängern anregen, insbesondere mit Bezug auf Inschrift und Dekoration.
 
Diese Aufzählung ist unvollständig – wo immer er hinschaut, entdeckt der Besucher Merkmale einer traditionellen Bauweise mit individuellen Besonderheiten – das ist Architektur, die nicht einfach zum plumpen Bauwesen verkommen ist.
 
Die berühmte Kirche
Die Durchgangsstrasse (Hauptstrasse 11) nach Saanen und Zweisimmen führt unterhalb des Dorfs vorbei. Ein Kreisel übernimmt die Verkehrsaufteilung dort in der Nähe, wo die berühmte, heute reformierte Kirche von Rougemont ist, das ehemalige Cluniazenserpriorat St-Nicolas, die sich uns bei bestem Licht im Winterschmuck zeigte. Auf der Baugruppe aus Kirche, Friedhof und dem ehemaligen Prioratsgebäude lag eine dicke Schneedecke, die den Eindruck erweckte, als würden die Bauteile darunter an der Wärme den Winterschlaf der Gerechten geniessen.
 
Wegen ihrer formalen Einfachheit und Schlichtheit sprechen mich romanische Kirchen als Bauwerke im weitesten Sinne besonders an, auch wenn (oder: obschon) diese Periode reich an regionalen Sonderformen ist. Die ursprüngliche Kirche, ums Jahr 1080 von Mönchen des Ordens von Cluny im Auftrag des Grafen von Greyerz erbaut, hatte die Form eines lateinischen Kreuzes und war nach Osten ausgerichtet. Es war die Zeit der sich öffnenden Blüte und damit der schöpferischen Phase der Romanik. Auf der Vierung sitzt ein viereckiger Glockenturm als Dachreiter mit 4 Glocken, wovon 3 aus dem 15. Jahrhundert stammen und eine 1980 anlässlich der 900-Jahr-Feier hinzukam.
 
Das hohe Kirchenschiff mit seinem Sichtmauerwerk und den Halbrundungen stützt sich auf die Seitenschiffe; die tragenden Pfeiler sind kräftig ausgebildet – das hält, das trägt und erweckt den Eindruck von Beständigkeit, von Kraft. Das ist Romanik: wuchtige Lagerung unter Rundbogen; alles wirkt massiv wie bei einem wohlbeleibten Mann auf kräftigen Beinen.
 
Der Eindruck der Dreischiffigkeit ist in der Kirche von Rougemont allerdings gemildert. Die Kirche hat im Verlaufe der Jahrhunderte bedeutende Veränderungen erfahren, vor allem während der Berner Epoche (1555‒1798); 1555 wurde in Rougemont die Reformation eingeführt. Die ursprünglichen burgundischen Dächer des Kirchenschiffs sowie der Seitenschiffe wurden durch ein übergreifendes Dach nach berneroberländischem Formempfinden ersetzt. Die Prioratsgebäude wurden abgebrochen und durch ein Landvogteischloss ersetzt. Die Grabplatten in der Kirche gelten den Familienmitgliedern der bernischen Landvögte.
 
Die Innenseite des Kirchenschiffs wurde während der letzten Renovation (1919) nach Zeichnungen aus dem 13. Jahrhundert mit gerundeten pflanzlichen Motiven bemalt. In den Chorfenstern sind seit 1924 bzw. 1926 Glasgemälde von Louis Rivier und Théodore Delachaux, die innerhalb der Dominanz des Schlichten fast zu opulent wirken. Das mittlere Chorfenster (von Rivier) ist Jesus Christus geweiht, die Fenster daneben (von Delachaux) erzählen von der Übergabe von Rougemont an die Mönche von Cluny und von der Verkündigung der Reformation. Damals erfolgte eine umfangreiche Restaurierung, bei welcher die ursprünglichen Bausteine freigelegt wurden, die mit 5 Gipsschichten bedeckt waren. Die Entfernung des Verputzes war richtig, zumal in der Romanik der Charakter des Steins eine dominante Bedeutung hatte. Die Decke des Hauptschiffs wurde als Tonnengewölbe aus Holz erneuert.
*
Rougemont – das ist ein Fest fürs Auge, das tief in die stolze Vergangenheit zurückblicken darf. Gerade so etwas hat in dieser desorientierten Zeit auf wankenden Fundamenten Zukunft.
 
Quellen
Chesaux, Alain: „Rougemont et son église“, Imprimerie de Château-d’Oex 1996.
Prospekt „Rougemont“.
Informationsblatt „Die Kirche von Rougemont“, das in der Kirche aufliegt.
Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte: „Kunstführer durch die Schweiz“, Band 2, Büchler-Verlag, Zürich/Wabern 1976.
 
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