BLOG vom: 22.01.2009
Obama-Stilbruch 12: Guantánamo-Wunder dauert etwas lang
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
So einfach wie sich Barack Obama das Schliessen des US-Folterlagers Guantánamo auf Kuba vorgestellt hatte, ist es selbstredend nicht – er hatte im Wahlkampf ursprünglich versprochen, dies am 1. Tag im Amt („sofort“) und später dann „in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit“ zu tun und damit einen Schandfleck, der für den moralischen Zerfall der USA steht, zu tilgen. Dieses Versprechen war eine seiner zentralen Botschaften im Wahlkampf. Mit seiner Rhetorik war er, wenn vielleicht auch nicht über das Ziel, so doch zumindest über die praktischen Möglichkeiten hinausgeschossen. Das zeigt, dass man ihn nicht allzu wörtlich nehmen darf. Immerhin soll das Lager innert eines Jahres geschlossen werden, und das Foltern hat Obama abgschafft. Das hat mich beeindruckt.
Dem neuen Präsidenten ist ferner zugute zu halten, dass er sich als erste Amtshandlung, als die Inthronisationsfeier mit der rauschenden Ballnacht noch nicht einmal verraucht war, des von Schande befleckten Lagers „Camp X-Ray“ angenommen hat, wo seit 6 Jahren hauptsächlich unschuldige Menschen in einem rechtlichen Vakuum Menschen gequält werden. Es war ein symbolischer Schnellschuss, der vorerst nichts präjudizierte. Bereits vor der Vereidigung war Obama mit Bezug auf seine Schliessungsabsicht in zeitlichen Belangen zurückgekrebst, zumal er inzwischen erkannt haben will, dass die Schliessung schwieriger sei „als sich das viele vorstellen“. Deshalb, und wohl auch um Zeit zu gewinnen, beantragte er vorerst in einer „Government Motion“, die laufenden Verfahren gegen die mutmasslichen Terroristen „im Interesse der Gerechtigkeit“ bis zum 20.05.2009 (also für 120 Tage) auszusetzen; die Militärstaatsanwälte erhielten eine entsprechende Anweisung.
Bemerkenswert ist im gegebenen Zusammenhang, dass sich laut einer Mitteilung von „Spiegel online“ vom 21.01.2009 verschiedene Guantánamo-Häftlinge der Entscheidung, das Verfahren auszusetzen, widersetzten. Unter ihnen ist der Hautpverdächtigte Khalid Scheich Mohammed, dessen Prozess seit Juni 2008 im Gange ist. Sie gelten als Verschwörer des 11.09.01 (ohne Unschuldsvermutung, wie sie sonst in der Jurisprudenz bis zur definitiven Verurteilung üblich ist). Sie sollen erklärt haben, so wollten lieber möglichst schnell und in Guantánamo zum Tode verurteilt zu werden. Auch das Verfahren gegen den jungen Kanadier Omar Chadr wurde ausgesetzt. Ihm wird vorgeworfen, in Afghanistan einen US-Soldaten ermordet zu haben. Zudem sitzen dort der gebürtige Palästinenser Abu Subaida, der Militärchef von Osama Bin Laden war, und Hambali, der für die Bombenanschläge von Bali (2002) verantwortlich gemacht wird. Insgesamt halten die USA etwa 245 Gefangene in dem Stützpunkt auf Kuba fest, wovon der grösste Teil unschuldig sein dürfte.
Das Problem besteht nun darin, was mit ihnen nach der Schliessung des Gefangenenlagers geschehen soll. Verschiedene Länder, darunter auch die Schweiz, vertraten bisher die nachvollziehbare Ansicht, das sei das Problem der USA, die ja durch ihre überbordende Hatz auf „mutmassliche“ Terroristen zur Beruhigung der eigenen Bevölkerung das Folterlager so reich bestückt haben. Doch weiss man ja seit langem, nicht erst seit dem Kreditbriefe-Schrott, der gerade global ausgelöffelt wird, dass die Amerikaner im Rahmen ihres Vollzugs der weltweiten Vorherrschaft alles auslagert, was ihnen missfällt.
Eine begrüssenswerte Schweizer Geste
Die allfällige bzw. überfällige Freilassung der Häftlinge und deren Aufnahme wäre ein Akt der Menschlichkeit. Deshalb ist es absolut erfreulich, dass sich der schweizerische Bundesrat anerboten hat, die Aufnahme von ehemaligen Guantánamo-Häftlingen zu prüfen. Das könnte mithelfen, das in jeder Beziehung völkerrechtswidrige Lager der US-Schande schneller zu schliessen, wenn schon die Amerikaner offenbar unfähig oder unwillens sind, eine andere Unterkunft für ihre merkwürdige menschliche Beute aus dem Terrorkrieg bereitzustellen und sich auch um diesen Akt des Anstands herumdrücken. Es ist enttäuschend, dass Obama keine diesbezügliche Lösung sieht und sein „Yes we can“ bereits an diesem Beispiel Schiffbruch erleidet.
Das Angebot der Schweiz darf aber niemals aus einer Unterwürfigkeit den USA gegenüber oder um die Liebkindrolle Obama gegenüber erfolgen – sondern ausschliesslich aus ethischen Gründen, die auch aus der Schweizer Rolle als Depositärstaat der Menschenrechtskonventionen herauswachsen.
Die Schweiz soll sich von keiner Seite vorschreiben lassen, wen sie ins Land einwandern lassen will, schon gar nicht von den USA und auch nicht von der US-gesteuerten EU. Doch wenn es um unschuldige Menschen und US-Folteropfer geht, muss eine gewisse Grosszügigkeit Platz greifen.
Die Schweizerische Volkspartei SVP würde die Aufnahme von Häftlingen als „Freipass für Terroristen“ orten, was eine Fehleinschätzung ist. Diesmal verstehe ich ihre Bremsaktion wirklich nicht. Das Verhalten der USA in ihrem „Krieg gegen den Terror“ war dergestalt, dass terroristische Aktionen in Fülle auch auf dieser Seite auszumachen waren. Und mit einer Gefahr für die „innere Sicherheit“ der Schweiz hätte eine solche Aufnahme unschuldig Gefangener, die meist aus Afghanistan und Pakistan stammen, sicher nichts zu tun, sondern vielmehr mit dem Ansehen der Schweiz aufgrund einer vom Geist der Humanitas durchdrungenen Haltung. Diese ist international zur Rarität geworden – vom Bush-Regime wurde sie sogar abgeschafft.
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