Textatelier
BLOG vom: 26.01.2009

Winter im Tessin (2): Das unbekannte Val Capriasca erkundet

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Die Tessiner Gemeinde Capriasca im Bezirk Lugano ist ein Konglomerat aus verschiedenen fusionierten Dörfern, was dem unkundigen Touristen die Orientierung und damit das Leben nicht ganz leicht macht, zumal zwischen Capriasca und den untergeordneten Dörfern unterschieden werden muss und die Ortstafeln mit den Doppelbeschriftungen eher verwirrlich sind. Die Fusionitis befiel 1976 bereits die bis dahin selbstständigen Gemeinden Campestro und Tesserete. 2001 ging Tesserete in Capriasca auf, als sich gerade auch noch Cagiallo, Lopagno, Roveredo-Capriasca, Sala Capriasca und Vaglio diesem politischen Gebilde anschlossen. Im April 2008 folgten Bidogno, Corticiasca und Lugaggia dem kommunalpolitischen Vereinheitlichungstrend.
 
Bitte kapitulieren Sie vor diesem gemischten Namensalat nicht. Wir befreien uns gleich aus diesem Dörfer-Konglomerat in der Media Capriasca; diesen Ausdruck für eine Talmulde habe ich in der 1:25 000-Karte „Tesserete“ (Blatt 1333) gelesen. Wir verlassen die Commune di Capriasca (www.capriasca.ch) sogleich, um ins Capriascatal einzutauchen, das ziemlich genau nordwärts von Tesserete verläuft. Bitte machen Sie sich kein Gewissen, wenn Sie noch nie davon gehört haben sollten – mir erging es bis vor kurzem ebenso; ich kam durch das Kartenstudium darauf. In den Tessin-Reiseführern liest man kaum etwas davon.
 
Tesserete
Tesserete rühmt sich des schlanksten romanischen Kirchturms (Campanile) der Gegend. Unter der ziegelfarbigen Turmspitze sind putzige Spitztürmchen angebracht, und unter diesen lehnen sich die Glocken ein bisschen aus Turmfenstern. Das Dorf hat trotz der Nähe zu Lugano (etwa 6 km) seinen Alt-Tessiner Charme behalten, über die Pfarrkirche S. Stefano hinaus. Man fühlt sich tief in die Vergangenheit zurückversetzt, obschon im Juli 1909 eine etwa 8 km lange schmalspurige Nebenbahn über Canobbio und die Haltestelle Sassa zum SBB-Bahnhof Lugano in Betrieb genommen wurde. In diesem Tesserete fanden wir an der Via alla Chiesa einen miniaturisierten Bäckereiladen, in dem wir kleines, luftiges Brühteiggebäck und andere „Biscottini Maison“ wie Amaretti al Kirsch kauften, und die Macelleria-Salumeria von Franco Lepori bot ganz in der Nähe hausgemachten Salami nostrano für 48 CHF das Kilo feil.
 
Dank solcher hervorragend als Zwischenverpflegung geeigneter Fundstücke konnten wir getrost in die Einsamkeit des einsamen Capriascatals fahren, wo alle Gaststätten geschlossen waren, und von einem Laden habe ich nichts gesehen. Wir warfen bei der Einfahrt ins obere Tal noch schnell einen Blick hinauf zum Kloster Bigorio, 1535 gegründet, dessen Standort von Engeln höchstpersönlich auserwählt worden sein soll und das lange ein Zentrum des Kapuzinerlebens war und heute der religiösen und kulturellen Weiterbildung dient, und folgten dem weissen Wegweiser, auf dem unter anderem „Gola di Lago“ zu lesen war.
 
Im Capriascatal
Die Strasse begleitet den Bach Capriasca, der dem Tal den Namen gegeben hat. Besonders in Odogno (633 m ü. M.) mit den nach Tessiner Manier ineinander verschachtelten Bauten mit Kaminen und Antennen auf den verschneiten Ziegeldächern vollzieht sie einige Kapriolen. Sie führt am Dorfeingang, wo es einige Mehrfamilienhäuser gibt, über eine knapp 70 m lange Brücke, die 1995/96 als Rahmenkonstruktion mit einem kastenförmigen Stahlelement als selbsttragendes System ausgeführt wurde. Odogno ist vom Monte Bigorio und von den Monti di Roveredo flankiert.
 
Das nächste, in die Länge gezogene Dorf ist Leglio (668 m ü. M.). In dieser Häusergruppe mit einer üppigen Fächerpalme am Dorfeingang ist die Strasse besonders schmal, bestenfalls ausreichend für einen PW neben einem schlanken Fussgänger. Das Velo wäre hier das geeignete Verkehrsmittel – dementsprechend sind in dieser Gegend auch viele Fahrradwege ausgeschildert. Der Dorfbrunnen ist aus Platzgründen in eine Natursteinmauer eingelassen, die schon viele Reparaturen über sich ergehen lassen musste. Viele neuere, architektonisch angepasste Wohnhäuser mit oft ziegelroten Fassaden haben sich unter die Altbauten gemischt; ihnen allen sind die Fernsehschüsseln gemeinsam. Hier zweigt auch das Val di Caslascio nach Nordosten ab, ans Ende der Welt. Oberhalb des Dorfs passiert man im Gebiet Rede einen kleinen Weiler, wahrscheinlich Ferienhäuschen für Ruhesuchende aus dem Norden, jenseits des Gotthards.
 
Vom Gola di Lago zur Alpe di Zalto
Die sich nach oben ständig verjüngende, steiler werdende Strasse durch den Wald, der von einem dichten Netz von Bachrinnen durchzogen ist, wird oberhalb von Brivio von mehreren Ausweichstellen begleitet – in eine davon konnten wir uns flüchten, als ein von oben kommendes Allradfahrzeug mit einer währschaften Dame am Steuer auf dem Recht der Stärkeren beharrte. Immerhin schafften wir es bis hinauf zur Senke Gola di Lago (972 m), etwa 3 km östlich des Monte Bar (1816 m), wo verwaschene Tafeln auf Schiessplätze hinweisen. Auf diesem Hochplateau, wo der See schon vor langer Zeit verschwand, ist das Abstellen des Autos kein Problem. Wir folgten dem Wanderweg neben dem zugeschneiten Sumpfgebiet Ranscea/Gola di Lago mit den lichten Birkenbeständen und einem vollkommen eingeschneiten Auto mit Plastikfolien vor den Fensterscheiben. Der Wanderweg führt in nordöstlicher Richtung zur Alpe di Zalto (996 m), was in 15 Minuten locker zu bewältigen ist. Am Wegrand steht eine kleine Kapelle aus dem Jahr MCMXXXIX (1939) mit Rundbogeneingang. Im Inneren umranken Plastikblumen ein von Grünspan bedecktes Passionsbild aus Bronze mit der mitfühlenden Gottesmutter bei ihrem sterbenden Sohn. Weiter oben weist ein Plakat auf die Möglichkeit zum Schlafen im Stroh (Aventure sur la Paille) hin, ein agrotouristisches, abenteuerliches Vergnügen eben.
 
Am Spätnachmittag warf die Sonne ihre langen Schatten; der Himmel über zerklüfteten, spröd wirkenden Felsen aus Dolomit, aus denen riesige Brocken hinuntergekollert waren, war strahlend blau. Hier wurde von geschäftstüchtigen Leuten ein Klettergarten eingerichtet.
 
Links unten erkannten wir das Val d’Isone mit dem Dorf Isone in Beige und Rosarot, mit dem Waffenplatz ausserhalb des Orts und das Nachbardorf Medeglia neben Runsen und Tobeln, die dunkle Linien ins Landschaftsbild zeichneten. Der sich zunehmend ausweitende Horizont veranlasste uns, weiter bis zu den Bauten des „Consorzio Monte Zalto“ aufzusteigen und die schneebedeckte Landschaft zu geniessen, in die sich überraschend überall und an den unmöglichsten Orten Steinbauten vorgewagt haben.
 
Die kleinen Mühen hatten sich mehr als gelohnt. Von dort oben aus reicht der Blick zwischen Monte Bigorio und Caval Drossa bis nach Lugano, zum Luganersee und zu den Bergkuppen rund um den Monte Brè. Ein Weichzeichnereffekt, von einem schwachen Dunst herbeigeführt, gestaltete aus dem Landschaftsbild ein Kunstwerk. Eine Gruppe von offenbar verlassenen Steinbauten machte sich diese eindrückliche Aussicht zunutze. Auf den Dächern lagerte wohl ein halber Meter Schnee in strahlendem Weiss, ein Hinweis auf die saubere Luft.
 
Wir liessen uns auf einer Bank ganz in der Nähe nieder, und Eva kramte aus ihrem Rucksack eine handgeschöpfte Schokolade mit Marzipan-Füllung aus der österreichischen Manufaktur „zotter“ zu etwas Tessiner Brot und Tee aus einer Thermosflasche hervor, das schöne Erlebnis hier oben um eine Dimension erweiternd.
*
Der Rückweg war am frühen Abend des 13.01.2009 bei untergehender Sonne über den knarrenden Schnee auf dem gut gepfadeten Strässchen problemlos. Unser Prius stand beim Gola di Lago noch geduldig da und erhielt bei der Fahrt das Val Capriasca hinunter ausreichend Gelegenheit, seine Batterien wieder aufzuladen. Wir hatten dasselbe ja auch getan – im Sinne Gottfried Kellers: „… Ein Tag kann eine Perle sein / Und ein Jahrhundert nichts.“
 
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