Textatelier
BLOG vom: 27.01.2009

Winter im Tessin (3): Das Collatal für Kessel- und Zahnflicker

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Einen Kesselflicker habe ich im „Tal der Kesselflicker“, im Tessiner Val Colla, nicht angetroffen; denn heutzutage werden defekte Küchengeräte nicht mehr repariert, sondern entsorgt. Vielleicht kommen nach der allfälligen Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Bulgarien und Rumänien (Abstimmung am 08.02.2009) einige Sinti in die Schweiz, um die Kesselflicker-Lücke und die Löcher in den Kesseln zu füllen.
 
Die Kupferschmiede und Kesselflicker (Magnani) lebten einst im hinteren Collatal, wenige Kilometer von der Grenze zu Italien mit dem Übergang von San Lucio (1540 m ü. M.) entfernt. Oben steht eine schöne romanische Kirche, und dann kommt man ins italienische Val Cavargna hinunter. In den 1930er- und 1940er-Jahren war die Landesgrenze mit einem Drahtzaun „gesichert“. Er ging dann den Weg alles Irdischen, wurde nicht mehr repariert. Und die Grenzwächterunterkunft, die Kaserne der Guardia di Finanza, wurde im Jahr 2000 in ein Berggasthaus umfunktioniert.
 
Ihr Leben in der Abgeschiedenheit des Collatals hatte sich wahrscheinlich eher aus Not als aus eigenem Antrieb ergeben. Kastanien, die einst das „Brot der Armen" waren, mögen ihnen als wichtiges Lebensmittel gedient haben. Es gab noch keine richtige Strasse dem Bach Cassarate entlang, der bei Tesserete in die Capriasca mündet. Die Dörfer zu beiden Seiten des Hangs wurden erst um 1950 mit einer Strasse verbunden, ohne dass seither ein Bauboom stattgefunden hätte.
 
Im Collatal
Wir zweigten am 14.01.2009 bei winterlichen Verhältnissen von Tesserete, das seit 2001 zur Gemeinde Capriasca gehört, in diesen Talkessel ein. Die Hänge dieses gebirgigen Hinterlands von Lugano sind mehr oder weniger steil und von Kerben, die Wildbäche eingeschnitten haben, geprägt, zumal ja der Kanton Tessin zu den niederschlagsreichsten Gebieten der Alpen gehört. Südliche Winde schaufeln feuchte Luftmassen aus dem Mittelmeerraum heran, die dann vom Gebirgswall gestoppt werden, sich entleeren und die Bäche und Flüsse anschwellen und toben lassen. Man darf also das milde Tessiner Klima nicht mit einem trockenen Klima verwechseln.
 
Die Tessiner sind naturverbunden, was gerade auch beim Betrachten der alten Dörfer zum Ausdruck kommt. Die Häuserhaufen sitzen dicht gedrängt auf Hangterrassen oder aber wagen sich in Hangkerben hinein. An Steinen für die Bauten und die Bodenbeläge, für die gewundenen Wege und die Strassenmauern bestand keinerlei Mangel. Und immer ist ein Kirchturm dabei, der die Glocken sichtbar lässt, auf dass ihr Klang mit ungebremster Wucht zur religiösen Besinnung und als Einladung zum Gottesdienst, der früher eher ein Aufgebot war, weithin hörbar erschallen kann. Viele dieser landschaftsprägenden Kirchen haben heute mit Zerfallserscheinungen zu tun; offenbar fehlt das Geld für aufwändige Restaurationen.
 
Jedes Dorf ist den Anforderungen des Klimas und den Bedürfnissen der Menschen angepasst. Die Gassen sind eng, die unterschiedlichen Bauten zusammengewachsen – und gerade in dieser Unregelmässigkeit, die von wechselnden Nutzungsansprüchen und einem Hang zum Individualismus erzählt, liegt der einzigartige Reiz der Tessiner Dörfer. Zu den neueren Nutzungen gehört auch, dass viele Häuser zu Sommerresidenzen für Leute aus der Deutschschweiz und Deutschland geworden sind – häufig geschlossene Fensterläden sind die Folge. Zweifellos wären viele Häuser ohne diese Eingriffe aus dem Norden zerfallen.
 
Was aber in jenen abgelegenen Gebieten, wo kein Anlass für ein intensives Bauen besteht, bleibt – das ist die Schönheit der Landschaft, der Natur, zu der auch die Dörfer gehören. Der Tessiner Schriftsteller Virgilio Chiesa (1888‒1971), der zuletzt in Lugano lebte, hat in seinem Buch „L’anima del villaggio“ angemerkt, das Tessin sei eines der schönsten Denkmäler, das die Natur (und wohl auch die Kultur) in Europa geschaffen habe.
 
In diesem Sinne typisch ist das Collatal, das wir im Uhrzeigersinn umrundet haben, beginnend bei Roveredo, Treggio und Bidogno auf der Nordseite des Tals, mit seinen geschichteten, geschieferten, kristallinen Gesteinsmassen. Den ersten Halt schalteten wir in Bidogno (796 m, gehört heute ebenfalls zu Capriasca) ein, etwa 4 km nach dem Taleingang, wo noch stattliche Schneerestbestände herumlagen. Der Kirchturm der Kirche Santa Barnaba beim Gemeindehaus ist in einem jämmerlichen Zustand. Der 1644/46 erbauten Wallfahrtskapelle Santa Maria delle Grazie („Divina Maesta" = göttliche Majestät) ergeht es nicht viel besser. Sie ist über eine breite, von Bildstöcken gesäumte Treppe aus den Jahren 1756/58 mit teilweise kunstvoll gestaltetem, teilweise flüchtig geflicktem Kopfsteinpflaster als Stufenoberflächen erreichbar: ein Kreuzweg. Von dort, oberhalb des Dorfs, am Rande eines Kastanienwalds, geniesst man einen schönen Überblick übers Val Colla. Immer im Blickfeld sind die Denti della Vecchia (die „Zähne der Alten“), von Schneefeldern an den Steilhängen neben den Felsen marmoriert. Das ist ein zerklüftetes Gebirgsmassiv, das an ein gewaltiges zerfallendes Gebiss erinnert, wie man es früher bei alten Menschen gelegentlich sah, die sich weder Zahnbürste noch Zahnarzt leisten konnten. Die Dolomitzacken unmittelbar vor der italienischen Grenzen waren kahl, zerfressen, im Sommer aber sind sie mit dem Grün von Bäumen bemalt, wie ich auf Fotos gesehen habe.
 
Ein Rundgang durch das Dörfchen Bidogno, in dem rund 300 Menschen leben, ist zwingend. In den Gassen, zur Höhenüberwindung oft mit Stufen versehen, kommen gerade 2 Personen aneinander vorbei. Die Fassaden sind in den hellen Farben von Rosarot bis Zitronengelb bemalt, die unteren Fenster oft vergittert, die Treppen zur Wohnung verspielt mit schmiedeisernen Geländern versehen. In einem mit einer roten Wolldecke ausgepolsterten Körbchen vor einem Fenster schaute eine Katze verwundert zu uns als die beiden einzigen Touristen herab. Sie mag sich wohl gefragt haben, was die denn hier bei diesen Temperaturen zu tun haben.
 
Die Strasse vollzieht dann eine Schlaufe ins Valle del Fiume Bello, des schönen Flussbetts, hinein und führt dann nach Albumo, Coriciasca (1008 m) und Scareglia weiter. In regelmässigen Abständen begegneten uns Postautos, und wir waren jeweils froh, wenn diese Zusammentreffen an einer einigermassen breiten Stelle der Strasse mit ihren Winterschäden stattfanden. In diesen Dörfern kleben die Wohnbauten förmlich am Steilhang. Sie sind von Natursteinmauern unterstellt, über Treppen erreichbar, aber für eine grosse Palme ist immer noch Platz. In Scareglia ist ein ins Gelände eingelassener Brunnen („Fontana – Albo Comunale“) anzutreffen, der offenbar unter dem Patronat der Reformierten Kirchgemeinde Rupperswil AG und dem Berner Alpenclub steht, wenn ich die Gedenktafel richtig interpretiere; er wurde 1922 angelegt und 2004 restauriert.
 
Wir machten noch einen Abstecher zum Dörfchen Insone (814 m), das in einer Steillage am Fusse des Valle di Scareglia unter der Kantonsstrasse entstanden ist, aus einigen modernen Wohnbauten besteht und nach Piandera und den Gardua-Hügel hinüberblickt.
 
Zuhinterst und damit auch zuoberst im Valcolla-Talkessel sind nach Signôra in enger Reihenfolge die Dörfer Colla, Cozzo, Bogno und Certara aufgereiht. Sie wurden zur Gemeinde Valcolla (972 m) zusammengefasst (Bezirk Lugano), die jetzt 625 Einwohner umfasst. In einer sonnigen, nach Südwesten ausgerichteten Lage geniessen die Bewohner die Aussicht durchs praktisch geradlinig abfallende Val Colla. Fast jedes Haus hat seinen Balkon – und seine Fernsehschüssel, um noch tiefer in die Welt hinein schauen zu können. Auch grössere Mehrfamilienhäuser sind dabei, die aber die Proportionen der geschlossen wirkenden Dörfer nicht stören. Nur ein überdimensioniertes Gebäude ist zu sehen: Das Centro L’Orizzonte in CH-6951 Colla, ein Alterswohn- und Pflegeheim mit 42 Plätzen (posti letto), wie mir Gianfranco Boscacci von der Gemeindekanzlei Valcolla auf Anfrage freundlicherweise mitteilte.
 
Hinauf nach Cimadera
Die Kantonsstrasse führt anschliessend durch einen Wald nach Maglio di Colla und Piandera (917 m) auf der linken Talseite hinunter. Vor dem Dorfeingang ist die Abzweigung nach Cimadera, ein stolzes, an Italien angrenzendes Dorf (1084 m) mit noch etwa 100 Einwohnern – um 1900 waren es deren 270 gewesen. Es ist die Endstation des Postbusses. In dieser Ansammlung schlichter, verputzter, meist grauer Häuser am Hang mit den schmalen, getreppten Gassen und religiösem Fassadenschmuck beginnt ein beliebter Wanderweg auf die bereits genannten Denti della Vecchia (2 Std. 15 Min.) – ein gefundenes Fressen nicht nur für Zahnärzte und anverwandte Berufe. Bei aufklarendem Himmel folgten wir dieser Route hinauf zum Mast für die Telekommunikation und ins Gebiet Paradiso und dem Prato Bello auf 1205 m Höhe.
 
Der Start ist bei der Kirche mit dem gedrungenen Campanile, die fest ins Dorf eingebaut zu sein scheint. Oberhalb des Dorfs führt der Wanderweg, der immer wieder eindrückliche Bilder von einer gebirgigen Erosionslandschaft freigibt, durch Buchenwälder. Die lichten Wälder waren bis auf den Schneeboden durchsichtig und die dichter bewachsenen Erhebungen wirkten als kaffeebraune, V-förmige Bänder, die den Bachtobeln zustreben. Über der anderen Talseite mit den verstreuten Dörfern erheben sich der Monte Bar und der Caval-Drossa.
 
Es wäre eine Unterlassungssünde gewesen, nicht hier hinauf zu wandern, lobten wir uns bei einer kleinen Kapelle mit einem halbrunden Anbau, flankiert von Lärchen und Birken. Letztere kommen im Tessin überraschend häufig vor; sie werden also fälschlicherweise als Bäume des Nordens gehalten. In bestimmten Höhenlagen haben die Birken auch auf der Alpensüdseite gute Überlebensmöglichkeiten; sie bilden hier lichte Haine und hellen die Landschaft auf. Also hatten wir keinen Anlass, hier oben Einzelbeichten im Sinne der „Apostolischen Pönitenziarie“ abzulegen, wie sie der Vatikan wohl zur besseren Information der Pfarrherren wieder vorschreiben möchte und angeblich auch, um das Sakrament der Busse zu erlangen.
 
Pastorale Fragen kümmerten uns nicht. Wir taten eine gewisse Busse durch das Stapfen im Schnee, der von einem rot bemalten Bänklein gerade die Sitzfläche frei gelassen hatte. Dort sassen wir mit horizontal ausgestreckten Beinen hin. Wir hatten nicht zu bereuen, dass wir in diese fromme Gegend gekommen waren, die uns zu den wahren Werten hinführte.
 
Sonvico
Wahrscheinlich hätten wir den Aufstieg zu den Zähnen der Alten noch geschafft, aber den Rückweg nicht mehr. Die Tage sind immer noch kurz, und zudem hatten wir unsere elektrische Zahnbürste drunten im „Origlio“-Hotel gelassen. Und so fuhren wir denn gegen Abend zurück, schauten nach dem Verlassen des unvergesslichen Collatals noch Sonvico (603 m) mit dem spätromanischen Campanile, den stattlichen Bürgerhäusern (Palazzi) und der mittelalterlichen Befestigungsanlage am Zusammenfluss der Talbäche Capriasca und Cassarate an, ein Aussenposten und ein Aussichtspunkt. Der Name Sonvico leitet vom summus vicus = oberstes Dorf ab, was uns eher unpassend schien, zumal wir ja von Cimadera hier heruntergefahren waren.
 
Am Abend wollte ich einfach und tessinerisch essen. Die Auswahl an Gaststätten war klein, und so gerieten wir in Tesserte ins Ristorante „Commercio“, das mich an ein früheres Bahnhofbuffet erinnerte, auch was den Rauchduft in der Luft anbelangte. Aber die Gnocchi mit Parmesano (12 CHF pro Person) waren und taten gut, ebenso der Merlot aus der Casa vinocola SA in Balerna in der Nähe von Mendrisio. Eva hielt ihre Fahrtüchtigkeit durch den Konsum von florentinischem Acqua Panna aufrecht, so dass wir auch im Promillebereich ein sündenfreies Leben führten. 
 
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