BLOG vom: 08.02.2009
Freizügigkeits-Ja: CH-Schutz gegen stärkere EU-Einbindung
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Die Rumänen und Bulgaren sind uns Schweizern so lieb und wert wie die Einwohner aller übrigen 25 EU-Länder auch. Und es war nicht diese Zuneigung oder gar eine Abneigung, die eine Mehrheit von 59,6 % der Abstimmenden Schweizer am 08.02.2009 zur Zustimmung und eine Minderheit von 40,4 % zur Ablehnung der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit Schweiz-EU bewogen hat.
Das überraschend deutlich ausgefallene Resultat ist, wie ich vermute, auch kein Massstab für die Zuneigung der Schweizer zur EU, sondern schlicht und ergreifend ein pragmatischer Entscheid zur Regelung der Beziehungen über bilaterale (zweiseitige) Abkommen, wie sie 2000 eingesetzt haben. Mit dem Bilateralismus kann man einen Vollbeitritt zur Europäischen Union mit ihrem aufgeblähten Beamtenapparat, dessen Entscheidungsfindung undurchschaubar ist und ein Land in seinen politischen Selbstgestaltungs- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten dramatisch einschränkt, verhindern. Also kann die Zustimmung zur Weiterführung des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EU durchaus als Schutzmassnahme gegen noch stärkere Einbindungen verstanden werden.
Der Bundesrat hatte dem Volk auch mit der roten, 22 A5-Seiten umfassenden Abstimmungsbroschüre dies drohend eingehämmert: „Die Personenfreizügigkeit ist vertraglich mit den anderen Abkommen der Bilateralen I verknüpft: Wird sie nicht weitergeführt, fallen auch die übrigen Abkommen weg. Die Abstimmung entscheidet damit auch über die Fortsetzung der Bilateralen insgesamt.“ In den Diskussionen wurde dieser Passus, der auf Brüsseler Drohungen fusste und welcher der Angstmacherei diente, sehr angezweifelt, zumal ja auch die EU ein Interesse an geordneten Beziehungen zur Schweiz hat und die bestehenden Bilateralen wohl auf einfache Weise zu retten gewesen wären. Doch post festum erübrigen sich nun Spekulationen darüber. Das Volk hat Ja gesagt, und das gilt. Noch bis 2016 sind Einwanderungsbeschränkungen möglich.
Was aber waren denn die Argumente der 40,4 % Nein-Stimmenden? Nein-Mehrheiten gab es in den Kantonen Glarus, Schwyz, Appenzell-Innerrhoden und Tessin (Stimmbeteiligung: 50,9 %). Waren das die EU-Turbos, die einen Scherbenhaufen wollten, um dann schneller in den nebligen Brüsseler Hafen einlaufen zu können? Auch das stimmt so nicht. Die Gründe sind vielschichtig, und dürften denn auch nicht genau zu ermitteln sein. Jeder Stimmbürger machte seinen eigenen Entscheidungsfindungsprozess durch. Ich weiss nur genau, warum ich selber ein Nein in die Urne gelegt hatte: Ich lehne aus grundsätzlichen Erwägungen alles ab, was nach einer stärkeren Einbindung in die US-gesteuerte EU aussieht. Mir geht es darum, unsere Möglichkeiten zur Selbstgestaltung unseres Landes zu erhalten, unserem Land die Freizügigkeit (das Ausleben von Freiheiten) zu bewahren und sie nicht auf dem Altar der ohnehin gescheiterten neoliberalen Globalisierung zu opfern, unter deren katastrophalen Folgen jetzt die ganze Welt leidet. Und das kann ich nur mit einer einzigen Antwort tun, die eine kritische Haltung signalisiert. Wie richtig diese Überlegung war, beweisen die Anführer der Grünen und die Sozialdemokraten, die wegen des von ihnen als EU-Begeisterung missinterpretierten Ja zum Freizügigkeitsbeschluss bereits wieder die Frage eines EU-Beitritts aufs Tapet bringen möchten.
Andere Argumente für die Ablehnung waren die Befürchtung, dass die Zuwanderung zur Schweiz, wo bereits über 1 Million Ausländer (bei einer Gesamteinwohnerzahl von rund 7,5 Millionen) leben, noch steigen werde, aus dem Ruder laufe und damit die Arbeitslosigkeit und der Lohndruck noch grösser würden. Unser Arbeitslosengeld übersteige sogar den Durchschnittslohn von Rumänien und Bulgarien, hielt der SVP-Nationalrat Lukas Reimann (Wil SG) fest, das jüngste Parlamentsmitglied. Der 26-Jährige hatte das Referendum mit Geschick angeführt. Es komme zu einer Angleichung des Wohlstands auf tieferem Niveau. Und mit fallendem Wohlstand steige die Kriminalität, hiess es anderweitig.
Man mag daraus ersehen, dass die Abstimmungsfrage komplex-verzwickt war, und am Ende musste einfach ein Ja oder ein Nein herauskommen. Wer unter solchen Auspizien glaubt, ergründen zu können, warum die Mehrheit und die Minderheit so oder so gestimmt habe, liegt falsch oder aber seine Analyse ist frei erfunden. Und von Meinungsforscheraktivitäten halte ich schon gar nichts, weil die Meinungen durch die Fragestellung manipuliert werden können.
Bundesrätin Micheline Calmy-Rey sagte auf die Frage der Radio-Reporterin Monika Zumbrunn, ob sie schon mit „Brüssel“ (wer ist das schon wieder?) telefoniert habe. „Ja schon, und man ist erfreut über das Ergebnis.“ Das „man“ bezog sich vielleicht auf Benita Ferrero-Waldner. Brüssel ist halt etwas anonymisiert, undurchschaubar. Wenigstens den Namen des zurückhaltend einfühlsamen EU-Botschafters in der Schweiz, Michael Reiterer, darf man wissen. Er zeigte sich überrascht über das klare Resultat, obwohl er persönlich von einem Ja ausgegangen war. „Die Schweizer Rationalität hat obsiegt“, sagte er. „Das Schweizer Volk hat schon des Öfteren bestätigt, dass es den Bilateralismus ganz offensichtlich will.“ Ja, das stimmt. Und es will auf keinen Fall mehr.
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