Textatelier
BLOG vom: 23.02.2009

Im Aargau und anderswo: Das ewige Suchen nach der Mitte

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Eine dominante Aufgabe des Lebens nach psychologisch abgestützten, esoterischen Grundsätzen zielt darauf ab, seine Mitte zu finden. In meinem speziellen Fall dürfte diese etwas hinter dem Bauchnabel liegen, in der Umgebung des Sonnengeflechts (Solarplexus), zwischen dem 12. Brust- und 1. Lendenwirbel, wo meine Informationen verschaltet und hoffentlich ans Gehirn weitergeleitet werden, falls nicht Bauchgefühle das Denken ersetzt haben, was ich ihnen nicht anraten möchte.
 
Mittelpunkte
Reisen zur internen und externen Mitte sind beliebte Beschäftigungen der Suchenden. So reiste beispielsweise Professor Lidenbrock zum Mittelpunkt der Erde, indem er in den Krater des Vulkans Snæfellsjökull auf Island abtauchte, wenn man dem Roman „Voyage au centre de la terre“ von Jules Verne Glauben schenken darf.
 
Da sich die Form der Erde einer Kugel annähert, ist diese Mitte relativ einfach zu bestimmen. Schwieriger aber wird es, wenn die Mitte innerhalb einer vollkommen unregelmässigen Form wie der Schweiz bestimmt werden muss. Es gibt verschiedene Methoden, sie zu finden. Man könnte etwa den östlichsten mit dem westlichsten Punkt verbinden und dasselbe mit dem südlichsten und nördlichsten tun, und wo sich die beiden Linien dann kreuzen, wäre die Mitte. In der Schweiz hat man sich dafür entschieden, die Schweizerkarte den Landesgrenzen entlang auszuschneiden und auf einen Karton aufzukleben. Dann wird dieser Karton auf eine Nadelspitze gestellt und so lange hin und her verschoben, bis er sich auf der Nadel im Gleichgewicht befindet. Auf diese Weise findet man laut dem Bundesamt für Landestopografie (Swisstopo) den Punkt 660 158/183 641, Älggialp, Sachseln, oberhalb der Felswand westlich von Chli Älggi. Da aber nur Gemsen problemlos dorthin gelangen, hat man die Mitte dem menschlichen Publikum zuliebe um 500 Meter nach Südosten verschoben – es kommt ja nicht so sehr darauf an. Dort ist eine Triangulationspyramide, eingerahmt von einer Mauer in der Form der Schweiz, aufgestellt worden.
 
Selbstverständlich hat sich auch der Aargau bemüht, seine oder zu seiner Kantonsmitte zu finden. Sie wurde 1977 durch Studenten der HTL Windisch mit Computerhilfe berechnet, eine komplexe Mathematikaufgabe, die dann zu den Koordinaten 654 217/251 240 auf dem Gebiet der Gemeinde Niederlenz (Bezirk Lenzburg) wies; das ist eigentlich der Schwerpunkt des Kantons. Ein älterer Wildegger erläuterte mir, es seien 98 sich gegenüberliegende Punkte an der Grenze verbunden worden, und auf diese Weise habe man sich der Mitte angenähert; ich weiss es nicht genau. Möglicherweise ist etwas dran. Wie auch immer: Als Kantonsmitte gilt der erwähnte Punkt im Lenzhardwald, ganz nahe der Stelle, wo sich die Gemeindegrenzen Niederlenz/Möriken-Wildegg und Rupperswil treffen. Der so genannte Dreiländerstein, der schwer aufzufinden ist, markiert den Treffpunkt, hat aber mit der Kantonsmitte nichts zu tun; die Nähe ist rein zufällig.
 
Wanderung zur Aargauer Kantonsmitte
Am 18.02.2009 nahm ich mir bei eiskaltem, sonnigem Wetter die Zeit, vom Bahnhof Wildegg zum Aargauer Mittelpunkt zu wandern. Man biegt, den mit Betonelementen gestalteten Verkehrskreisel in der Geraden hinter sich bringend, in die Lenzburgerstrasse ein (Wegweiser: Autobahn). Am Dorfausgang befindet sich die Einfahrt zum Kieswerk der Ortsbürgergemeinde Niederlenz, wo auch bereits ein gelber Wanderwegweiser steht, bei der Brücke über den Aabach. Man folgt dem ansteigenden Wanderweg und dem tiefer unten liegenden Bach linksufrig und in zunehmender Höhe.
 
Bei meiner Wanderung waren die Wege von einer dünnen, teilweise vereisten Schneedecke bedeckt, so dass unter den Profilsohlen der Crunchy-Ton (knusprig, knackig) entstand, wie er bei Industrienahrungsmitteln heute so beliebt ist. Spuren von Hundehaltern auf ihren ständigen Gassitouren und markierenden Hunden waren in den Schnee gedrückt. Bald begegnete ich dem Wegweiser „Kantonsmitte. Rupperswil“, der den Wanderer annähernd zu einer vollständigen Drehung veranlasst. Im Prinzip umrundet man dadurch die ausgedehnte Kiesgrube, welche die Gelegenheit wahrnimmt, auf Orientierungstafeln auf die naturnahe Gestaltung des umgestalteten Geländes hinzuweisen, das zu einem Lebensraum für Tiere und Pflanzen wurde, auf tieferer Ebene zwar. Eine spezielle Tafel stellt die Bewohner der Trocken- und Nassstandorte in der Grube in Zeichnungen und Wörtern vor: Tagpfauenauge, Uferschwalbe, Jakobs-Kreuzkraut, Bisam-Malve, Sandlaufkäfer, Ameisenlöwe, Plattbauchlibelle, Erdkröte, Bergmolch, Grasfrosch und viele andere, die gerade ihren Winterschlaf absolvierten.
 
Der Mischwald wirkte hell, Sträucher mit dürrem, braunem Laub säumten den weissen Weg ebenso wie ein Hochsitz (Nr. 21) mit Tarnnetz und Wellblechdach, wo es sich Jäger der Jagdgesellschaft Lenzhard mit ihren Zielfernrohrwaffen gemütlich machen können. Durch den lichten Waldrand trat die Betonfassade der Zementfabrik Wildegg (JCF) hinter kahlen Ästen ins Blickfeld; aus dem Hochkamin verlor sich weisser Dampf im blauen Himmel. Ich hatte dann eine asphaltierte Strasse zu überqueren, die den Länzertwald zwischen Wildegg (Hard) und Hunzenschwil fast geradlinig durchschneidet.
 
Dort wird ein rechtwinkliges Abzweigen nach rechts fällig – ein Wanderwegweiser verhilft dazu. Ein Nistkasten an einem bemoosten Baumstamm macht darauf aufmerksam, dass im Länzert alte Bäume mit Hohlräumen fehlen – ein zarter Wink an die Forstwirtschaft, doch bitte auch einzelne alte Stämme zu tolerieren. Den nächsten Hinweis liefert eine Tafel „Grundwassergebiet“. Ich wusste also, dass man kein Öl verlieren darf. Die Wasser AG Lenzburg (SWL) hat gleich beim Mittelpunkt 1961 ein Grundwasserpumpwerk installiert, noch bevor sie um die zentrale Bedeutung dieses Orts wissen konnte.
 
Ja, unverhofft ist man beim Wegweiser „Kantonsmitte 50 m. Rastplatz, gleicher Weg zurück“ angekommen. Der Weg hierhin ist von Wildegg aus in 20 Minuten, von Niederlenz aus in 25 Minuten, von Lenzburg aus in 1 Stunde und von Rupperswil aus in 50 Minuten locker zu bewältigen. Und dann sieht man die Lichtung, in der ein kleiner Hügel aufgebaut wurde, auf dem ein vom Reussgletscher herangetragener und in der Kiesgrube gefundener alpiner, fast kubischer Findling aus dem zentralen Aaremassiv steht – mit der schnörkellosen Inschrift „MITTE DES KANTONS AARGAU“. Die Niederlenzer Ortsbürger hatten sich aus Anlass des Jubiläums „175 Jahre Kanton Aargau“ (1978) entschlossen, diesen Punkt (370 m ü. M.) zu markieren, zu möblieren. 11 ergraute, einheitlich geformte Jurasteinklötze dienen als Sitzbänke, die nach den 11 aargauischen Bezirken ausgerichtet sind; Kerben in den Sitzbänken geben die Richtungen zu den 11 Bezirkshauptorten an. Und 2 Feuerstellen sind ebenfalls in die Anlage integriert.
 
Ich war an jenem Tag der einzige Mensch, der sich für diese Aargauer Mitte interessierte (keine Spuren im Schnee) – das heisst für die Mitte des so genannten „Kantons der Mitte“. Der Begriff vom „Reich der Mitte" ist seit Längerem anderweitig belegt. Der für den Aargau angewandte Begriff bezieht sich allerdings nicht auf die geografische Lage (denn der Aargau liegt ja eher an der Peripherie der Schweiz), sondern er ist eine dichterische Erfindung (Allegorie). Der Aargauer Schriftsteller Charles Tschopp sprach von der „Argovia mediatrix“ und meinte damit wohl die Ausgewogenheit dieses schönen, zusammengestückelten Kantons, der seine Mitte gefunden und auch eine vermittelnde, ausgleichende Funktion in der Schweiz hat. Man kann dies selbst bei kantonalen Abstimmungen erkennen: So wie der Aargau stimmt meistens die ganze Schweiz. Also ist der Aargau typisch für die Schweiz bzw. typisch Schweiz.
 
Trotz seiner Qualitäten ist dieser Kanton bescheiden geblieben. Das bezeugt auch die einfache, wetterfeste Gestaltung der Kantonsmitte. Zur Feier des Tages und des Aargaus zündete ich eine Habana-Zigarre von Wuhrmann Cigars in CH-4310 Rheinfelden AG an. Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, damit mir oder der Umgebung „erheblichen Schaden“ zuzufügen, wie das als Verpackungshinweis zu lesen war. Fröhlich und genüsslich paffte ich auf dem Rückweg vor mich hin, stolz im Aargau leben und vorläufig noch frei rauchen zu dürfen.
 
Die JCF
Ich wählte die erwähnte Asphaltstrasse zur Hard in Wildegg, wobei sich der JCF-Gigant immer höher vor mir auftürmte. Ich erreichte nach einem weiteren Grundwasserpumpwerk (1932/95) den grossen Bauernhof der Familie Gebhard („Hardhof“), bei dem ein riesiges muschelförmiges Zelt einen gewissen Schutz für das viele Festmobiliar zu Vermietungszwecken bietet, das dort auf seinen Einsatz wartet und wozu Zelte und mobile WC-Kabinen und -Wagen gehören, und auch ein Muldenservice ist dem offenbar aktiven Unternehmen angegliedert.
 
In der Nähe des Wohnhauses, wo eine lebensgrosse, weisse Plastikkuh mit einem Eiszapfen am Euter stand, begegnete ich dem 89-jährigen Hans Gebhard; er war mit Manchesterhose, Wollpullover und Dächlikappe einigermassen gegen die bissige Kälte geschützt. Wir kamen ins Gespräch – angesichts der JCF-Betonburg lag das Thema nahe. Dieses Werk Wildegg (JURA-Holding) gehört seit November 2000 zum irischen Baustoffkonzern CRH plc (Cement Roadstone Holding, Sitz in Dublin).
 
Das Unternehmen wurde 1882 von Friedrich Rudolf Zurlinden (1851–1932) in Aarau gegründet; die Fabrik in Wildegg kam 1890 hinzu. Über den Firmengründer wusste Herr Gebhard nur Gutes zu berichten. Zurlinden schaute zu seinen Leuten, lieferte ihnen Gratiszement, wenn sie ihr Einfamilienhaus bauten, unterstützte sie mit Rat und Tat in Notlagen. Auch gründete er 1898 eine fabrikeigene Krankenkasse mit gelegentlichen Zuschüssen aus dem Geschäftsergebnis. Die Krankheitsvorsorge hatte wohl mit den Staublungen zu tun, an der viele Arbeiter erkrankten. Es kam auch zur Gründung eines Arbeiterunterstützungsfonds, der Lücken in der Kranken- und Unfallversicherung zu schliessen hatte.
 
Wie mir Herr Gebhard erzählte, erhielten die Arbeiter täglich 1 Liter Wein („Rippezwicker“), der so sauer und konzentriert war, dass er 1:1 mit Wasser verdünnt und gezuckert werden musste. Ein italienischer Bäcker sorgte für Weissbrot für die in Aarau und Wildegg tätigen Arbeiter. Der Arbeitsbeginn war morgens um 6 Uhr (6 Mal in der Woche), und um 9 Uhr vormittags wurde gegessen. Arbeiter kamen sogar aus Biberstein zu Fuss nach Wildegg. Sie tranken unterwegs einen Schnaps in Auenstein, konnten aber nur bei Niedrigwasser der Aare entlang gehen, was eine Abkürzung bedeutete. Das Geld für den Zahltag wurde alle 2 Wochen bei der Aargauer Kantonalbank in Aarau in einem Zementsack geholt. Dieses nahm er auf der Bahnfahrt nach Wildegg zwischen die Beine, damit Gelegenheit keine Diebe machen konnte.
 
Ich erinnerte mich noch aus eigener Anschauung daran, dass Wildegg und Holderbank Dörfer mit weissen Dächern waren – auch zur Sommerzeit. Der Zementstaub überzog die ganze Landschaft. Darunter litt selbstverständlich auch die Familie Gebhard: Wenn das Stubenfenster 1 Stunde offen gestanden hatte, konnte man auf dem Buffet in der Staubschicht schreiben, oder nach einem Gang durchs Gras waren die Schuhe weiss eingefärbt.
 
Inzwischen sind Filter eingebaut; sie sind nötiger denn je, denn heute wird in den1450°C heissen Brennöfen alles Mögliche verbrannt – man wisse nicht genau was, sagte mein Gesprächspartner. Eisenbahn-Güterwagen würden hinter Toren entladen. Und wenn eines der 4 Silos (55 m hoch) unten angezapft und der Zement in spezielle Eisenbahnwagen umgefüllt werde, bilde sich ein Hohlraum. Der verbleibende Siloinhalt stürze plötzlich von oben nach unten, und dabei komme es zu richtigen Erdbeben, die besonders im Hause drinnen zu spüren seien, sagte der betagte Mann, dessen Erinnerung so frisch wie die winterkalte Luft ist. Er putzte sich die laufende Nase, bevor er auf die Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren zu sprechen kam. Er bezeichnete jene Jahre als schlimmer als die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Und in der gegenwärtigen Situation scheint sich das alles noch intensiviert zu wiederholen. Der weltpolitische Friede und die Weltwirtschaft werden gleichermassen durch die USA zerstört.
 
Barack Obama hatte gerade 17 000 zusätzliche Soldaten für den zusätzlichen Einsatz in Afghanistan angekündigt. Der enttäuschende, wiewohl angekündigte Kurs der Kriegsausweitung und der Militär- und Finanzbeschaffung in Europa (z. B. bei gleichzeitiger Ruinierung der UBS) lässt keine Hoffnungen zu – im Gegenteil. Und wegen des unsäglichen Lebens der Amerikaner auf Kosten der übrigen Welt, das gerade wieder angekurbelt wird, werden alle positiven Erwartungen im Keime erstickt. Ich musste Herrn Gebhard Verständnis für seinen Pessimismus entgegenbringen.
 
So entfernte ich mich vom Ziel meines Exkurses zur Mitte, ohne diesen Gedanken beiseite schieben zu können: So lange die USA als bestimmende Mitte der Weltpolitik und der Finanzwelt agieren dürfen, können sich keine Gleichgewichte einstellen.
 
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