BLOG vom: 27.04.2009
Altersbedingter Umzug: Feier beim lustigen Zigeunerleben
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
„Lustig ist das Zigeunerleben / Brauchen dem Kaiser kein Zins zu geben (…) Sollt uns mal der Hunger plagen / Tun wir uns ein Hirschlein jagen“, sang das Grüppchen älterer Damen und Herren, das sich zu einer nachbarschaftlich motivierten Feier zusammengefunden hatte. Der Gastgeber und seine Frau waren altersbedingt eben dabei, ihr Einfamilienhaus definitiv zu verlassen. Sie hatten das Kleinmaterial bereits mit dem Pw eigenhändig in eine Mietwohnung verfrachtet und wollten sich noch von den Nachbarn und einigen Freunden verabschieden, wenige Stunden bevor die Zügelmänner anrückten, um die schwereren Brocken ins neue Heim zu überstellen.
Das Zigeunerleben hatte bereits begonnen, und lustig war es auch – keine Spur von Wehmut und Abschiedsschmerz. Die Stimmung war aufgeräumt wie das Haus. Nicht einmal mehr das Porzellan, Gläser und Besteck waren da. Eine hilfsbereite Nachbarin hatte mit Plastikbechern und -tellern ausgeholfen, woraus man ersehen mag, wie wichtig eine gute Nachbarschaftspflege ist. Den Inhalt der Käseplatte, die Nüsse und die Aufschnittscheiben ass man von Hand, die Mandarinen sowieso.
Der Gastgeber, um die 80, nennen wir ihn Isidor, erwies sich als eigentliche Stimmungskanone; er wirkte, als ob er mit seiner neuen Wohnung im 9. Stock eines Hochhauses das grosse Los gezogen habe. Er hatte aus dem, was immer in seinem Leben auf ihn zugekommen war, das Beste gemacht, war daran gewachsen. Inzwischen kann ihn schon gar nichts mehr erschüttern. Er freute sich aufrichtig, dass er einen Käufer gefunden hatte, der sein Haus an bester Aussichtslage gebührend zu schätzen weiss. Und geputzt werden müsse auch nicht, sagte der Wandersmann, denn der Käufer wolle eh alles ausräumen und neu gestalten. Ich fragte mich, was es denn hier überhaupt zu putzen gab.
Er stimmte, sich selber mit markanten Gesten dirigierend, das ewig junge Lied „Das Wandern ist des Müllers Lust“ an. Das Wandern. Das Waa-andern. Einer der Gäste, Besitzer von 2 Handorgeln, wovon einer chromatischen, die er leider nicht dabei hatte, sang besonders inbrünstig mit – ebenfalls mit offensichtlicher und reich erprobter Unterhalter-Erfahrung. Das Wort „Waaaandern, das Waa-aaandern“ hob Emil, wie ich ihn hier nennen möchte, durch eine besondere Betonung und eine Erhöhung der Lautstärke bis in den Grenzbereich der Trommelfell-Strapazierfähigkeit so sehr hervor, dass daraus eine eigentliche Kabarettnummer entstand. Er warf bei jedem „Waaandern“ den Kopf so weit nach hinten, wie es die altersbedingt leicht verminderte Beweglichkeit noch erlaubte, und er sang nach oben. Wir alle hielten aus Leibeskräften mit, wohlwissend, dass das Singen gut für den Kreislauf ist und sogar die Gehirnzellen lockert. Bei Emils „Wahaander-Schreien“ mussten wir jeweils so sehr lachen, dass wir beinahe aus dem Takt gerieten. Das im gleichen Lied implementierte Wort „Wasser“ („Vom Wasser haben wir’s gelernt“) erlitt dasselbe Schicksal wie das Waaandern: Das Waaasser. Ein Wasserfall, der sich in die Läge zog und kaum je zur Ruhe kommt.
Die Stimmung strebte auf den Höhepunkt zu. Die gesellige Frau eines ehemaligen Tierarzts, die hier Regula genannt sei, wusste immer neue Liedanfänge, die Isidor, der am schmalen Tischende als Vorsänger und Dirigent wirkte, gierig aufnahm. Nur bei den für uns Schweizer etwas ungewohnten „schwäb’sche Eisebahne“ mit den vielen Haltstationen wie Schtuertgart, Ulm und Biberach, Meckebeure und Dulesbach kam die ganze Sangesrunde arg ins Schleudern. Ehrlich gesagt: Sie entgleiste. Das „Rulla, rulla, rullala“ gelang zwar noch leidlich, aber als dann „Küh’ und Ochse, Buebe, Mädle, Weib und Ma“ hätten ins schwäb’sche Bähnchen einsteigen sollen, versagten die Gehirne, wobei man sich, wie häufig ab der 2. oder 3. Strophe mit einem „Lalalala“ behalf, um die Katastrophe abzuwenden und Gedächtnislücken zu vertuschen. Den Weg „Vo Luzärn uf Weggis zue, di holdirida, holdrio“ fand man schon weit besser; aber nachdem man „die schöne Fischli gseh“ hatte, gingen uns auch hier wieder die richtigen Worte aus. Doch natürlich ist die Vierwaldstättersee-Gegend ohnehin unbeschreiblich; das will berücksichtigt sein.
Das Singen macht durstig. Man trank einen einheimischen Wein, das gemeinderätliche Geschenk zu Isidors 80. Geburtstag, von dem (dem Wein) es viel mehr gibt als die Reben des Orts in den besten Jahrgängen auch nur im Entferntesten zu erzeugen vermögen. Ob der Durst der Auslöser für das Lied „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ war, vermag ich aus der Erinnerung heraus nicht mehr so genau zu rekonstruieren. Aber die Vermutung ist berechtigt. Isidor öffnete unverdrossen die letzten Bierfläschchen, die vielleicht für die Zügelmänner bestimmt gewesen waren, und sang „Es ist so heiss auf Hawaii“ und „Meine Braut, sie heisst Marianne“ mit schmetternder Stimme mit; sein Gehör hat etwas nachgelassen, und er spricht entsprechend lauter, um selbst einwandfrei mitverfolgen zu können, was er sagt. Wenn das in der neuen Wohnung nur gut herauskommen wird! Möge sie genügend schallisoliert sein.
Das Bedauern darüber, dass Emil keine einzige seiner 2 Handorgeln mitgebracht hatte, war das einzige, was die grandiose Stimmung leicht trübte. Emil hatte vor wenigen Monaten beide Augen, eines nach dem anderen, vom Grauen Star befreien lassen, und er sollte vorerst noch keine grossen Gewichte heben, wie ihm der Arzt verschrieb. Zu den Arztbesuchen, die von einem Ständchen auf der Waage begleitet waren, nahm er jeweils ein Handtäschchen mit, in dem das schwere Portemonnaie, der Hausschlüssel und dergleichen Schwergewichtiges versorgt wurde. Es wurde dann im Arztzimmer deponiert und konnte nichts zur Gewichtserhöhung beitragen.
Das Sehen und das Körpergewicht haben in Emils Leben ihre Bedeutung. „Aber das Schwyzerörgeli würde schon drinliegen“, sagte er, auf die Handhabung dieses Volksinstruments anspielend, wieder bei vollen Kräften. Die Sicht in die Weite sei tipptopp, nur das Lesen funktioniere noch nicht ganz. Die Tasten der Handorgeln trifft er blind. Geübt ist geübt. Seine Frau Emilie wehrte entschieden ab: „Du hast Dich noch zu schonen.“ Also machte Emil dieses Töne-Manko mit umso kräftigerem Mitsingen wett, wobei er während des Singens noch die 1. und 2. Stimmen durch Zwischenruf zweckmässig verteilte. Emilie, deren Stimme sich mit zunehmendem Alter hormonbedingt etwas abgesenkt hatte, wurde in die tiefere Etage verwiesen. Den wenigen nicht mitsingenden Zuhörerinnen und Zuhörern sollte schliesslich beste Qualität geboten werden.
Um ein Haar wäre noch das melancholische „My Bonnie is over the ocean“ angestimmt worden. Doch der musikalische Leiter Isidor winkte noch rechtzeitig ab – er könne kein Englisch, warf er ein, so dass nach dem „Bring back“ die Fahndung nach einem neuen Titel eingeleitet werden musste. Man entschied sich, einer spontanen Eingebung folgend, für „Niene geits so schön und luschtig, wie bi üs im Ämmital“, wobei man allerdings nicht über die 1. Strophe hinausfand. Und auf das Reiterlied aus „Wallensteins Lager“ von Friedrich Schiller („Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd. Im Felde, da ist der Mann noch was wert“) wurde unter dem Eindruck feministischer Erfolge vorsichtshalber gleich vollständig verzichtet; auch die Stelle in der 3. Strophe, wo vom „Verdüften des Geists“ das Singen ist, wäre uns älteren Damen und Männern allen ebenfalls eher deplatziert vorgekommen.
Eine Nachbarin, die edle Spenderin des Plastikgeschirrs übrigens, Charlotte, zog sich zurück, zumal sie das eigene Haus voller Gäste hatte und diese nur für kurze Zeit verlassen wollte. Um Adiö zu sagen. Vielleicht kannte sie die Lieder, die hier aufgewärmt wurden, so dass ein Lerneffekt kaum noch gegeben war. Ich selber war dankbar, dass in diesem Zusammenhang niemand das „Addio, la caserma“ einfiel, das ich jeweils bei meiner militärischen Ausbildung in Losone TI hundertfach mitsingen musste, auch wenn mir das Abschiednehmen dort nicht eben schwer gefallen war.
Dafür musste noch das Lied „’s Ramseiers wei go Grase, wohl uf de Gümmligebärg“ mitsamt dem „Firdiri, fidira, fidiralalalala“ bis zu den „Schnoderihüng“ bewältigt werden. Da gerade kein Schnee lag, nahm ich das als Anlass zur Feststellung, ich müsse nun ebenfalls heim, um zu grasen, zumal ohnehin das ganze Volkslied-Repertoire abgegrast war.
Der Aufbruch zum Grasen, was Gras schneiden oder nach etwas suchen bedeuten kann (abgrasen), fand lauter Nachahmer. Es war Zeit zum Aufbruch. Und die Gastgeber sollten noch etwas Ruhe finden. Wir alle waren uns einig, das sei ein wirklich schönes, nachahmenswertes Abschiedsfestchen gewesen. „Was mich nicht umbringt, macht mich stark“, sagte Isidor noch, der gerade die letzten Ausläufer einer längeren, üblen Grippe (und nicht etwa der dieser Tag propagierten Schweinegrippe) definitiv zu überwinden trachtete.
Wir bedankten uns für den herrlichen Abend, wünschten ihm und seiner Frau, die in den Umzug eingewilligt hatte – „s’ mues sii“ (es muss sein) –, viel, viel Glück am neuen Ort und gute Gesundheit.
„Drum frisch auf Kameraden“ heisst es im Lied vom Leben als Würfelspiel – „wir würfeln’s alle Tage“. Bis die Platte kracht.
Aber die Tischplatte hielt noch tapfer stand. Sie überstand tags darauf gewiss auch die Züglete.
*
Ich weiss seither, dass es sie noch gibt, die Volksmusik. Sie ist sogar in einem unverkennbaren Aufschwung begriffen: Das hat auch das Schweizer Fernsehen am Samstagabend, 25.04.2009, mit dem Grand Prix der Volksmusik bewiesen, bei dem sich Stefan Roos und Sängerfreunde, Sarah-Jane, Geni Good und seine Glarner Oberkrainer sowie die Pläuschler fürs internationale Finale vom 29.08.2009 in München qualifizierten. Unsere eigenen Gesänge hätten da wohl wenig Chancen gehabt, war unsere Vorbereitung doch liederlich; nicht einmal die Texte sassen. Doch was zählt, ist bloss, dass es immer so schön und lustig zugeht, auch ausserhalb des Emmentals und selbst an Zügeltagen in diesen Grippezeiten.
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