Textatelier
BLOG vom: 19.03.2009

Oberdorf SO: Das schöne Dorf, dem der Weissenstein gehört

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Der Weissenstein, der Solothurner Hausberg, ist im Moment ein Auslöser vieler Berichte und Diskussionen: Soll die Sesselbahn mit ihren altehrwürdigen „Gondeli“ als Technik-Denkmal von nationaler Bedeutung erhalten bleiben oder abgerissen und durch eine neue Seilbahn ersetzt werden? Die Revision der alten Bahn wäre ebenso möglich wie kostspielig, ist aber offenbar eine Herzensangelegenheit für viele. Vor allem der Schweizer Heimatschutz setzt sich für die Erhaltung des Schwebens in einer Art Gartenstuhl, der von einem Schrägdach bedeckt ist, ein. Ich habe Verständnis dafür, denn dieses gemächliche Dahinfliegen unter einem Drahtseil mit Blick auf das Mittelland und die Alpen ist ein einzigartiges Erlebnis, das man sich ja auch etwas kosten lassen darf. Ein Verein „Pro Sesseli“ will zusammen mit dem Heimatschutz bis Ende 2009 die aus den frühen 1950er-Jahren stammende Bahn retten. Hoffentlich gelingt das! Oft wird die Rettungsaktion in eine Beziehung mit den alten Vierwaldstättersee-Raddampfern gebracht, die man einmal verschrotten wollte. Das wäre eine Kulturschande gewesen.
 
Die Seilbahn Weissenstein AG möchte mit einer neuen Anlage auch dem Weissenstein-Tourismus Auftrieb geben; sie will schon im Herbst 2009 mit dem Bau einer neuen Bahn beginnen – was die Beibehaltung der (zu restaurierenden) alten Bahn allerdings nicht ausschliesst. Der Bahnneubau würde wahrscheinlich verschiedene neue Tourismus-Attraktionen auf dem Weissenstein nach sich ziehen – obschon dieser bereits reich möbliert ist und allein schon dank seiner hervorragenden Aussichtslage genug zu bieten hat. Die Sicht ist zwar weniger malerisch als etwa jene auf der Rigi, aber weiter, umfassender, wie in einem uralten „Baedeker“ treffend zu lesen ist. Der Blick weitet sich übers Mittelland bis zu den Glarner und Waadtländer Alpen aus, klare Luftverhältnisse vorausgesetzt. Die Weissensteinkette als vorderste und innerste Falte des Solothurner Juras ist die höchste und imposanteste, die vom Mittelland aus wie eine Wand emporstrebt und viele Aussichtspunkte auf sich trägt: Neben dem Weissenstein mit dem Kurhaus die Hasenmatt, die Röti, den Balmberg, das Rüttelhorn, das Hellchöpfli, den Roggen und die Höchi Flue.
 
Weniger bekannt als der Weissensteingipfel ist das am Weissenstein-Südfuss auf einer oberen Geländestufe gelegene Dorf namens Oberdorf SO, auf dessen Gemeindegebiet der Juragipfel liegt. Die Gemeinde umfasst 11,85 km2, von denen 60 % von Wald bedeckt sind. Oberdorf ist nur durch Langendorf von der nahen, südöstlich gelegenen Stadt Solothurn getrennt und liegt sozusagen an sonniger Lage im Schatten des Weissensteins.
 
Nach einem Besuch in Solothurn habe ich mir am Sonntag, 14.03.2009, dieses Dorf einmal näher angeschaut. Hier verzweigen sich die Wege (nach links) zum Hinteren und (nach rechts) zum Vorderen Weissenstein. Den Weg zum hinterwäldlerischen Teil habe ich im Blog vom 08.09.2006 beschrieben: „Weissenstein-Ausflug: Weise gehen zu den weissen Steinen.“ Er führt zuerst durch einen Schlund (Schlucht) und ist in etwa 1½ Stunden zu bewältigen, steil bergauf.
 
Aus dieser Gegend, einem Ausräumungskessel innerhalb von Malmkalkschichten, „Chlus“ genannt, entspringt der Wildbach, der unterhalb der Marien-Wallfahrtskirche kanalisiert über ein stufiges Bett der Aare entgegenfliesst und einen kleinen Abstecher macht, um ein mächtiges, bemoostes, unterschlächtiges Wasserrad anzutreiben, das in eine Wiese eingetaucht zu sein scheint. Es hat nur noch die Aufgabe, eine Augenweide zu sein. Auf einer mosaikartig gestalteten Gedenktafel steht dies: Einst drehten sich am Wildbach in Oberdorf bis zu 9 Wasserräder. Dieses 6 m hohe Rad trieb bis 1966 die Ischermühle mit Wasserkraft an. 1988 wurde es restauriert und als imposanter Zeuge früherer Technik hier wieder in Betrieb gesetzt. FW." Charlotte von Ahlefeld, Schriftstellerin am Weimarer Hof, hat diesen Bach in einem ihrer „Briefe auf einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Sommer 1808“ in funkelnder Sprache so beschrieben: „Ein Bach, der von oben herab rauscht, bildet mit seinem klaren Krystall unzählige Wasserfälle, deren schäumender Sturz die Luft in seiner Nähe wohlthätig erfrischte.“
 
Dieses Wahrzeichen Nummer 2 des behäbigen, kompakten Dorfs an der Weissensteinstrasse ist ein Beleg dafür, dass es hier Menschen mit Sinn für alte technische Geräte gibt. Und es sind ja eigentlich genau solche Zeugen aus vergangenen Zeiten, die einem Dorf seinen unverwechselbaren Charakter geben – auch geschichtsträchtige Bauten gehören dazu wie etwa die alten Gasthäuser „Rössli“ und „Engel“ sowie Bauten, die von einer agrarischen Vergangenheit berichten.
 
Das augenfälligste bauliche Ereignis von Oberdorf ist selbstverständlich die nach Osten ausgerichtete Wallfahrtskirche in erhöhter, dominanter Lage, die 1420 anstelle einer Kapelle und Waldbruderklause entstanden ist. 1604 wurde sie in einen Neubau mit dem Chor im Süden einbezogen. Sie besitzt einen markanten Eingangsturm, auf dem eine Barockhaube sitzt.
 
Die Rundungen – ob beim Wasserrad oder bei den Umlenkrollen der Sesselbahn – haben es den Oberdorfern offensichtlich angetan; denn die Kirche ist ein tonnengewölbter Saalbau, der üppig mit Wessobrunner-Stuck aus der Hand Michael Schmutzers überzogen ist; das ist sein einziges vollständig erhaltenes Werk in der Schweiz. Reiche Stuckornamente umranken krakenartig auch die Prachtskanzel, die teilweise aus braunem Marmor besteht und von der aus die pfarrherrlichen Ermahnungen gewiss eine besondere Wirkung haben. Das kreisrunde Fenster über dem lachsroten Hochaltar hinter dem Triumphbogen leitete während meines Besuchs das goldene Sonnenlicht punktuell in den Kirchenraum. 2 alte, aus der vorfeministischen Zeit stammende friedfertige Frauen knieten in einer dunklen, von Kerzen nur schwach beleuchteten Nische auf einer harten Bank und waren ins Gebet und möglicherweise auch in Erinnerungen versunken. Vielleicht dachten sie beide an ihren verstorbenen Mann, und sie hatten wohl gute Erinnerungen an ihren ehemaligen Partner, versprachen vielleicht, ihm bald nachzufolgen. Ein eindrückliches, bewegendes Bild.
 
Draussen sind unter einem Vordach ebenerdig ausrangierte Glocken aufgereiht, eine aus dem Jahr 1631 mit der Aufforderung, dass der Herr zu loben sei („Domini laudate“). Wenig älter ist die beim Friedhof stationierte spätgotische Michaelskapelle (von 1613). Der Friedhof seinerseits ist in verschiedene Familiengräber unterteilt. Der Arzt Victor de Simoni-von Arx (1917‒1993) war offenbar ein Mineralienliebhaber; an die 4 Arme des metallenen Kreuzes sind grosse Halbedelsteine montiert. Und eine Sonnenuhr an der Kirchenfassade hat immer eine Differenz von 30 Minuten zur Mitteleuropäschen Zeit MEZ. Sie liegt immer halbwegs, nie ganz richtig, niemals aber vollkommen daneben.
 
Zum Kirchenbezirk gehört auch eine Kaplanei, an der die Wappentafel des Stifters Urs Gibelin (1650) angebracht ist.
 
Man sieht: Oberdorf SO besteht nicht allein aus dem Weissenstein. Wer dort hinauf will und gerade keine Sessel- oder Seilbahn zur Verfügung hat, begnüge sich mit einem Dorfrundgang! Auch hier kommt er dem Himmel näher – ohne zum schwebenden Gondolier werden zu müssen.
 
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