BLOG vom: 25.04.2009
Kurzwanderung: Das Kirschenblütenfest in Gipf-Oberfrick AG
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
„Wie Kirschen und Beeren behagen,
musst du Kinder und Sperlinge fragen.“
Johann Wolfgang von Goethe
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Das Anstimmen eines Loblieds auf die Kirschen liegt aus vielen Gründen auf der Hand: Der Kirschbaum ist ein ausgesprochener Frühblüher, also ein wesentliches Symbol für den Frühlingsanfang. In manchen windgeschützten, gut besonnten Landschaftsmulden haben sich die prächtigen Bäume zu ganzen Wäldern vereinigt, welche weisse, sich hoch auftürmende Wogen über die satt grün werdenden Wiesen legen. Und schon etwa 2 Monate später sind die süssen, die roten und schwarzen, kugeligen Früchte genussbereit. Das nennt man Effizienz.
Ein ausgesprochenes Kirschengebiet befindet sich im nordwestlich ans Dorf Gipf-Oberfrick AG angrenzenden Gebiet Rüestel/Farschberg, eingebettet zwischen Homberg, Thiersteinberg (mit der Burgruine Alt-Thierstein, der Stammburg der gleichnamigen Grafen) und dem Wolberg. Hier ist 2006/07 ein 5,5 km langer „Chriesiwäg“ eingerichtet worden, der durch einen besonders lieblichen Teil der Aargauer Fricktal-Landschaft führt und das Blühen, Reifen und Ernten aus nächster Nähe erleben lässt. Die Wanderer werden unterwegs durch 11 Informationstafeln zu Kirschenexperten ausgebildet, wobei die ökologischen Aspekte wie die Bedeutung der Hochstämme, die auf Stämmen bis über 1 m Durchmesser bis 20 m gross werden können, nicht vergessen werden. Hochstammbäume sind für etwa 1000 Arten eine Lebensgrundlage.
Wertvoll sind auch die Streuobstwiesen mit ihrer landschaftsprägenden Bedeutung, die heute zu den am meisten gefährdeten Biotopen gehören. Viele Vogelarten wie der Gartenbaumläufer, der Gartenrotschwanz, die Sumpfmeise, der Stieglitz, der Neuntöter und verschiedene Spechtarten sind auf sie angewiesen. Der Name „Streuobstwiese“ bezieht sich auf die Hauptnutzung, die Gewinnung von Einstreu für die winterliche Viehhaltung in Ställen.
Gipf-Oberfrick und die Historie
Am Nachmittag des 17.04.2009 bin ich über das Bänkerjoch (Jura-Übergang zwischen Küttigen und Oberhof/Wölflinswil) nach Gipf-Oberfrick (rund 3100 Einwohner) gefahren. Dort habe ich mich im Gemeindehaus mit der 2004 erschienenen Schrift „Gipf-Oberfrick im Wandel der Zeit“ (20 CHF) eingedeckt und daraus erfahren, dass die urkundlich belegte Besiedlung der Stammgemeinde Frick und der Siedlungen Gipf und Oberfrick älter noch als die Eidgenossenschaft (1291) sind: „Schon zuvor war unser Tal bevölkert. Das bezeugen die Aufzeichnungen über die Grafen von Homburg und Thierstein aus dem Jahre 1082.“
Besonders auffallend ist an der Landstrasse im Dorf das Hotel Hirschen mit den Treppengiebeln und den Balkonen, das 1927/29 in einem späten Art-Deco-Stil erbaut wurde. Es war einst ein Kurhaus, zu dem ein Solbad gehörte. Das Wasser für die Kohlensäurebäder, auf Wunsch mit Fichtennadeln aromatisiert, wurde aus der Quelle in der Weiheren (heute Siedlung Martin Häseli) und damit aus dem Bach bezogen, in den manch ein Überlauf mündete. Das Heilwasser dürfte wechselnde Eigenschaften aufgewiesen haben.
Der Erbauer von Solbad und Kuranlage war Albert Gass (1877‒1965), gelernter Metzger. Die Geistlichkeit im katholischen Fricktal sah den gemischten Badebetrieb von Frauen und Männern gar nicht gern und betrachtete in ihrer Prüderie den „Hirschen“ als „Ort des Müssiggangs und des Lasters“. Aber vor allem wegen der Interventionen der staatlichen Gesundheitsbehörde gegen das zweifelhafte Bach-Badewasser musste der Betrieb, den Gass wegen Zahlungsschwierigkeiten schon 1937 an Otto Matter verkauft hatte, Ende der 1950er-Jahre geschlossen werden.
Kirschen statt Reben
In der erwähnten Schrift zur Dorfgeschichte von Alfred Schmid-Näf findet sich auch eine Angabe über die Anfänge der Kirschenkultur. Offenbar war sie die Nachfolgerin des Rebbaus. Das ganze Gebiet von der Gruhalden westlich von Frick über Liebergstell, Guhl (Guul) und Oberguhl bis an den Wollberg-Fuss war einst mit Reben bepflanzt. Sie wurden Mitte der 1880er-Jahre vom Falschen Mehltau befallen, und die im 19. Jahrhundert aus Nordamerika eingeschleppte Reblaus dezimierte die Reben ebenfalls sehr – noch heute kommen ja viele Plagen aus Nordamerika zu uns über den Atlantik, die zu Finanzkrisen führen.
Die Fricker erinnerten sich an den Reim „Hast du einen Raum, so pflanze einen Baum“ – und sie wählten vor allem Kirschbäume aus, die besonders gern auf lockeren, durchlässigen und kalkhaltigen Mergelböden wachsen. Solche Bäume hatte bereits der römische Feldherr Lucullus von einem seiner Feldzüge aus der Stadt Kerasos am Schwarzen Meer (70 nach unserer Zeitrechnung) mitgebracht.
In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte der Kirschenanbau im oberen Fricktal (wie auch im nahen, benachbarten Baselbiet) eine wichtige Rolle: Landwirtschaftliche Betriebe mit wenig Ackerbau und 2 bis 8 Kühen waren sehr auf den Kirschenertrag angewiesen. Pro Betrieb waren etwa 100 bis 300 Bäume vorhanden (1951 wurden im Bezirk Laufenburg 61 616 Kirschbäume gezählt). Die ganze Bevölkerung war jeweils im Juli zur Ernte aufgeboten, die zu einem kulturellen Ereignis wurde. Frostjahre waren magere Jahre und verdarben die Feststimmung.
Die Gipf-Oberfricker sind den Kirschen offensichtlich sehr zugetan, denn bereits an der Hauptstrasse habe ich einen hell rosarot blühenden japanischen Kirschbaum (Prunus japonica) gesehen, der in Japan wie kein anderer Baum verehrt wird, obschon er keine essbaren Früchte hervorbringt. Auch in China werden Kirschblütenfeste gefeiert.
Der Kirschenweg
Das Blütenfest in Gipf-Oberfrick habe ich nach Prospektvorgabe bei der Landi im Unterdorf begonnen, wo ein brauner Themenwegweiser den Weg (auch zum Fricktaler Höhenweg) weist. Das Symbol des Chriesiwägs ist eine familiär anmutende 4er-Gruppe von strahlenden, wandernden roten Kirschen, wobei Vater mit Rucksack und Mutter durch einen zusammenlaufenden Stiel verbunden sind. Vorbei an alten und neuen Bauten sowie einem Wegkreuz steigt der asphaltierte Weg über Egg zum Farschberg kontinuierlich an. Die Aussicht über Gipf-Oberfrick sowie Frick in die Jurafalten und die Hochflächen des Tafeljuras wird zunehmend attraktiver. Immer mehr Kirschbäume treten ins Blickfeld – mehrere 10 000 sollen es sein. Der bäuerlich geprägte Landschaftscharakter ist vielfältig, neben den Kirschbäumen sind einige Rebkulturen, Hecken und Äcker mit all den Wechselwirkungen sowie ausufernde Siedlungen die bildfüllenden Elemente.
Die 1. Infotafel heisst die Wanderer willkommen, die zunehmend in den Bann der weissen Blütenpracht geraten. Dichte und scharf abgegrenzte Schönwetter-Haufenwolken (Cumuli), ebenfalls in strahlendem Weiss, hatten sich über den Höhen aufgebaut und organisierten sich zusammen mit den aus dem Westen nachstossenden, grauen Regenwolken ständig zu neuen Bildern, sorgten für abwechselnde Lichtverhältnisse und Stimmungen. Schottische Hochlandrinder lagen an der Frühlingssonne, und in einer Schafherde war es eben zu viel Nachwuchs gekommen, der sich gerade im Schatten der blühenden Bäume im Aufstehen und Gehen übte – die ersten Schritte in ein hoffentlich blühendes Leben. Ein älteres Ehepaar aus dem Baselbiet, das seinen Berner Sennenhund mitgenommen hatte, sagte, so viele Bäume wie hier gebe es nicht einmal bei ihnen.
Anschliessend wurde von der 3. Infotafel ein Kapitel in Bienenkunde verabreicht. Die Bienen sind es, die in solchen Gebieten das Bestäuben zu etwa 80 % übernehmen. Diese Herkulesaufgabe überfordert sie beinahe (den Rest bewältigen Wildbienen, Hummeln und Schmetterlinge, die aber zur Zeit der Kirschblüte noch nicht so richtig im Element sind). Wegen der Bienenkrankheiten wie Varrose, die auf die Varroamilbe (Varroa destructor) zurückgeht, und die innerhalb einer unter anderem mit Insektiziden verpesteten und durch Genmanipulationen mit ihren mit Beizmitteln versehenen Samen belasteten Umwelt beste Bedingungen vorfinden, werden die Bienen allmählich zu Mangelwesen. Auch die Massenbienenhaltung (mehr als 5 bis 6 Bienenvölker am gleichen Ort) findet Kritiker. Die Bienenvölker sollten weniger massiert sein, was Seuchenübertragungen weniger begünstigen würde. Zudem sorgt auch die allgemeine Artenverarmung dafür, dass das Bienenleben heute kein Honiglecken mehr ist. Der lange und kalte Winter 2008/09 aber soll den Bienenvölkern kaum geschadet haben.
In einem Bienenvolk leben 30 000 bis 60 000 Arbeiterinnen, 300 bis 3000 Drohnen sowie 1 Königin, und für 1 kg Honig sind 3 kg Nektar oder 100 000 Ausflüge, 150 Milllionen Blütenbesuche und 100 000 km Flug bei einer Geschwindigkeit von 26‒30 km/h (2,5-facher Erdumfang) erforderlich – jedenfalls lehrt dies eine Informationstafel am Weg. Ich gebe diese Zahlen ungeprüft weiter und entnehme daraus, dass die Bienenleistungen enorm sind.
Oberhalb des Chriesiwägs, mitten im Kirschbaumwald, war ein mobiles Bienenhaus mit blauer Blache aufgestellt, das von Bienen umschwirrt war. Aber es sah darnach aus, als ob die Bienen keine grosse Lust verspürten, sich von ihrem Heim zu entfernen. Ein festes Bienenhaus in der Nähe schien unbewohnt zu sein. An einem Kirschbaum war eine gelbe Leimfalle aufgehängt, an der viele Insekten ihr klebriges Ende gefunden hatten.
In der Nähe einer Niederstammplantage gibt eine Tafel Auskunft über die Veredelung, die deshalb nötig ist, weil aus Kirschensteinen ausschliesslich Wildkirschen wachsen. Zu den wild wachsenden Kirschbäumen gehören vor allem die Traubenkirsche (Prunus padus L.), auch Ahlkirsche genannt, und die Felsenkirsche (Prunus mahaleb L.), auch als Türkische Weichsel oder Steinweichsel bezeichnet. Für die Verbreitung sind insbesondere die Drosseln zuständig, welche die Steine nach dem Kirschengenuss in der Landschaft verteilen. Stare und Eichelhäher ihrerseits zertrümmern die steinharten Samen und geniessen den Inhalt als Nahrung – so sind die Geschmäcker eben verschieden.
Von Menschen sind Edelsorten gefragt, die unter die Rinde des Wildlings, der als Unterlage dient, eingesetzt werden. Der Baumschulist veredelt die Bäume in der Regel durch Augenveredelung (Okulation), indem er eine Blattknospe unter die Rinde schiebt. Daraus wächst dann der Stamm mit der Edelsorte, die sortenecht sowie virusfrei sein und die gewünschte Qualität hervorbringen soll.
Der Kirschensorten sind unzählige. Im Fricktal gibt es die Weisse Fricktaler, Fricktaler Rotstieler, Herznacher, Ueker, Olsberger, aber auch Birrwiler, die Späte Fisibacher, Eichberger, Schinznacher und die Schöne von Aarau. Grob wird zwischen Süsskirschen (Prunus avium L.), diesen grossfruchtigen, festfleischigen und purpurfarbenen Tafelkirschen, sodann Industriekirschen für Konserven oder Destillate (Kirsch) und Sauerkirschen (Prunus cerasus L.) unterschieden. Sie alle gehören zur Familie der Rosengewächse/Rosaceen) – man spürt das beim Betrachten ihrer Blüten. Die Sauerkirschen können Destillate geschmacklich bereichern.
Viele Sortennamen bezeichnen die Eigenschaften: Sammetkirsche, Glanzkirsche, Kracher, Kneller, Chlöpfer, Rot- oder Grünstieler, Muskateller usf. Oft im Fricktal verwendete Arten sind die Langstieler, Schauenburger, Hedelfinger, Basler Adler, Star, Lampnästler, Didi und Rote Lauber.
Heute kommen zunehmend ökologisch weniger bedeutende Niederstammanlagen mit frühtragenden Sorten zum Einsatz; die ertragslose Jugendphase ist dort kürzer als die 10 Jahre wie bei den Hochstämmen. Im Gegensatz zu den Tafelkirschen, die von Hand geerntet werden, kommen bei Industriekirschen maschinelle Methoden zum Einsatz. Dafür sind vor allem Halbstammkronen geeignet, auf welche schüttelbare Sorten gepfropft sind, die in ein Auffangtuch fallen.
Selbstverständlich können nicht alle Kirschen in der kurzen Zeit ihrer Reife verschlungen werden, auch wenn es manch ein traditionelles Rezept wie Chriesiprägel, Chriesitschu, Chriesimil usw. gibt. Heute werden die Kirschen oft entsteint und als Konserven in Beuteln pasteurisiert verkauft. Beim Tiefkühlen werden die Kirschen nach einigen Wochen bitter und oft braun, abgesehen von den tiefschwarzen Sorten. Im Fricktal brennen Viktor Schwaller und Martin Häseli Kirschen zu Kirsch; für 1 Liter braucht es 7 kg süsse Früchte. Der Kirsch kann auch zu Likör, Röteli usf. variiert werden. Kirsch hilft beim Fondue-Verdauen, ist ein Hausmittel gegen Schwächeanfälle und dient als Einreibemittel gegen Muskelschmerzen.
Aus Kirschenstielen von ungespritzten Bäumen kann übrigens ein Tee gegen Harnstauungen, Harnwegsentzündungen, Gicht, Arthritis, Durchfall, Zellulitis und zur Entschlackung zubereitet werden, der in der Naturheilkunde auch bei chronischem Husten und Bronchitis eingesetzt wird. Die getrockneten Stiele werden über Nacht in lauwarmem Wasser angestellt und am Morgen bis zum Siedepunkt erwärmt.
Und wenn ein Baum weichen muss, kann auch sein hartes, feinfaseriges und ziemlich biegbares Holz noch verwertet werden, wobei das Holz der Waldkirsche bedeutend heller als jenes der Feldkirsche ist. Oft dient es als Möbelholz.
Mit Kirschen ist infolgedessen insgesamt gut Kirschen essen. Um diese Redensart Wirklichkeit werden zu lassen, warte ich jetzt die Zeit der Reife ab. Die Erinnerungen ans berauschende Blütenmeer aber sind bleibend.
Hinweise
Der Chriesiwäg ist sowohl mit öffentlichen Verkehrsmitteln als auch mit dem Privatfahrzeug erreichbar. Ab Bahnhof Frick ist der Weg beschildert; für Automobilisten steht der Parkplatz bei der Landi am Geerenweg in Gipf-Oberfrick am Ausgangspunkt zum gut ausgeschilderten Chriesiwäg zur Verfügung, der auch Kinderwagen-tauglich ist. Der Rundweg ist auch für einen Grillierhalt auf dem aussichtsreichen Farschberg (Punkt 513) eingerichtet. An der Hauptstrasse in Gipf-Oberfrick sind die 4 Gasthöfe „Hirschen“, „Adler“, „Rössli“ und „Krone" im Einsatz, und wer eine Verdauungshilfe anstrebt, dem sei ein Abstecher zum Kirschbrenner Viktor Schwaller-Mangold am Kornweg empfohlen.
Der Themenweg ist ein gemeinsames Werk des Verbands Aargauer Obstproduzenten, der Vereinigung „dreiklang.ch“ und der Gemeinde Gipf-Oberfrick.
Hinweise auf weitere Blogs über Kirschen
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