Textatelier
BLOG vom: 09.05.2009

Ab Hardturm über Züri-West nach Höngg und Altstetten

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Den vorgesehenen Limmat-Spaziergang liess ich sofort fallen, als Vreni wissen wollte, wo sich das Zentrum von Züri-West befinde, von dem sie in der Zeitung immer wieder lese. Wir hatten uns beim Hardturm getroffen, wollten Limmat-abwärts gehen, um unsere einstige Heimat „Am Wasser“ zu besuchen. Dort lernten wir uns kennen, als unsere Kinder den Kindergarten besuchten.
 
Also gab es einen 180-Grad-Richtungswechsel zu „Puls 5“, dem Ort, wo sich Monumente des Industriezeitalters, oder Teile von ihnen, zu neuem Leben erwecken liessen. Wir besuchten die sympathische Migros-Filiale mit ihren grossen Fenstern und dem Blick in den begrünten Hof und angrenzend die Giessereihalle, in der einige Ladengeschäfte und ein Fitnesscenter eingerichtet sind. Da stiessen wir unverhofft auf „basecamp 09“, das „festival science et cité“.
 
www.basecamp09.ch informiert umfassend über diese spannende und lehrreiche Veranstaltung, die das Leben auf unserer Erde erklärt und an unsere Verantwortung appelliert. Der erwähnte Link führt auch zum „Rap Viedeo Contest“, auf den ich besonders hinweisen möchte. Diese Veranstaltung wird noch in verschiedenen Städten gastieren.
 
Der Turbinenplatz mit seinen vielen Birken und den eigenwilligen, hölzernen Liegen kam nicht zur Geltung. Die aufgestellten Zelte, Schiffscontainer und andere Ausstellungs-Gebilde bestimmten das Bild. Immer wieder fragte Vreni: „Ist das jetzt der Schiffbau?“, wenn sie irgendwo ein altes Gebäude erspähte. Sehr interessant für mich, wie sich Namen und Fetzen von Berichten einprägen, wenn sie sowohl in der Zeitung als auch im Fernsehen erscheinen. Das gibt es also wirklich, mag sie gedacht haben, als ich auf ein kleineres, altes Gebäude hinwies, in dem Kurt Aeschbacher seine Gäste für Fernsehsendungen empfängt.
 
Heute berührt es mich, wenn ich realisiere, wie die Architekten dieses Trendquartiers mit den Zeugen aus alter Zeit umgehen. Sie liessen jene Teile stehen, die alte Baukunst repräsentieren. Markant an der Halle, in der einst Schiffe gebaut wurden, ist die mächtige Eingangsfront mit dem aus rotem Backstein geschaffenen Halbkreis-Sturz. Dann im Innern das Stahlträgergebälk, an dem die Laufkatze (der Laufkran) in alle Richtungen geschickt werden konnte. Hier waren verschiedene Berufsleute an der Arbeit. Die wichtigsten: Kesselschmied, Metallgiesser, Mechaniker, Dreher, Kranführer.
 
Und heute werden in dieser Halle Schauspiele aufgeführt. Der „Schiffbau“ ist die Zweigniederlassung des Zürcher Schauspielhauses geworden.
 
Da ich selber in einer Fabrik, jedoch nicht aus der Metallbranche, aufgewachsen bin (meine Eltern waren als Hauswarte angestellt), sind mir solche Räume bekannt. Auf den ersten Blick fühle ich etwas Heimatliches, aber gleichzeitig erinnere ich mich an einen gewissen Mief, der sie umgab. Viel Grau, viel Lärm und Gestank. Und die Arbeiter mussten um minimale Rechte kämpfen. Ich wünschte mir damals ein menschenfreundlicheres Leben und eine hellere Zukunft.
 
Vreni und ich hatten den Schiffbau betreten. Wir standen in der Eingangshalle, schauten nach den vielen alten Zeugen aus und sahen selbstverständlich auch in das noble Restaurant hinein. Hier verfilzen sich Vergangenheit und Gegenwart.
 
Die jungen Menschen feiern das Abgegriffene und Ausrangierte und auch den gebrauchten, grauen Stein. Ich sehe darin einen beeindruckenden Respekt unseren Vorfahren gegenüber. Auch ich bewundere immer noch die Baukunst von einst, die als vorindustrielles Handwerk entstanden ist. Jedes Produkt war ein unverwechselbares Original.
 
Wenig wertvolle Originale haben wir an unserem einstigen Wohnort „Am Wasser“ in Zürich-Höngg vorgefunden. Störend sind speziell die überdimensionierten Tankstellen. Da stand Vreni einfach da und schaute. Und mir war es, als ob sich eine Computermaus über diesen Ort bewegte und uns allerlei Stichworte aufscheinen liess. Da hatten wir als junge Mütter viel erlebt. Schon längst verstorbene Menschen standen wieder auf, traten für ein paar Minuten in unser Leben, holten gute und andere Erinnerungen hervor. Und wir versuchten, das Milchgeschäft von Hubers, die Metzgerei Baumann, den Salon Caroline und auf der anderen Strassenseite die Schuhmacherwerkstatt von Turrins an ihre damaligen Orte zu platzieren.
 
Dann entführte ich Vreni noch nach Zürich-Altstetten in mein neues Zuhause. Diese Gegend war ihr völlig fremd. Sie muss ob all dem Geschauten etwas orientierungslos geworden sein. Als ich sie dann zum Farbhof begleitete und sie den Zweier (Tram Nr. 2) erspähte, leuchtete ihr Gesicht. Diese Linie kannte sie. Ihr Heimweg war gesichert. Ab Zürich-Stadelhofen konnte sie mit der Forchbahn heimfahren.
 
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