Textatelier
BLOG vom: 08.06.2009

Linthwerk-Besuch (2): Dickenwachstum für labile Dämme

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Man spürte es deutlich: Anni Brühwiler, eine urwüchsige Glarnerin und Linthwerk-Führerin, gefällt das grosse Grübeln und Umgestalten, wie es zurzeit rund um den Escherkanal im Gange ist. Man kann dieses sozusagen als eine moderne Ausgabe der Schlacht bei Näfels GL empfinden, wenn man will. Diesmal sind aber nicht mehr die Habsburger zu bezwingen, sondern man muss sich auf weitere allfällig eintreffende Hochwässer vorbereiten. Der Feind, ohne den man nicht leben könnte und nicht leben möchte, ist also das Wasser. Dieses trieb sich schon lange vor den Habsburgern dort im Linthdelta zwischen Zürichsee und Walensee herum, veranstaltete beliebige Kapriolen und hat sogar noch einen weiteren See gebildet, den man heute aber vergeblich sucht: den Tuggenersee (Tuggnersee). Er wurde schon um etwa 1550 von der Linth mit anorganischem Material aufgefüllt. Dieser Fluss hat das Glarnerland schon immer von nicht benötigtem Geschiebe befreit. Der abgetauchte See hinterliess ein weites Sumpfgebiet. Noch früher war der Walensee der alpine Arm des Zürichsees. Die Linthebene entstand durch die Schuttablagerung der Linth und der Seitenbäche im eiszeitlichen See. Die Versumpfung und Ablagerung gingen immer weiter, die Schifffahrt verkümmerte.
 
August Berlinger, der am Jubiläum „30 Jahre ANL“ vom 05.06.2009 ebenfalls als kundiger Linthwerk-Führer tätig war, sagte „an diesem extrem spannenden Ort“ bei Näfels/Mollis, wo die auf dem Rücken eines nacheiszeitlichen Bergsturzes dahinfliessende Linth zum Escherkanal wird und auftragsgemäss dem Walensee zuströmt, im Glarnerland gebe es keine hohen Berge, sondern nur ein tiefes Tal. Man kann es auch so sehen. Ganz in der Nähe grüsste der sich entgletschernde Glärnisch, der aus 3 Gipfeln besteht: dem Ruchen (2901 m), dem Vrenelisgärtli (2903 m) und dem Bächistock (2914 m). Auch sprachgeschichtlich (Sprachgrenze lateinisch-alemannisch) und wehrgeschichtlich sei das Gebiet interessant, wovon eine Bunkerreihe und Panzersperren künden. Aber der Gipfel der momentanen Interessantheit ist natürlich die Wasserbautechnik hier, am Unterlauf nach wie vor ungestümer Bergflüsse.
 
Die über 60 Jubiläumsgäste zum 30-Jahre-Bestehen der AG Natur und Landschaft (ANL, Domizil: Aarau), die alsbald wandernd dem Escherkanal abwärts folgen sollten, wurden vorerst beim Informationspavillon in Näfels/Mollis mit orangefarbenen Warnwesten umhüllt, damit man sie nach einem allfälligen Hochwassereinbruch aus dem Glarnerland im Walensee drunten dann besser finden und ans Land ziehen könnte. Es waren ja gerade wieder Gewitter oder Platzregen angekündigt, die sich zwar erst einige Stunden später entladen sollten, so dass es mir hier leider unmöglich ist, den Nutzen von Schutzwesten aus praktischer Erfahrung und aus erster Hand zu beschreiben. Wäre ich weggespült worden, wäre mir das Zusammensetzen von Wörtern zu Sätzen erst recht vergangen. Die Niederschlagsmenge ist in der Linthebene mit 1600 mm im Jahresdurchschnitt gross, weil die regenschweren Wolken oft vom Gebirge, das es halt doch gibt, von der Weiterreise abgehalten werden.
 
Trockenen Fusses und Kopfes studierten wir zuerst einmal die grosse Orientierungstafel beim Infozentrum in Näfels, welche das Projekt „Hochwasserschutz Linth 2000“ auf derart einfache, einleuchtende Weise darstellt, dass sogar ich die Sache jetzt einigermassen verstehe. Zum Verständnis tragen die wunderschönen Zeichnungen mit dem Escherkanal, dem Linthkanal, dem Hänggelgiessen, den Felsüberlagerungen im Chli Gäsitschachen, dem Chupferenrank des Escherkanals usw. von Sonja Burger bei. Die Künstlerin war persönlich anwesend. Wir kennen uns seit meiner „Natürlich“-Zeit (sie zeichnete meisterhaft, was nicht zu fotografieren war). Ich sagte zu ihr, in dieser Landschaft seien wahrscheinlich einfach ihre Zeichnungen umgesetzt worden. Aus welchen Gründen auch immer, sie fand es unnötig, mir zu widersprechen.
 
Die Übersichtstafel erinnert pflichtgemäss an den grossen Hans Conrad Escher, unter dessen Leitung das riesige Linth-Bauwerk 1807 in Angriff genommen wurde. Seither hat es sich recht gut bewährt, ist inzwischen aber von einigen Altersgebresten heimgesucht worden, wie sie vor allem bei den Überschwemmungen in den 1980er- und 1990er-Jahren (besonders 1987) und 2005 an die Oberfläche gespült worden sind. Die Linthwerk-Garantiezeit ist längst abgelaufen.
 
Bei Hochwasser-bedingt steigendem Linthpegel spielt sich selbst im Untergrund Dramatisches ab: Erhöht sich der Grundwasserspiegel, kommt es zu einem gewaltigen Auftrieb; die Dämme werden leichter und können abrutschen. Um dies zu verhindern, werden sie jetzt verbreitert, wodurch die Auflast grösser wird, wie die Ingenieure sagen (sie werden schwerer), und Kiesschichten sorgen für eine Entwässerung.
 
Am Escherkanal wird die Innenseite des linken Damms verstärkt. Die Aussenseite bleibt unverändert, so dass kein Landwirtschaftsland geopfert werden muss. Dort gibt es viele weidende, glückliche Kühe. Sie wissen genügend Auslauf zu schätzen. Im Falle des Linthkanals (Verbindung Walensee–Zürichsee) aber müssen die Dämme auf der Aussenseite verstärkt werden, was zusätzliches Land benötigt und die Verlegung des rechten Hintergrabens und eines Meliorationskanals (F-Kanal) in die Ebene hinein nach sich zieht. Ob alle Rindviecher dafür Verständnis haben, bleibe dahingestellt.
 
Die orangefarben eingekleidete ANL-Prozession bewegte sich dann von der Molliserbrücke rechtsufrig dem Escherkanal entlang und beobachtete andächtig, was sich hier, beim Rütelbach, im Kundertriet und bis zur Vrenelibrücke ereignet hatte und gerade ereignete: Dem Linthbrüggli bei Näfels/Mollis wurden zuunterst abgerundete Blech-„Schürzen“ angezogen; die aerodynamische bzw. aquadynamische Stromlinienform verhindert Verklausungen (Verstopfungen) durch Baumstämme, die auf dem Wasser daherschwimmen. Anni Brühwiler zeigte sich in typisch fraulicher Art von dieser Erfindung besonders begeistert, zumal ja auch viele Ehemänner von ihrer Gegenseite strikte angehalten werden, beim Essen Schürzen zu tragen, damit nicht die gesamte Speisenabfolge an der Frontseite des Hemds kleben bleibt und der Mann zu einer wandelnden Speisekarte wird. Ich kann davon ein Lied in Moll singen. Aber lassen wir das.
 
Der Rütelbach wird renaturiert, wobei Lebensräume für Amphibien und Fische entstehen sollen. Einige Erdkröten-Kaulquappen („Rossköpfe“) testeten das Gebiet weiter unten (im Brugraben) gerade auf seine Eignung als Lebensraum positiv, Tierversuche von der angenehmeren Art. Falls es jetzt darnach aussehen sollte, als ob ich in der Lage sei, die Rossköpfe der speziellen Amphibienart zuzuordnen, muss ich in aller Bescheidenheit anerkennen, dass ich dieses Wissen vom Fischfachmann Peter Jean-Richard bezogen habe. Er setzt sich seit Jahrzehnten für das ein, was viele Fischer als „Fischunkraut“ abtun. Deshalb widme ich ihm hier ein virtuelles Denkmal.
 
Der Chupferensteg wurde im Zusammenhang mit einer verbesserten Abflusskapazität neu und weiter oben gebaut, eine feingliedrige Stahlkonstruktion mit vorläufig noch kupferfarbigem Holzboden, geeignet für Fussgänger. Vorläufig muss man über eine Holztreppe zu ihm hinaufsteigen.
 
Das Augenfälligste im Umfeld des Escherkanals ist die Absenkung des rechten Damms, so dass das ansteigende Wasser ins Kundertriet und den unten anschliessenden Chli Gäsitschachen fliessen und dort wenig Schaden anrichten kann, ja sogar begrüsst wird. Auen-ähnliche Gebiete lieben Überschwemmungen, genau wie Leute, die ihre Keller ohnehin schon lange gewinnbringend räumen wollten. Hangwärts neben dem Escherkanal sind jetzt voluminöse Überschwemmungszonen vorbereitet, die in den Walensee münden (weitere Informationen dazu sind unter www.linthwerk.ch zu finden).
 
Im Chli Gäsitschachen (zwischen dem Chupferensteg und der Vrenelibrücke) kommt es sogar zu einer Flussaufweitung mit zurückgesetztem Damm und der proaktiven Gestaltung eines Naturraums. Das sind unmissverständliche Hinweise an den Fluss, dass er hier seine Eigendynamik endlich wieder ausleben darf, auf dass sich Kiesinseln, Auen- und Weidenwälder bilden können (försterlich gepflanze Fichtenplantagen wurden entfernt). Zudem sollen hier Bach- und Seeforellen Laichplätze erhalten.
 
Auch der friedliche Armee-Schiessplatz Walenberg ist dort, am Hangfuss des Kerenzerbergs und direkt beim aufgeweiteten Linth-Escherkanal, anzutreffen. Panzer sind nicht einmal als Attrappen hier, sondern nur banal hingepinselt, offensichtlich nicht von Sonja Burger. Das Militärgelände steht nicht nur im Dienste der Landesverteidigung durch Ueli Maurers „beste Armee der Welt“, sondern auch in jenem des Naturschutzes. Neben Soldaten, die nur sporadisch auftreten und „Feuer frei!" schreien, haben sich einigermassen permanent Nutzer wie Gelbbauchunke, Fadenmolch, Bergmolch, Erdkröte, Alpensalamander und – wie es sich für einen Schiessplatz gehört – auch der Feuersalamander eingefunden – ein Amphibienreservat von nationaler Bedeutung. Das frohe Quaken müsste statt des üblichen Quarks von Radio DRS landesweit verbreitet werden.
 
Am Linthkanal entlang zur Grynau
Noch bevor wir an der Mündung in den Walensee angekommen waren, wurden wir mit Cars ins Gebiet Giessen/Benken SG verfrachtet, sozusagen zur Mitte des Linthkanals. Programm ist Programm. Nach dem Mittagessen wanderte die Jubiläumsgesellschaft mit den dammartig gewölbten Bäuchen auf dem linksufrigen Damm schnurstracks der Grynau entgegen. Der Wall liegt höher als der Boden der Talebene und kann somit als Aussichtsplattform dienen; der Blick erreicht von dort aus auch die beiden Dämme neben Hintergraben und F-Kanal; die den Hauptdamm begleitenden kleineren Dämme sind mit den Voralpen vor den Alpen zu vergleichen. Den Abschluss des Dammtrios bildet die staubige, neu angelegte Nebengrabenstrasse, über die gerade Aushubmaterial (Humus) abgeführt wurde. Sie wurde von einem Traktor mit Zisterne mit Wasser besprüht, damit ihr der Staub erhalten blieb.
 
Die Sonne brannte unbarmherzig durchs Ozonloch auf die Linthebene, auch auf die Wandergruppe auf dem Damm, auf vorbeifahrende Velofahrer und Hundeinhaber bei der erweiterten Gassitour. Ob die Eschen an den Dammböschungen zu Ehren von Hans Konrad Escher gepflanzt worden oder selber zugeflogen sind, kann ich nicht sagen. Zudem wachsen an den Dammbördern Eichen, Ahorne, Schwarzdorne, weiche und harte Hölzer – je nachdem auf Biegen oder Brechen.
 
Beim geradlinigen Wandern durchs Hinter Benker Riet auf 408 Höhenmetern diskutierte ich mit dem verdienten Naturschützer Rolf Glünkin vom solothurnischen Amt für Raumplanung, der auch auf philosophischer Hochebene ansprechbar ist, über Sinn und Unsinn der Geraden, die wir, milde gestimmt, hier aus der Zeit ihres Entstehens zu verstehen suchten. Nach den Verschnörkelungen wie der Prachtentfaltung aus dem Barock stellte sich ein offensichtliches Bedürfnis nach strengeren geometrischen Formen ein. Vielleicht beflügelte dies auch die Kanalisierungen bei vermeintlichen Naturverbesserungen. Zudem ist die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen 2 Punkten. Und bei dieser Hitze waren wir recht froh, dass es in der Direttissima auf die Grynau-Kurve (Endstation unserer Anstrengungen) zuging, zumal unser Schweiss bald aufgebraucht war.
 
Dort, bei der mittelalterlichen Burg Grynau und dem ehemaligen Infanterie-Fort, wo jetzt auch ein Landgasthof ist, wurden alle Durste mit beachtlichem Erfolg rigoros bekämpft, ähnlich wie die Zürcher im Alten Zürichkrieg durch die Schwyzer. Prost! Eine gelegentliche Überschwemmung ist schon etwas Herrliches.
 
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