Textatelier
BLOG vom: 21.06.2009

Colmar (1): Familiäre Reise ins Kopfhaus im Herzen der Stadt

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Aus der zoologischen Literatur, eigenen Beobachtungen in Zoos und einem Gehege in Sarawak kenne ich das Verhalten der Gorillas einigermassen, wobei mich (72) aus nachvollziehbaren Gründen jeweils das soziale Verhalten des Silberrückens besonders interessiert hat. Er ist das vorbildliche Familienoberhaupt, geduldig und tolerant; nur beim Essen sollte man ihn nicht stören. Im Interesse der Festigung familiärer Bindungen nehme ich ihn jeweils einmal im Jahr als Vorbild, trommle den Nachwuchs, der bereits die Lebensmitte erreicht hat, mit Anhang zusammen und organisiere eine Exkursion. Dieses Jahr standen ein Festmahl im 400-jährigen Kopfhaus (La Maison des Têtes) in Colmar auf dem Programm – neben einer Stadtbesichtigung und einem Abstecher nach Turckheim. Der Stadt Colmar und Turckheim werde ich weitere Tagebuchblätter widmen, weil sie das verdient haben.
 
Anfahrt im Doppel
Wir waren insgesamt 6 Personen – meine Frau, die beiden Töchter und ebenso viele Schwiegersöhne, eine normale Familie, allesamt den Kinderschuhen längst entwachsen. Sie waren nicht in einem einzigen Auto unterzubringen, und so erklärte sich Urs bereit, Ediths Skoda zu chauffieren. Ich bat ihn vor der Abfahrt in Biberstein AG, mir, dem Leittier, zu folgen, und wenn er mich verlieren sollte, würden wir uns an der Avenue de la République in Colmar treffen, weil dort das Parkhaus Rapp ist. Doch interessierte sich Urs gerade eher für geschichtliche Belange von Colmar. Da wir aber bald abfahren wollten, beschränkten wir uns auf die Zeit nach 1673, als nach der Besetzung durch die Truppen des französischen Königs Ludwig XIV. Colmar mit dem Frieden von Nimwegen (1679) Frankreich zugeschlagen wurde, bis heute. Nach dem Deutsch-französischen Krieg (1870/71), dessen schwerste Kämpfe im Elsass stattgefunden hatten, gingen das Elsass und damit auch Colmar an Deutschland, das heisst, diese Region wurde ein Teil des neuen Reichslands Elsass-Lothringen. Nach dem 1. Weltkrieg kehrten das Elsass und auch Colmar wieder an Frankreich zurück – die Trikolore triumphierte. Die Elsässer empfanden den Einmarsch der Franzosen als Befreiung. Und dabei blieb es bis zum 2. Weltkrieg, als Colmar (Kolmar) wieder für eine kurze Zeit an Deutschland zurückfiel. Wie sich Colmar heute präsentiert, wollten wir selber ergründen.
 
Ich fuhr los, Urs mit Eva und Edith hintendrein. Bald stellte sich heraus, dass Urs ein eigenwilliger Fahrer ist, der sich nicht einfach an die Fersen eines Leitfahrzeugs heften mag. Nach der Fahrt übers Fricktal wartete ich am Zoll Basel auf das nachfolgende Fahrzeug, so dass der Tross wieder beisammen war. Wir folgten der E 25 nach Mulhouse und weiter, immer nach Norden in Richtung Colmar, in unterschiedlichen Abständen der Ill entlang.
 
Colmar hat sich den Luxus von 4 Anschlüssen an die E 25 geleistet. In einem späten Moment entschloss ich mich, die 1. Ausfahrt zu benützen. Urs auf der linken Spur, durch eine dichte Lastwagenkolonne abgeschottet, konnte nicht mehr schnell genug reagieren, musste weiterfahren und sollte die Stadt dann eher von Norden her angreifen. Natürlich hatte unsere Geschichtsdiskussion die Avenue de la République überlagert, so dass er keine Ahnung mehr hatte, wo wir unser Treffen vereinbart hatten – und so klein ist Colmar mit seinen rund 66 000 Einwohnern auch wieder nicht. Unsere Mobiltelefone versagten den Dienst, obschon wir die Schweizer-Vorwahlnummer +41 voranstellten. Ich habe im Auto eine Freisprechanlage nach Bluetooth-System, und über die Lautsprecher kam immer wieder eine ausserordentlich laute Stimme, wonach der Angerufene nicht erreicht werden könne. Franz gelang es dann immerhin, die Lautsprecher-Lautstärke etwas zurückzufahren, aber im Wesentlichen blieb die Situation ungelöst. Ich stellte meinen Prius ins Parking Rapp, und Anita, Franz und ich erreichten das Tageslicht. Die Lage war hoffnungslos. Doch Anita fand, die Konstellation der Gestirne sei für familiäre Unternehmungen exzellent; im Prinzip könne nichts schiefgehen.
 
Wir schlenderten ohne festes Ziel gegen das Stadtzentrum, zum Square Hansi/Boulevard die Champ de Mars. Und plötzlich rannte meine Frau – Eva war bei Urs mitgefahren – mit weit ausgebreiteten Armen auf mich zu, fiel mir um den Hals, als ob wir uns seit mindestens 20 Jahren nicht mehr gesehen und vor Sehnsucht verzehrt hätten und zerdrückte fast meine Brille, die ich in die linke Brusttasche des Hemds eingelagert hatte. Wir waren ebenfalls überglücklich. Wie war dieses Zusammentreffen nur möglich gewesen?
 
Die Erklärung, für die es mehrere Zeugen gibt: Anita trug ein türkisfarbenes Shirt unter einer weissen Stricktunika und türkisfarbene Halbschuhe. Beim Vorbeifahren, wohl aus über 50 Meter Distanz, hatte Eva diese Schuhe mit der speziellen Farbe gesehen, Urs bei den Maisons du Monde zum Anhalten veranlasst und stürmte aus dem Auto auf uns zu. Das war eine reife Leistung.
 
Der Kopfschirm
Nachdem wir auch das andere Auto eingelagert hatten, erfrischten wir uns vor der Brasserie L’Amandine mit Kaffee und jenen fetttriefend-butterigen Croissants, deren Kurve zu einer ordentlichen Breite ausufert und wie es sie eigentlich nur in Frankreich gibt. Wir waren wieder im Programm. Ein wuchtiger, zu Spässen aufgelegter, dunkelhäutiger Senegalese im AHV-Alter mit einer ebenso dunklen Sonnenbrille und weissem Turban verkaufte kleine Sonnenschirme mit einem Stirnband, die man sich auf den Kopf stecken kann, für 5 €. Er selber war mit solch einem im beschränkten Rayon wirkenden Schattenspender ausgerüstet. Ich schenkte Eva ein Exemplar – und zwar jenes in den fröhlichen karibischen Farben; die Trikolore und ein EU-Sternenkranz wären auch erhältlich gewesen.
 
Tafelfreuden im Kopfhaus
Dieser Tag stand eindeutig im Zeichen der Köpfe; ich hatte, wie gesagt, auf 12 Uhr einen Tisch im Maison des Têtes („Kopfhüs“) reservieren lassen. Franz, ebenfalls ein Meister der Beobachtung, entdeckte dieses berühmte Haus durch einen Spalt zwischen 2 Gebäuden. Sichtbar war nur ein Teil des (mit Schmuckelementen versehenen) Volutengiebels, auf der seit 1902 die Küferstatue (Fassmacher) von Auguste Bartholdi steht und die Gäste hereinzudirigieren scheint.
 
Die genannte Giebelform ist ein Markenzeichen der Hochrenaissance – das ganze Haus ist ein prachtvolles Beispiel deutscher Renaissance-Architektur. Bei der Rue des Boulangers bogen wir nach rechts in die Rue des Têtes ein und sahen die herrliche, mit roten und weissen Blumen geschmückte Fassade erstmals frontal. Dieses 1609, also vor genau 400 Jahren, errichtete Gasthaus liess der Händler Antonius (Antoine) Burger (1626‒1628 „Stettmeister“ von Colmar) erstellen. 1898 kam es in Besitz der „Bourse aux vins de Colmar, Soc. Coop., also an die genossenschaftliche Weinbörse, als deren wichtigste Köpfe Gustave Burger (1878‒1927) und Louis Hartmeyer (1862‒1937) auf einer Gedenktafel geehrt werden. Die Fassade mit Fronterkern, die über 2 Etagen reichen, ist mit Dutzenden skurrilen Köpfen, Masken und Figuren geschmückt. Kopfnicker sind dabei.
 
Pünktlich um Mittag traten wir durch den Rundbogen in den Innenhof des Hôtels LA Maison des Têtes (www.maisondestetes.com); die Sonne brannte auf die Pflästerung, auf der Tische und Sonnenschirme standen. Fachwerk, Sprossenfenster und Fensterbögen und blühende Kletterpflanzenstränge über den Tischen schaffen dort eine angenehme Ambiance. Das Restaurant ist mit gekerbten Holzträgern und -balken und verspielten Leuchtern versehen, ganz mit Holz ausgekleidet, und ein schlanker, grüner Kachelofen genoss seinen Sommerfrieden. Die Tische werden mit halbhohen Zwischenwänden separiert. Im Haus drin war die Temperatur angenehm. Abgesehen von der etwas resoluten Wirtin war die Bedienung angenehm, zurückhaltend, unaufdringlich. Ein zierlicher indischer Kellner gab sich alle Mühe, verbreitete eine angenehme Ruhe. Hier nimmt man sich zum Essen schliesslich Zeit. Der sympathische Chef, Marc Rohfritsch, der das Haus seit 1994 führt, war in jeder Beziehung eher zurückhaltend, selbst beim Umgang mit dem abschliessenden Käsewagen, auf dem sich immerhin gut ausgewählte Delikatessen aus dem französischen Weichkäsesortiment befanden.
 
Ich empfahl eine Art Quer-Beet-Menu, so etwas wie das „Menu dégustation“, dem sich die meisten unterordneten. Der trockene, gehaltvolle „Riesling Geisberg“ aus dem Elsass war für den 1. Teil eine gute Empfehlung.
 
Das Amuse-bouche erwies sich als angenehmer Crevetten-Cocktail. Die Gänseleber, in Frankreich als Kulturgut und als Delikatesse hoch geschätzt, widersetzt sich unseren Tierschutzvorstellungen. Die Frage, ob die Kultur über den Tierschutz oder der Tierschutz über die Kultur geht, wird in Frankreich und insbesondere im Elsass anders als in unseren Breitengraden beantwortet. Eine Delikatesse waren die im reduzierten Fonds gekochten Langusten auf Tomaten und Gurken neben Keimlingen. Der Steinbutt (Turbot) in der rahmig-buttrigen Sauce war ein Höhepunkt an Wohlgeschmack und Geschmeidigkeit.
 
Das Mini-Sorbet, deren Kopf von einer einsamen Kirsche gebildet wurde, und nur über einen Burggraben aus bestem Marc zu erreichen war, erfrischte wohltuend.
 
Dann war die Zeit der Clochers (der halbrunden Hauben) angekommen, die jeweils den Gast noch runder spiegeln als er (in meinem Fall) ohnehin ist, weshalb ich konkave Glocken vorziehen würde (eine Produktionsidee für innovative Jung-Unternehmer). Jetzt war der herbe Pinot noir Dopff angezeigt, restzuckerfrei und damit eine Seltenheit im Elsass. Unter der Glocke, die nicht ganz auf Hochglanz war, befand sich ein Lammfilet mit einer Markbeineinlage, von einer Art Rösti verpackt, von einer dezenten Sauce und einem Löffel Spinat eskortiert.
 
Dann fuhr der Käsewagen auf, vom Chef persönlich gesteuert, und ein warmes Beeren-Dessert mit Weinschaum und Vanilleeis rundete die Speisenfolge ab.
 
Die Küche erwies sich als untadelig. Die Präsentation der einzelnen Gerichte war wenig fantasievoll, und Beilagen fehlten beinahe. Dadurch wirkte alles etwas mangelhaft und entsprach nicht ganz den Erwartungen vom Schlemmen wie Gott in Frankreich. Das Preis-Qualität-Verhältnis (Menu-Kosten: 65 €) war nicht vollkommen überzeugend. Doch fühlte man sich nach diesem Tafeln ausgesprochen wohl, fit für weitere Unternehmungen. Niemand hatte Grund, den Kopf hängen zu lassen.
 
In der Stadt war es für mich weit einfacher, die ganze Sippe zusammenzuhalten. Es kam zu keinem Affentheater mehr. Alle Silberrücken wissen das zu schätzen, und ich entwickelte Mitgefühl für sie.
 
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