BLOG vom: 26.06.2009
Lebensabend in der Halle: Gepflegtes Lastwagen-Altersheim
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Soeben hatte ich neben einem Bugatti Type T35B (Jahrgang 1927) eine 2-Minuten-Lektion zum Führen eines Segway erhalten. Das ist ein zweirädriges Fortbewegungsmittel mit einer Lenkstange. „Du musst einfach auf die Plattform stehen, die Lenkstange ganz leicht nach vorne drücken und lenken wie beim Velofahren. Eigentlich genügt es, wenn Du denkst, Du wollest fahren. Der Segway spürt das und reagiert sofort.“ Das wars dann an Fahrschule. Gedankensteuerung? Es gibt Computer, die darauf reagieren (Brain-Computer-Interface, BCI). Schliesslich reagiert auch mein Computer auf meine Gedanken ...denn meistens denke ich beim Schreiben etwas. Das vereinfacht manches.
Mein Fahrlehrer Hanspeter Setz pflanzte sich in seinem riesigen, etwa 110 m langen Lastwagen- und PW-Museum in Dottikon AG breitspurig vor mir und dem Gefährt auf, das mich etwas an ein älteres Handrasenmäher-Modell erinnerte. Ich spürte eine nervöse Verunsicherung. Soll ich diesem jungen Setz-Leben (1941) durch eine ungeschickte Bewegung auf dem Segway Schaden zufügen? Schliesslich spricht die Segway-Werbung von „Kraft, Ausdauer und unbegrenzten Möglichkeiten“. Oder würde ich beim allfälligen Nichtbeherrschen dieses Fahrzeugs den wertvollen Bugatti, den Plymouth-Oldtimer oder einen der vielen auf Hochglanz restaurierten Saurer-, Berna- und Scania-Lastwagen zerkratzen? Oder gar den Colani-Mercedes-Lastwagen mit seiner Wespen-Taille im Frontbereich?
Noch selten hat mir ein Mensch so viel Vertrauen auf Vorschuss entgegengebracht wie dieser Hanspeter Setz: „Du kannst das schon“, ermunterte er mich und trat endlich einen Schritt zur Seite. Ich neigte mich leicht nach vorn. Das Gerät geriet spontan in Fahrt, worauf ich mich der Rücklage annäherte. Der Segway stoppte abrupt, fuhr zurück, bis ich wieder nach vorn korrigierte ... und weil ich nun erfahren hatte, wie man anhalten konnte, war meine Unsicherheit am Abklingen. Ich kurvte in der Halle umher wie einige Darsteller im Altersheim in „Karls kühner Gassenschau“. Hanspeter Setz und die altehrwürdigen Fahrzeuge bekamen keine Kratzer ab.
Hanspeter Setz war bis um 1997 Inhaber der Setz Gütertransport AG in Dintikon AG, ein von seinem Vater Gottlieb Setz 1912 gegründetes Familienunternehmen. Nach dem Hinschied des Vaters (1959) wurde das Unternehmen von einem Geschäftsführer innerhalb von 3 Jahren fast ruiniert, und als 20-Jähriger hatte Hanspeter Setz die schwierige Aufgabe, die Firma wieder auf Kurs zu bringen. Er schaffte es, wurde zu einem grösseren Transportunternehmer, besass bis zu 120 Lastwagen und beschäftigte 250 Personen, die er als Patron alter Schule väterlich betreute. Dann ging dieser Betrieb im Wesentlichen an die Schweizerische Post über, die auf dieser Grundlage ihre Expansionsstrategie im Logistik-Sektor aufbaute (sie ist bereits die Nr. 4 beim Strassengüter-Transport, zur Verärgerung der übrigen Transportbranche).
Der umweltbewusste Lastwägeler
Da ich mich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts beim inzwischen verfusionierten „Aargauer Tagblatt“ mit Verkehrs- und Umweltpolitik befasste, hatte ich oft mit Hanspeter Setz zu tun. Dass er als „Lastwägeler und Vollblutautomobilist“, wie er sich einmal bezeichnete, meine Attacken gegen den ausufernden Automobilismus nicht mit Gehässigkeiten, sondern mit wohlwollendem Verständnis begleitete, hat damit zu tun, dass er das Lastwagengewerbe als „Grüner“ nicht im politischen, aber im wohlverstandenen ökologischen Sinne betrieb. Wir empfanden Hochachtung für einander.
Jeden neu angeschafften Lastwagen (nach den Saurer-/Berna-Modellen waren es solche vom schwedischen Hersteller Scania und Mercedes) baute er gleich um, damit sie umweltfreundlicher wurden. So liess er Flammstartvorrichtungen installieren, damit die Motoren beim Starten bei unter Null Grad C nicht minutenlang rauchten, sondern gleich auf der für eine vollständige Verbrennung des Diesel-Treibstoffs richtigen Betriebstemperatur waren. Scania übernahm die Idee und baute den Flammstarter für alle in der Schweiz abgesetzten Fahrzeuge ein. Zudem reduzierte Setz im Interesse der Treibstoffeinsparung auch die Motorenleistungen: „Die Chauffeure haben das manchmal nicht einmal bemerkt.“
Seine Umweltmassnahmen gingen über das Technische hinaus und reichten bis zum organisatorischen Bereich. Er ist ein eigentlicher Pionier der so genannten Ökologistik (heute unter dem Begriff „Branchenlösung“ bekannt). Er spezialisierte sich auf die Beförderung elektronischer Geräte und sorgte schon vor 20 Jahren dafür, dass vor den Verkaufsgeschäften nicht täglich x Lastwagen von allen Lieferanten auffuhren. Er sammelte die Lieferungen und brachte sie in einer einzigen Fuhre an den Bestimmungsort, das heisst zu einzelnen Läden.
Museum beim alten Bally-Betrieb
Nach dem Verkauf seines florierenden Unternehmens war es mit seiner Leidenschaft für Autos nicht vorbei. Setz kaufte 1999 riesige Backsteingebäude an der Bahnhofstrasse Dottikon (auf Villmerger Gemeindegebiet), in dem 1000 bis 1200 Personen seinerzeit qualitativ hochwertige Bally-Schuhe produziert hatten. Darauf ist nun das „Setz“-Logo angebracht.
Diese ehemalige Bally-Fabrik wurde 1909/10 nach Plänen des französischen Bauingenieurs François Hennebique (1842‒1921) erbaut. Er war ein früher Spezialist für Stahlbetonbau. Das mit einem Aufwand von mehreren Millionen CHF von Setz restaurierte Fabrikgebäude hat dementsprechend eine Eisenbetonkonstruktion und gilt als bedeutendes Industriedenkmal, das denkmalgeschützt ist. Der siebengeschossige Haupttrakt ist trotz der betonten Sachlichkeit wegen des roten Backsteinfüllmauerwerks und den weissen Sprossenfenstern ein angenehmes Schaustück. Der Bau ist zurzeit an die Post vermietet. Auch das benachbarte, mitten auf dem grossen Vorplatz stehende Gebäude, in dem ehemals die Kohleheizung untergebracht war, ist ein schön erhaltenes Gebäude im gleichen Stil wie der Haupttrakt, mit roten und gelblich-braunen Backsteinen eingekleidet. Der Kamin, der im Zerfall begriffen war, musste abgetragen werden – eigentlich schade, doch lohnte sich die Sanierung für etwa 300 000 CHF nicht. Er hätte nur noch als Schattenspender gedient.
Auf dem Fabrikareal – in respektvoller Distanz zur alten Schuhfabrik – ist eine 2300 Quadratmeter umfassende Einstellhalle für alte Lastwagen und andere Oldtimer entstanden: ein einzigartiges Museum und damit ein Dokument zur Auto- und Verkehrsgeschichte, die sich hier an den bedeutendsten automobilen Schätzen ablesen lässt. Das Architekturbüro Xaver Meyer AG, Villmergen AG, wählte eine lange, eingeschossige Holzkonstruktion, die mit grausilbernen Metallplatten verkleidet ist, ein zurückhaltender Kontrast zum verspielten Fabrikbau.
In der lichtdurchfluteten Halle mit Prismareflektoren sind etwa 30 Trucks zu schräg gestellten Kolonnen abgestellt, Normal- und Frontlenker, alle in der graublauen (Setz-)Farbe. Die LKW-Kolosse sind vollständig restauriert und machen einen ebenso blitzblanken Eindruck wie der ganze Raum. Mir fielen zuerst einmal die alten Saurer- und Berna-Modelle aus Arbon und Olten auf, die für mich immer der Inbegriff von Kraft und Stabilität waren. Das älteste Exponat ist im Lastwagensektor ein Saurer aus dem Jahr 1918.
Hanspeter Setz bestätigte, dass die Saurer-Fahrzeuge zwischen etwa 1920 bis 1960 zu den absoluten technologischen Spitzenprodukten zählten, aber oft unter einem raschen Verschleiss = Reparaturbedürftigkeit litten. Sie standen in der Schweiz unter einem nationalen Schutz; ausländische Lastwagen durften nur eingeführt werden, wenn Saurer nicht liefern konnte. Protektionismus wie im heutigen Amerika und immer mehr anderen Staaten auch. Die Scania-LKW waren zwar technologisch und auch in formalen Belangen noch etwas im Rückstand, dafür aber wesentlich stabiler; der Reparaturaufwand war um Grössenordnungen geringer.
Viele Scania-Laster wie der „140 Super“ („King of the Road“) machten für mich einen modernen, geradezu neuwertigen Eindruck, und ich war erstaunt, dass sie es schon zur Museumsreife gebracht haben. Der Fachmann belehrte mich dahingehend, dass dieses Ausrangieren absolut verkehrstüchtiger Fahrzeuge mit der LSVA, der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe, zu tun habe. Sie trat am 1. Januar 2001 anstelle der pauschalen Schwerverkehrsabgabe in Kraft. Die LSVA wird nach dem höchstzulässigen Gesamtgewicht, den in der Schweiz gefahrenen Kilometern und den Schadstoffwerten des Zugfahrzeugs bemessen. Die Fahrzeuge werden in verschiedene Kategorien eingeteilt: „Euro 3“, „Euro 4“, „Euro 5“ usw. Für ältere Fahrzeuge steigt der Tarif dramatisch an, so dass sie nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben sind. So wurde und wird dem Lastwagengewerbe (schon vor der LSVA-Einführung) das Leben und Überleben erschwert. Und als bei unserer Besichtigung vom späten Nachmittag des 08.06.2009 ein laut ratternder Güterzug vorbeidonnerte, sagte Hanspeter: „Da beschwert sich niemand. Die SBB werden gehätschelt und brauchen sich nicht besonders anzustrengen.“
Er sei froh, dass er sich aus diesem Transportgeschäft zurückgezogen habe, fügte er bei, und umso mehr freut er sich an der Flotte ruhender Strassengiganten, die ihm jetzt keine Probleme mehr machen. Zu ihnen gehört auch der von Luigi Colani 1989 gestaltete Mercedes-Benz 1729, einer von etwa 3 Prototypen, der zwar vor Eleganz strotzt, doch aber beinahe gebrauchsuntauglich ist, aber immerhin 190 000 km auf dem Tacho hat. Der Chauffeur-Hochsitz erfüllt nicht alle Anforderungen nach Übersicht, die Kabine wird zum Treibhaus und ist nur über die Ladebrücke zugänglich. Die Ästhetik mit den organischen, femininen Rundungen ging Colani, der jede Gerade krümmt, die ihm über den Weg läuft, über alles.
Autotechnik im Dampfzeitalter
Die Autotechnik spielt für Setz eine wichtige Rolle, und ich konnte mein Ansehen etwas aufpolieren, weil ich in einem Hybrid (Prius) angefahren war. Der Fachmann kann es überhaupt nicht verstehen, dass die Automobilindustrie den Kolbenmotor noch nicht überwunden hat; das Dampfmaschinenzeitalter sei hier noch immer tonangebend, sagte er. Der Wankelmotor wäre eine Verbesserung gewesen, doch weil der Einbau einer Überdrehsperre unterlassen wurde, kam es oft zu grossen Schäden. Mazda produziert heute noch mit Erfolg ein Modell mit Wankelmotor (RX-8).
Die Zukunft aber gehört laut Setz eindeutig dem getriebelosen Radnabenantrieb, das heisst, der Antrieb ist ins Rad oder in die Räder eingebaut, mit dem auch Elektrofahrräder und der eingangs besungene Segway ausgestattet sind. Dies ist im Prinzip die einfachste Lösung, fast wartungsfrei, geräuschlos, und die Bremsenergie kann nutzbringend umgewandelt werden, wie bei den heutigen Hybridmodellen. Schon der Lohner-Porsche von 1901 kannte diesen Antrieb – und zudem auch die Hybridtechnik.
Zu wichtigen Neuerungen, die laut Setz endlich eingeführt werden müssten, gehören die dauernde optische und radargestützte Kontrolle zum Erkennen der weissen Leitlinien und zur Abstand-Haltung. Damit kann es gefahrlos gelingen, den Abstand des Lastwagens zum vorderen Fahrzeug auf 20 bis 30 m zu verringern, was etwa eine Energieeinsparung um 30 % bringen würde, da das hintere Fahrzeug im Vakuum förmlich mitgesogen wird. Auffahrunfälle sind praktisch unmöglich.
So wird der Museumsbesucher in zwar bekannte und dennoch unbekannte Sphären entführt. Ein zufällig vorbeikommender Pensionär fragte, wann das Setz-Museum überhaupt offen sei. „Im Prinzip nie“, antwortete der Konservator, doch auf Anfrage und Anmeldung mache er Führungen (E-Mail: hanspeter.setz@setz.com). Der interessierte Pensionär will den Besuch im Rahmen seines Jassklubs besprechen und sich dann melden. Ein guter Stich.
Ausklang
Die Reise in die Autovergangenheit und -zukunft schlossen wir mit einer Einkehr im Ristorante „al camino“ (ehemals „Sternen“) in Dottikon ab, das mit Grillspezialitäten von der Holzglut bekannt ist. Ich hatte mein Auto in etwa 1 m Distanz vor der Hauswand zum Stillstand gebracht; auf dem Parkplatz war genügend Platz. Doch Hanspeter bat mich in aller Freundlichkeit, doch noch einen halben Meter näher an die Wand zu fahren, von seinem Ordnungssinn getrieben.
Zu seiner Autokultur gehören offensichtlich auch das exakte Fahren, das Parkieren und der Unterhalt der technischen Wunderwerke. Genau so in Reih’ und Glied hatte jeweils die Setz-Lastwagenflotte an der Hauptstrasse Lenzburg–Wohlen in Dintikon gestanden – zentimetergenau ausgerichtet, diszipliniert.
Ich werde mich in Zukunft bemühen, beim Verschieben des eigenen Blechs mehr auf Stil zu achten. Auch diesbezüglich hat mir das autokundliche Lehrstück gut getan.
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