BLOG vom: 27.06.2009
Die Kirschenernte im Oberfricktal: In der Globalisierungsfalle
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Mag der Vergleich noch so holperig sein: Was den Kirschenbauern alles zugemutet wird, geht auf keine Kuhhaut. Das ist mir bei meinem 3. diesjährigen Besuch im Kirschenparadies Gipf-Oberfrick AG am 25.06.2009 bewusst geworden, als die Ernte nach einer Regenperiode gerade begonnen hatte. Vor allem die Sorten Burlat, Magda und Merchant wurden gepflückt. Laut dem Geschäftsführer der Landi Gipf-Oberfrick, Walter Oggenfuss, wird Ende Juni/Anfang Juli 2009 mit der Haupternte gerechnet.
Da sind einmal die Mäuse, welchen das Nagen an den Kirschbaumwurzeln ein grosses Vergnügen zu bereiten scheint; in Extremfällen kann das dazu führen, dass der Baum eingeht, wie mir der Bauer Franz Schmid sagte. Er besitzt etwa 170 Kirschbäume und war zusammen mit Anselm Ruflin gerade dabei, die ersten schwarzen Konservenkirschen zu ernten. Die Sorte „Fricktaler Langstieler“ wurden ohne die Stiele geerntet. Die Stiele bleiben am Baum, und diese Methode ist für den fein verästelten Kirschbaum schonender, weil die Verletzungen an den Fruchtästen kleiner sind.
Die Anforderungen an die Konservenkirschen sind hoch. Sie müssen einen Mindestdurchmesser von 17 mm haben, gesund, frisch und madenfrei sein, bzw. der Anteil von Kirschen mit Maden darf 2 % nicht übersteigen; aufgesprungene Kirschen und solche mit Bittelfäule und Hagelschäden werden nicht akzeptiert. Das Aufspringen rührt meistens daher, dass in der kleinen Einbuchtung beim Stiel Regenwasser ruht und in die Frucht diffundiert. Vor allem müssen die Konservenkirschen schwarz durchgefärbt sein. Und immer wenn der Kirschenertrag besonders gross ist wie in diesem Jahr 2009 – in der Schweiz werden 2100 Tonnen allein an Tafelkirschen erwartet –, ist die Ernte mühsamer, weil der Reifegrad der Kirschen an ein und demselben Baum unterschiedlich ist, wie ich bereits bei meiner 2. Oberfricktaler Chriesiwäg-Wanderung festgestellt hatte. Der Pflückaufwand ist entsprechend grösser, da selektiv geerntet werden muss.
Franz Schmid stellte bei aufklarendem Himmel mit Blick ins grüne Gebinde mit den herrlichen Kirschen fest, die meisten seien noch zu wenig schwarz, um als Konservenkirschen angenommen zu werden. Er müsse mit der Haupternte noch etwas zuwarten. Doch diese mittelgrossen (nach meiner Beurteilung: normal grossen) Kirschen schmeckten wunderbar aromatisch mit einem ausgewogenen Zucker-Säure-Verhältnis.
Die Kriterien, die an Kirschen gestellt werden, sind manchmal merkwürdig. So zeigte mir ein anderer Kirschenanbauer bei der Landi in Gipf-Oberfrick, die jeweils zwischen 16.00 und 16.30 Uhr als Kirschenannahmestelle fungiert, eine gelbe Kunststoff-Schablone mit unterschiedlich grossen, ausgestanzten, kreisförmigen Öffnungen mit Durchmesser von 17, 18, 19 und so weiter bis 25 mm. Bei einem Mindestdurchmesser der Kirschen von 28 mm, der die Schablonenkapazität überfordert, ist die höchste Klasse „Premium“ erreicht, „Extra“ müssen mindestens 24 mm Durchmesser haben. Bei den Tafelkirschen werden die grössten als die qualitativ besten betrachtet, obschon der Durchmesser nach meinem Empfinden doch kein Qualitätskriterium sein kann. Aber die Produzentenrichtpreise sind darauf ausgerichtet: Für eine 1-kg-Schale Kirschen der 1. Klasse erhält der Produzent 3.70 CHF, für die Premium-Qualität, lose, 7 CHF pro Kilo, wobei jeweils 20 Rappen pro Kilo als Aktionsbeitrag für den Schweizerischen Obstverband abgezogen werden. Die Premium-Kirschen müssen aus Kulturen mit Witterungsschutz stammen und ab Ernte vorgekühlt werden. Als Sorten kommen dafür in Frage: Bigalise, Garnet, Giorgia, Kordia, Lapins, Masdel, Merchant, New Star, Oktavia, Regina, Summit, Techlovan, Arcina Fercer, Badacsony, Big Burlat, Coralise, Cristallina, Duroni 3, Noir de Meched, Sam Starking, Hardy Giant, Sweetheart, Sylvia, Samba, Belise, Grace Star, Lala Star, Firmred, Satin und Sumbola.
Als Konsument möchte ich lieber ein möglichst schmackhaftes als ein riesiges Chriesi geniessen können. In aller Regel pflegt jedoch der Handel zu sagen, was die Konsumenten verlangen ... Anselm Ruflin fügte bei, Kirschenbauern würden weniger Tafelkirschen als vielmehr Konservenkirschen essen – und, wie ich annehme, zwar noch vor der Konservierung. Hier sind die Aromastoffe wie das leicht nach Bittermandelöl riechende Benzaldehyd, Linalool (einwertiger Alkohol), Hexanal (riecht wie frisch geschnittenes Gras), Phenylacetaldehyd (wie es zur Parfümherstellung verwendet wird), Eugenol (mit leichtem Nelkengeruch) usf. besonders deutlich entwickelt – ein delikates Parfüm. Die Mischung daraus ergibt das zarte Kirschenaroma.
Vermarktungsaspekte
Eine Bäuerin, die hinzu gekommen war, schüttete ihr Herz aus: Sie verkauft Kirschen nach dem Selbstbedienungs- und Selbstbezahlungsverfahren, da sich mit Bedienung der Ab-Hof-Verkauf nicht lohnen würde. Sie erzählte, gerade seien ihr wieder 2 kg Kirschen gestohlen worden, d. h. dafür wurden total nur 1.10 CHF in die Kasse eingeworfen. Beim Quittenverkauf sei es schon vorgekommen, dass ein diebischer Konsument aus jedem Sack eine Frucht genommen habe und damit verschwunden sei. Unter solchen Voraussetzungen müssten viele Bauern den Direktverkauf einstellen, was ja wirklich bedauerlich ist.
Über dem Kaltluftsee
Ich begab mich weiter gegen den Wolberg (Strecke nach Schupfart AG, Bezirk Rheinfelden) hinauf und begegnete Irene Bühler aus dem benachbarten Herznach, die von einer Leiter zwischen reich behangenen Kirschbaumästen freundlich grüsste – von oben herab im tatsächlichen Sinne. Sie half der Familie Rudolf Zulliger, die 90 gesunde Hochstammbäume ihr Eigen nennt und dadurch ihren Anteil zum Gepräge der Fricktaler Landschaft beiträgt. Auf der anderen Seite der Talmulde sind ausgedehnte, baumlose Äcker, wo früher lockere Obstbaumwälder standen. Die Lage des Zulliger-Obstgartens ist unmittelbar über 420 Höhenmetern, wo der Kaltluftsee regelmässig endet, so dass Frostschäden hier nur selten auftreten.
Rudolf Zulliger nahm unter dem Dach seines Obstgartenhauses, in dem auch Bienen wohnen, genüsslich einen Zug aus der kurzen Bogenpfeife und sagte, für die Zukunft seiner Kirschbäume könne er nicht garantieren, da die Vorschriften immer einschneidender würden. Vielleicht schneide er sie demnächst bodeneben ab.
Er füllte die Kirschen in auffaltbare, bedruckte Gebinde (KIRSCHEN. „Suisse garantie“) ein, in denen 1 kg Früchte Platz finden. Er wog die Kirschen auf einer alten INCA-Balkenwaage, wie sie früher in zahllosen Haushalten üblich war; er habe diese Waage einmal im Alteisen gefunden, sagte der sympathische Pensionär, dem seine nette Frau aktiv zur Seite steht. Auch der Sohn Fredy Zullinger war auf den Bäumen im Einsatz. Er ist ein bekannter Segelflieger und erreichte an der Schweizer Meisterschaft im Segelflug 2009 mit seiner HB-2447 am 05.06.2009 den 5. Rang, wie mir sein Vater erzählte. Bei dem meisterhaften Segelflieger ist die Schwindelfreiheit auch auf Hochstämmen garantiert.
HACCP
Vater Zulliger bezog sich auf die HACCP-Vorschriften (Euro-HACCP und Swiss-HACCP, Hazard Analysis and Critical Control Point), die sich mit der Lebensmittelhygiene befassen und praktisch fliessendes Wasser und feste oder mobile WC-Anlagen in den Plantagen oder in erreichbarer Nähe verlangen. Sie gehen offenbar auf Zustände in Spanien zurück, wo die marokkanischen Ernte-Hilfskräfte in den Plantagen campierten und es mit der Hygiene haperte. Dass die Vorschriften im Rahmen der Globalisierungsgleichschaltung nun aber auch auf die kleinräumigen Schweizer Verhältnisse übertragen werden, veranlasst wegen aufwändiger Installationen manch einen Kleinbauern, sein ohnehin nicht sehr einträgliches Kirschengewerbe aufzugeben.
Vielleicht ist das eines der Mittel zur Vertreibung der kleinen und mittleren Bauern, die zur Schweizer Landwirtschaftspolitik gehört. Sie wird von der schönen Bundesrätin Doris Leuthard akzentuiert fortgeführt und schöngeredet. Während Verteidigungsminister Ueli Maurer die beste Armee haben möchte, strebt sie den schwächsten Selbstversorgungsgrad an. Man kann sich ausrechnen, wie es um die Verteidigungskraft hungernder Soldaten bestellt ist ...
Bei Exkursionen übers Land erfährt man, was die politischen Massnahmen in der Praxis bedeuten und welche Auswirkungen sie haben, wenn sie nicht mit dem genügenden Augenmass mit Blick auf Zusammenhänge und spezielle örtliche Verhältnisse durchgesetzt werden. Mit ähnlichen Normen wurde bereits das Beizensterben beflügelt, und die krankhafte Antiraucher-Manie besorgt noch den Rest.
*
Dass man unter derartigen Umständen gelegentlich einen Kirsch zur Aufmunterung braucht, liegt auf der Hand. Auch das verhilft den Kirschenanbauern zum Überleben, allen Widerwärtigkeiten zum Trotz. Hoffentlich halten sie durch!
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Ein Textatelier.com-Artikel zum Schwarzwälder Kirsch:
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