BLOG vom: 10.07.2009
Der Märchenwald in Baden AG: Nebelmorgen bei den Eiben
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Märchen sind Geschichten mit wunderbarem, fantastischem Inhalt, in denen das Gute und das Böse überzeichnet sind. Sie schrecken vor Wundern ebenso wenig zurück wie vor Grausamkeiten. Viele Märchen spielen in einem Wald; denn ein Wald mit seinen dunklen, manchmal undurchdringlichen Stellen und seinen Geheimnissen bietet eine Kulisse für undurchsichtige Vorgänge, für Ereignisse, die einfach erzählt werden und nicht zu erklären sind.
Nachdem viele Wälder im Interesse einer schnellen und einträglichen Holzproduktion zu Försterplantagen wurden – in wärmeren Erdteilen sind es Eukalyptusbäume, bei uns Fichten –, haben alle Märchengestalten wie Feen, Elfen, Kobolde, Riesen und Einhörner die Flucht ergriffen, und dafür machte sich die Trostlosigkeit breit. Ein Maisacker ist nicht weniger romantisch. Mit einem Wald, der nicht irgendwelche Geister erahnen lässt, stimmt etwas nicht.
In Gebieten, die fürs Forstpersonal mit ihrem schweren Gerät schwer zugänglich sind, finden sich noch heute Märchenwälder, die meistens unter Naturschutz stehen. Einer davon ist der Unterwilerbergwald oberhalb des Badener Quartiers Kappelerhof, den ich bereits im Blog vom 24.05.2009 aufgrund einer Umrundung besungen habe. Und als nach einer kurzen, wohltuenden Regen- und Gewitterperiode am frühen Samstagmorgen, 04.07.2009, noch ein nebliger Dunst über den Aargauer Flusstälern ruhte und der hereinbrechenden Sonne bis gegen 9 Uhr widerstand, machte ich mich zum Badener Märchenwald auf, um die neblig-diffuse Stimmung zu fotografieren. Das Fotografieren ist bei den unterschiedlichen Lichtverhältnissen anspruchsvoll. Wo Nebel für einen gewissen Ausgleich sorgt, wird es erleichtert; Sonneneinbrüche können nette Gegenlichtaufnahmen ermöglichen. Als der Nebel entschwunden war, blies ich in einer Phase von Kreativität, die nahe an eine märchenhafte Innovation reichte, etwas Zigarrenrauch vors Objektiv und erhielt Bilder, die ich dann gleich weggeworfen habe ...
Im Inneren des Eibenwalds
Von Turgi AG heranfahrend, parkierte ich das Auto in der Nähe der Innerortstafel „Baden“ und eilte die mit einem Fahrverbot belegte und als Waldstrasse bezeichnete Unterwilerbergstrasse empor. Etwa 200 m weiter oben mündet in einer Rechtskurve ein Taleinschnitt mit steilen Abhängen in die Strasse. Baumstämme, die in den Jura-Molasseformationen ihren Halt verloren haben, liegen kreuz und quer in den Hängen, an denen sich noch viele Eiben halten können. Hinten, wo ihre dunkelgrünen und teilweise dürren Äste den weiteren Einblick versperren, schaut ein Bunker hervor, der 2 übereinander liegende Augen zu haben scheint, Luken für Beobachtung und Geschütz. Da war fürs erste einmal die gewünschte Stimmung inkl. dem Tüllvorhang aus Morgennebel beisammen – ein kostbarer Florentiner Tüll mit einem unregelmässigen Rankenmuster übrigens.
Ich musste etwas Höhe gewinnen, um zu besseren Fotopositionen zu kommen, stapfte durch morastigen und mit Feuchtigkeit liebenden Pflanzen bewachsenen Boden – und fand zufällig ein kleines, schuhbreites Fussweglein, das in fröhlichen Windungen den steilen Hang hinauf führte, teilweise an fast senkrechten Abgründen entlang. Die Mühen zahlten sich aus. Eiben präsentierten sich in allen Formen und Positionen: gesund, stramm, verdorrt, abgebrochen, als Bäume, als Kriechsträucher mit einem starken, verworrenen Wurzelsystem. Sie fühlen sich offensichtlich unter dem Dach grosser schützender Laubbäume wie Buchen behaglich. Und die Beobachtung wird geschult: Wo immer der Wald seine dunkelsten Stellen hat, sind die Eiben.
Die dunklen Seiten
Das Dunkle ist eine Grundlage des Mysteriösen, Seltsamen. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass Zauberstäbe und Wünschelruten früher aus Eibenholz bestehen mussten – sie dienten beispielsweise zum Auffinden von verlorenen Gegenständen oder zum Schutz vor bösen Geistern.
In der Eibe (Taxus baccata) wohnt beides, das Erwünschte wie das Unerwünschte. Sie ist ein Baum der Trauer und gleichermassen eine Königin der Herzen. Ihre Zweige sind für Rehe ein Leckerbissen, für Pferde und Menschen tödlich. Julius Cäsar berichtet in seinem „Gallischen Krieg“ („De bello gallico“) von Catuvolcus, einem Stammesfürsten der Eburonen (keltischer Volksstamm), der lieber mit Eibengift Selbstmord beging als sich den Römern zu ergeben: „Catuvolcus ... taxo, cuius magna in Gallia Germaniaque copia est, se exanimavit.“ Vielleicht scheiden Eiben ihr Gift Taxin an heissen Tagen aus, so dass sie einen psychedelischen Zustand auslösen. Auch ihre Scheinfrüchte, die bei meinem Besuch noch grün waren und bald einmal rot werden, enthalten dieses Gift.
Aspekte der Wahrnehmung
Die von Pflanzen ausgesandten Düfte widersprechen der Ansicht, die Waldluft sei rein. Eine Fülle feinster Düfte ist darin versammelt, nicht allein der Geruch nach feuchter Erde, wie er vor allem im Sommer auftaucht. Für Pflanzen und Tiere sind Düfte wichtige Orientierungshilfen. Sogar Borkenkäfer riechen und finden die leicht kränkelnden Bäume, die in aufgeforsteten Monokulturen besonders häufig sind. Auch das Wild ortet seine Opfer oder Feinde über den Geruchssinn. Wahrscheinlich finden wir die Waldluft nur deshalb so rein, weil unsere Nase ihre Wahrnehmungslimite bald einmal erreicht hat. Das andere wesentliche Wald-Element sind die Geräusche, der Gesang der Vögel, das Rascheln und Rauschen. Letzteres ist im Unterwilerberg ausgeprägt: Es stammt von der nahen SBB-Linie, rührt vor allem von den vielen Güterzügen her.
Im Wald ist unsere Wahrnehmung überfordert; ich erkenne das besonders in Natur- und Urwäldern immer wieder. Die Bäume, Ausbunde von Energiegeladenheit, die selbst nach ihrem Tod noch leben und Lebensraum bieten, sind, wie es scheint, in beliebigen Kombinationen versammelt. Sie verstricken sich ineinander, suchen gegenseitig Schutz und verdrängen einander, und was alles sich im Boden abspielt, können wir kaum erahnen.
Einblicke und Eindrücke
Als ich dem Fussweg weiter folgte, erreichte ich die Einmündung in einen gelb markierten Wanderweg. Ich folge diesem nach Westen, weil der Nebel dort noch etwas intensiver war, durchstreifte den Eibenwald, der immer weitere Einblicke zuliess, kreuz und quer. Um den Weg freizuhalten, war der Stamm einer vom Wind gefällten Eibe durchsägt worden. Das schwere, rötliche und widerstandsfähige Holz lag offen da. Es ist ein gefragtes Drechslerholz für Wagenräder, Keglerkugeln und auch für Pfähle. Eine Fusswegbrücke im Unterwilerwald ist mit einem Eichenstamm verstrebt. Und an einem Bächlein fand ich fettig glänzende, länglich, lanzettliche Blattbüschel von Hirschzungen (Phyllitis scolopéndrium), die sich mir entgegenstreckten.
Bäume sind Persönlichkeiten, Bestandteile des dynamischen Systems Wald, das seine Kräfte auf alle überträgt, die daran teilhaben wollen, die hier Erbauung und Erholung suchen. Vielleicht sind die Bäume die wirklichen Heiligtümer – schon Hermann Hesse hat das gespürt: „Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiss, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das Einzelne unbekümmert, das Gesetz des Lebens.“
Selbst wenn sie keinen ökologischen Nutzen hätten, müsste man sie verehren, ihre Artenvielfalt schützen – aber ihre enorme Bedeutung für die Biosphäre bis hin zum Wasserhaushalt kommt noch dazu. Die Kelten haben die Eibe als Todes- und Lebensbaum verehrt – ihre bisher weitgehend gering geschätzte Kultur wird jetzt gerade wieder in einer Ausstellung im Historischen Museum Bern neu belebt. Sie mögen uns ein Vorbild sein und uns zur Ehrfurcht vor den Kräften der Natur, die einst selbstverständlich war, zurückführen.
Wer im Schlaf von Bäumen träumt, hat damit laut Carl Gustav Jung das Symbol des Selbst, der Ganzheit und des Wachstums – Menschen und Bäume sind sich näher als man denkt.
Aber suchen die Menschen diese Nähe überhaupt? Während meines fast dreistündigen Spaziergangs im Badener Märchenwald traf ich an jenem Samstagmorgen keinen einzigen Menschen an. Die Leute waren entweder bereits in die Ferien losgefahren (werden sie etwas Ebenbürtiges finden?) oder hatten sich in Konsumtempel zurückgezogen. Dafür hatte der Wald seine Ruhe. Er braucht diese. Mein einsames Klicken dürfte ihn kaum nennenswert gestört haben.
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