BLOG vom: 16.07.2009
Thal: Das Tal, wo die Zeitmessung kaum noch Bedeutung hat
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Als ich nach der Balmbergpass-Überquerung in Welschenrohr und damit im solothurnischen Balsthalertal (Dünnerntal) angekommen war, sprach ich zuerst auf der Gemeindekanzlei vor, die in der 1. Etage eines neueren Hauses mitten im Dorf untergebracht ist. Ich halte es immer so, wenn ich mich für eine Gemeinde interessiere und werde immer sehr freundlich behandelt. So war es auch in Welschenrohr, wo sich eine Angestellte und eine Lehrtochter rührend um mein Anliegen der Informationsbeschaffung kümmerten. Sie deckten mich mit vielen Prospekten ein, die mir den Bezirk Thal, den ich bisher nur vom Hörensagen und Lesen kannte, näher brachten.
So erfuhr ich, dass der Bezirk in den Gebirgszügen des Solothurner Juras (zwischen Weissenstein und Wasserfallen) ein Naturpark von nationaler Bedeutung werden will, in dem ein Gleichgewicht zwischen Natur, Landschaft, Mensch und Wirtschaft angestrebt wird (www.naturparkthal.ch). Vorerst ist das Label „Kandidatur“ erreicht – und offenbar stehen Bevölkerung und Behörden hinter dem Projekt, wie dem Newsletter „Naturpark Thal“ vom Dezember 2008 zu entnehmen ist. Hier sollen sich Menschen, sanfte Touristen und seltene Tiere wie Luchse, Steinadler, Heidelerchen, Auerhühner, Gelbringfalter und auch die Aspis- oder Juraviper (sie gibt es erfreulicherweise noch!) zwischen Orchideenarten, Enzianen, Grenobler Nelken (Fluhnägeli), Flaumigem Seidelbast und Felsen-Bauernsenf (Ravellen-Blüemli) behaglich fühlen. Die Interessengemeinschaft Naturschutz Thal (INT) hat viele Exkursionen auf dem Programm (Anfragen: michael.bur@gmx.ch), zum Beispiel Zugvogelbeobachtungen (Anfang Oktober 2009). Bären gibt es leider nicht mehr; 1649 meldete Hans Heinrich Allemann zu Welschenrohr dem Vogt zu Falkenstein, er habe mit Hilfe der ganzen Gemeinde einen Bären erschossen und erwarte nun nach altem Brauch eine Belohnung. Manchmal ist es gut, wenn alte Bräuche verschwinden.
Auf die Frage, was ihm am Naturpark Thal gefalle, sagte Bernard Staub, Leiter des Amts für Raumplanung des Kantons Solothurn laut dem erwähnten Newsletter: „Toll ist, dass ich auf jeder Wanderung eine intakte, stille Naturlandschaft erlebe, aber dann gleichzeitig auf fast jedem ,Hoger’ die Möglichkeit habe, in eine gemütliche Besenbeiz einzukehren. Und wenn ich will, kann ich noch einen Besuch in einem Thaler Museum machen. Dabei gefällt mir das Museum Haarundkamm (in Mümliswil) besonders. Es ist in seiner Art eine nationale Exklusivität.“
Üppige Uhrengeschichte
Ergänzend ist dem beizufügen, dass es im Thalhof in Welschenrohr noch ein Uhrenmuseum gibt, das jeden Mittwochnachmittag und jeden 1. Sonntag im Monat jeweils von 15 bis 17 Uhr geöffnet ist, eine Institution des Vereins der Freunde der Thaler Uhrmacherei. Eine Broschüre „Fleissige Hände“ gibt Auskunft über die Uhrenindustrie in Welschenrohr und im Thal, die bis in die 1970er-Jahre dort eine tragende Bedeutung hatte.
Der wahrscheinlich 1. Welschenrohrer Uhrmacher war Urs Gunzinger (1723‒1782), der Welschenrohr zum ältesten Uhrmacherdorf im Kanton Solothurn machte. Seine berühmte Wanduhr von 1745, das „Welschenrohrer Zyt“, ist auf der Gemeindekanzlei zu bestaunen. 1891 wurde die 1. Uhrenfabrik („Rosetta“) erbaut. Sie musste 1896 den Konkurs anmelden. Heute steht dort ein Wohn- und Geschäftshaus mit dem gleichen Namen (50 m ostwärts).In der Folge wurden in Welschenrohr auch viele Taschenuhren mit Metall- und insbesondere mit Silbergehäusen angefertigt. Der Betrieb von Gunzinger beschäftigte während des 1. Weltkriegs über 150 Personen. 1918 wurde eine neue Fabrik gebaut. Im Dorf waren 400 Personen in der Uhrenindustrie beschäftigt, bis es nach 1920 zur grossen Krise und zu einem Preiszusammenbruch kam. Nach dem 2. Weltkrieg zeigten die Zeiger wieder nach oben. Die berühmtesten Namen waren Josef Gunzinger, Walter Racine und die Firma „Tourist“ der „Adolf Allemann Fils“. Gunzinger, der „Tourist“ übernommen hatte, führte 1962 Lanco-Montagebänder für die Serienproduktion für die Marke „Technos“ ein. Strukturveränderungen wie die Ablösung der Roskopf- und Stiftankerproduktion sowie der Ankeruhren durch elektronische Quarz-Uhren aus Japan waren verschlafen worden, wohl weil man an die Kraft des Bewährten, qualitativ Hochwertigen glaubte. Das führte 1980 zum Ende des Welschenrohrer Uhrmacher-Jahrhunderts, was auch grosse soziale Veränderungen bewirkte.
Die Uhrengeschichte war viel breiter als hier zusammengefasst wiedergegeben worden ist. In der Uhrenbroschüre berichten Urban Fink und Erhard Meister kompetent über folgende Betriebe: TECHNOS Welschenrohr, TECHNOS Schweiz (Oensingen/Marin/TECHNOS Brasilien), TOURIST Welschenrohr, ROSEBA Welschenrohr, DONADA Welschenrohr, Terminage-Atelier Manfred Uebelhart Welschenrohr, CANDINO Herbetswil, CHOISI Herbetswil, MATINA Aedermannsdorf, TEMPUS Matzendorf, POLOS Laupersdorf, COBAL Balsthal, TEGRA/ILONA Balsthal, MENTOR Holderbank SO, und zudem gab es im Thal auch Filialbetriebe von auswärtigen Uhrenfabriken. Ein richtiges Uhrmacherei-Nest.
Auch in der Broschüre „welschenrohr“ (www.welschenrohr.ch) ist der Uhrenindustrie der gebührende Platz eingeräumt, ebenso der Natur. Der Ortsname Welschenrohr (Rosières = französisch: Röhricht) deutet auf die Nähe zum Welschland (Romandie) hin, zudem zum Rohr (althochdeutsch: rôr“): ein sumpfiges Gebiet mit Schilf- und Binsenbeständen. Die 1. urkundliche Erwähnung datiert vom 27.02.1179, als Papst Alexander III. dem Chorherrenstift Moutier-Grandval die Besitzungen bestätigte: „Villam de Rore cum capella et maiore parte decimarum“ („Dörfchen Rore mit Kapelle und dem grössten Teil des Zehnten“). 1569 verkaufte das Kloster Moutier-Grandval Welschenrohr an Solothurn. Die Gemeinde, die 700 m ü. M. liegt, zählt heute rund 1150 Einwohner. 8 verschiedene Wasserbezugsorte speisen die Welschenrohrer; den Wasservorkommen ist eine spezielle Broschüre von Walter Schmid gewidmet („Wasserversorgung Welschenrohr 1805‒1993“). In der Gemeindekanzlei ist ein Dünkel (hölzernes Wasserrohr) aus der Wende zum 19. Jahrhundert an die Wand genagelt.
Wander-Eldorado
Die waldreiche Umgebung des „Rosinlitals“, von dem der Volksmund spricht, ist zum Entdecken beim Wandern wie gemacht. Carl Spitteler war häufig im Balsthalertal, und er hat die Gegend in die Weltliteratur eingeführt. Hinauf zum Balmberg dauert es 1 Stunde und 10 Minuten. Östlich des Dorfs habe ich in einem wild-romantischen Gebiet einen Wegweiser zur Wolfsschlucht gesehen, die ich mir aber für später aufsparte, da bei meiner Exkursion vom 08.07.2009 gerade ein Platzregen niederging.
Welschenrohr ist Ausgangspunkt für Wanderungen auf die Weissensteinkette mit Weissenstein, Balmberg und Schmiedenmatt und auch Hauensteinkette mit Malsenberg, Hinter Brandberg, Mieschegg und Tannmatt. Auf der 2. Jurakette (Hauensteinkette) ist unter dem Titel „Juraweg Thal“ ein dichtes Wanderwegnetz markiert, an dem 57 Informationstafeln Wissenswertes über die Region Thal vermitteln (www.jurawegthal.ch).
Durchs Tal Thal
Ich fuhr dann durchs Thal (Bezirk Thal) abwärts, machte Abstecher zu den gepflegten Dörfern Herbetswil, Aedermannsdorf, Matzendorf und Laupersorf mit den vielen währschaften Gasthöfen, die jedem Ansturm gewachsen sind. Besonders auffallend war die Sankt-Pankratius-Kirche von Matzendorf am Fusse der Brunnersbergkette an exponierter Lage westlich des Dorfs. Der seitliche Käsbissenturm überragt knapp einen Rahmen aus grossen Linden, deren Blüten einen herrlichen Duft verströmten, und sogar im Innern des Gotteshauses war nichts von jenem gruftig-muffigen Duft zu verspüren, der mich üblicherweise möglichst bald wieder aus den Kirchen an die frische Luft vertreibt. Die 1520 erbaute und 1781 vergrösserte spätgotische Kirche mit den 4 Säulen gegen Westen und den Fresken im Inneren steht ausserhalb des Dorfs und ist rundum von Lindenbäumen wunderbar eingerahmt. Das gefiel mir.
Neben der Kirche blühte eine wuchtige Yucca gloriosa in Weiss, deren Heimat das südwestliche Nordamerika ist. In vielen Privatgärten des Thals habe ich diese Kerzen-Palmlilie mit dem fast 1 m hohen rispigen Blütenstand aus der Familie der Agavengewächse ebenfalls gesehen, was auf ein mildes Klima hindeutet.
Über Balsthal und die Klus, ein Jura-Quertal, unterhalb der Burg Alt-Falkenstein („Kluser Schloss“) auf dem schroffen Felsen, heute ein Heimatmuseum, reiste ich ins Mittelland zurück. Das Zentrum eines Verkehrskreisels dient in Balsthal der Werbung für den Naturpark Thal in einem versteckten Stück Schweiz, in einem Tal namens Thal, das zu Höherem strebt und für das ich mir ein nächstes Mal viel Zeit einräumen will, ohne ständig auf meine Armbanduhr mit Ankerwerk zu schauen. Das Thal hat sich von der Zeitmessung in der letzten Zeit weitgehend verabschiedet – und damit offensichtlich auch von der Eile.
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