BLOG vom: 24.07.2009
Grenzgänge zwischen Albbruck D, Schwaderloch CH, Athen
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Eigentlich wollte ich auf der rechtsrheinischen Fahrt von Waldshut nach Laufenburg (also auf deutscher Seite) nur schnell die Zeitungspapierrollenberge bei der Papierfabrik (MD) Albbruck (gehört zur Myllykoski-Gruppe) fotografieren, einer spontanen Eingebung folgend. Seit 1882 wird dort Papier hergestellt – noch älter war die 1684 aufgenommene Eisenverhüttung.
Wie die Säulen in Luxor standen die Papierrollen da. In meinem früheren Zeitungsmacher-Beruf bin ich oft solchen von braunem Packpapier umwickelten Walzen aus einem langen und breiten Papierstreifen begegnet, den wir lustvoll vollgeschrieben haben, allerdings über einige Umwege und mit Hilfe der vervielfältigenden Drucktechnik. Ob die Zeitungspapiertürme, die unter einem eleganten Dach an der frischen Luft der kommenden Bedruckungsvorgänge harren, das normale Lager oder aber ein Zeichen für den schleppenden Papierabsatz sind (die Zeitungen leiden an Auszehrung, umfangmässig und geistig), vermag ich nicht zu beurteilen.
Die voluminöse Papierfabrik, durch die Strasse E34 vom Rhein-Seitenkanal getrennt, beschäftigt rund 630 Personen und produziert pro Jahr etwa 300 000 Tonnen holzhaltige Druckpapiere, die „just in time“ abgerufen werden können. Die Stangenhölzer, die in der Umgebung auf hohen Beigen auf die Umwandlung warten, wurden gerade mit Wasserfontänen feucht gehalten; der tagelange Regen war am 19.07.2009 wieder abgeklungen.
An Wasser fehlte es diesem Industrieunternehmen noch nie. Vor dem Haus fliesst der in 2 Teile gespaltene Rhein, und daneben steuert die Alb aus dem wildromantischen Albtal, das Viktor Scheffel besungen hat, in einem nach geometrischen Grundsätzen konstruierten Bogen dem Rhein zu. Und wo viel Wasser ist, gibt es meistens auch ein Kraftwerk, so auch genau an jener Stelle: Das Rheinkraftwerk Albbruck-Dogern (RADAG) ist das erste Werk unterhalb des Zusammenflusses von Aare und Rhein. Es ist zwischen 1929 und 1933 entstanden und wurde in den letzten Jahren mit rund 70 Mio. Euro erneuert. Das Wasser kommt von einem trostlos anmutenden Rheinkanal, der mehrere Meter über der Talsohle angelegt ist. Auf der Höhe der Ortschaften Dogern und Leibstadt wurde der Rhein bis auf 11 Meter Höhe aufgestaut. Der Stauraum ist 12 km lang und reicht bis zum Schweizer Kraftwerk Klingnau. Entsprechend der unterschiedlichen Uferlängen fallen 54 % des Stroms für die Schweiz und 46 % für Deutschland ab.
Fussgängersteg über die Grenze
Vom Parkplatz beim Kraftwerk stiegen wir, Eva und ich, vorbei an herzhaft blühenden Waldplatterbsen, über eine verwahrloste, grüne Metalltreppe („Begehen auf eigene Gefahr“) hinauf auf den Damm, wo Thymian, Bibernelle, viele Gräser, Sumpfschafgarben usf. wachsen und funktionslose Eisenbahnschienen in den Radfahrer-tauglichen Asphaltweg eingebaut sind. Ein rundlicher, halbkugelig gewölbter Köfer (Chaetarthria seminulum), der meines Wissens nicht einmal einen deutschen Namen hat und sich gern an nassen Ufern aufhält, kreuzte unseren Weg und war vom Asphalt kaum zu unterscheiden.
Rund 500 m oberhalb des Kraftwerks dient eine befahrbare Brücke als einer der Zugänge zum Kraftwerk. Sie führt aber auch zum Rhein-Hauptlauf hinüber, der hier ohne geometrisches Korsett Bestandteil einer schönen Auenlandschaft ist und die Landesgrenze Deutschland‒Schweiz bildet. In diesem Gebiet wurde 1876 eine Fährlinie über den Rhein eröffnet. Die Insel zwischen den beiden Rheinarmen ist ein offensichtlich beliebter Erholungsraum.
Den nicht begradigten Rhein auf der Seite zur Schweiz überspannt ein Trog-artiger, leicht nach oben gewölbter Fussgängersteg („Steg Schwaderloch“), der Ausblicke in die prächtige Auenlandschaft mit ihren Silberweiden, Eschen, Erlen, Schwarzpappeln usf. bietet. Mitten auf dem Steg steht ein Metallportal quer im Weg, umgeben von einem Kranz von Stacheln, die stilrein mit Stacheldraht umwickelt sind: Die Landesgrenze Deutschland‒Schweiz. Die beiden Metalltüren sind offen; man darf frei zirkulieren – wenn man will, bis nach Schengen ... wo die politischen Grenzöffner wirkten. Mit anerkannten Reisedokumenten und Waren innerhalb der Freimengen und der Wertfreigrenze ist der Übertritt jedermann erlaubt.
Wie am deutschen, so steht auch am schweizerischen Ufer ein im Zerfall begriffenes Zollhäuschen, dessen bemoostes Ziegeldach offenbar bei den jüngsten Gewitterstürmen neue Schäden erlitten hat. Schade, dass dieses zollgeschichtliche Denkmal auf Schweizerboden offenbar dem Lauf aller Dinge überlassen wird. Neben ihm befindet sich ein zuckerstockförmiger Bunker mit einem kleinen Fenster gegen den Steg und damit zum Grenzübergang, ein miniaturhaftes Ensemble, das an Zeiten der Unsicherheiten erinnert. Der Erhalt dieser Grenzschutzanlage wäre meines Erachtens zwingend; denn schliesslich ist sie doch so etwas wie eine Nachfolgerin des Turms der alten römischen Grenzbefestigung, der hier einst stand. Neben Wachttürmen gab es in dieser Gegend auch Kastelle (befestigte Militärlager), wie die Historiker aus einer Inschrift aus dem Jahr 371 wissen.
In Schwaderloch
Und so sind wir dann in der Aargauer Gemeinde Schwaderloch gelandet, worauf eine Informationstafel aufmerksam macht und gleich in die Geschichte einführt: „Erste stumme Zeugen aus der Dorfgeschichte von Schwaderloch sind Funde aus dem 4. Jahrhundert nach Christus. Beim Bau der Eisenbahnlinie Koblenz‒Stein fand man eine in Stein gehauene Inschrift. Demzufolge sind in dieser Gegend zur Zeit des römischen Kaisers Valentinian (364‒375 n. Chr.) Burgen zum Schutz gegen den Einfall der Alemannen erbaut worden. Weitere Funde sind römische Münzen, Schnallen und Bruchstücke von Tongeschirr aus jener Zeit.
Die ersten Einwohner waren zweifellos vorwiegend über den Rhein eingewanderte Alemannen. Sie standen schon früh in direkter Beziehung zur Freiherrschaft Bernau, deren Knechte und Kohlenbrenner sie waren. Von da her stammen die Familiennamen Knecht und Kohler, die zusammen mit anderen Geschlechtern wie Hug, Vögeli, Häusler und Kalt zu den ältesten zählen. Später gehörte die Gemeinde Schwaderloch zur vorderösterreichischen Grafschaft und unterstand der Gerichtsbarkeit der Freiherren von Roll zu Bernau.“
Der Landbau spielte in Schwaderloch schon immer eine wichtige Rolle, zumal der ebene Boden hier zweifellos ausserordentlich fruchtbar ist. Ausladende Äcker nutzen diese Schwemmebene, und dahinter dampft der Kühlturm des Kernkraftwerks Leibstadt – eine weitere Stromproduktionsanlage. Sogar Lamas finden hier ihr Auskommen. Dahinter schmiegt sich das Dorf Schwaderloch an den Fuss des intensiv bewaldeten Wisstannenchopfs an.
Beim Lein
Eine Attraktion war für mich ein riesiges Leinfeld, in dem die ersten blauen Blüten aufgingen. Bemerkenswerterweise wird dem Lein (Flachs) seit dem 1. Weltkrieg nicht mehr auch nur im Entferntesten jene Aufmerksamkeit zuteil, die er verdienen würde – als Heil- und Lebensmittel sowie als Textilfaser. Die Samen enthalten 33 bis 43 % Öl, und der Stängel liefert die Bastfasern zum Weben von hochwertigen und manchmal rustikalen Leintüchern.
Das Leinöl, ein wesentlicher Teil von Ölfarben und Linoleum, ist zudem von höchster gesundheitlicher Bedeutung. Es gilt wegen seines hohen Anteils Omega-3-Fettsäure (Alpha-Linolensäure) als das gesündeste Speiseöl für die kalte Küche überhaupt, hat aber nur eine sehr begrenzte Haltbarkeit. Leinöl funktioniert als berühmter Cholesterinsenker (man sollte täglich 1 bis 2 Esslöffel davon geniessen). Eine Ölmühle befindet sich im nahen Tegerfelden AG (Pflanzenöl.ch AG, Hardhof).
Neben dem Leinacker werden im grossen Stil Buschbohnen und dahinter Sonnenblumen angebaut. Ein jämmerliches Schicksal erlitten gerade die Kirschen am unteren Dorfeingang, die auf den Bäumen hinter einem Stacheldrahthag aufsprangen und faulten. Manchmal ist es in der Schweiz so, dass man nach dem alten Vorbild von Walliser Tomatenbauern die Früchte lieber vernichtet oder zugrunde gehen lässt statt sie dem Publikum günstig zugänglich zu machen. Damit der Preis nicht einbreche, wurde im Aargau sogar ein Kirschenpflück-Stopp erlassen ... unglaubliche Vorgänge, die von einer mangelnden Wertschätzung von Naturprodukten zeugen. Bei mir kommt es immer wieder vor, dass ich diese Welt nicht verstehe.
Von der Rheingasse in Schwaderloch aus, wo auch das Abwasserpumpwerk und das Haus des Pontonier-Fahrvereins sind, lässt sich an verschiedenen Stellen das sandige Rheinufer erreichen – eine herrliche Auenlandschaft. Der vom Hochwasser gezeichnete, bräunlich-graue Fluss wand sich durch ein üppiges Grün, am Ufer überdacht von geneigten Silberweidenästen, die sich über dem Wasser verneigten.
In Laufenburg
Wir kehrten zum Papierfabrik-Parkplatz zurück und fuhren, dem Rheinlauf abwärts folgend, nach Laufenburg – und zwar über die neue, 2004 eröffnete Rheinbrücke, die sich knapp 1 km östlich der Altstadt befindet. Sie war 2003 zum Gespött geworden, weil die Deutschen und die Schweizer von unterschiedlichen Pegeln (Referenzhorizonten) ausgegangen waren (dem Triester bzw. Amsterdamer Pegel, die sich aufs Mittelmeer einer- und die Nordsee anderseits beziehen). Die Höhendifferenz von 27 cm wurde auch noch auf die falsche Seite korrigiert, so dass die Höhendifferenz endlich 54 cm betrug und schon fast eine Treppe hätte eingebaut werden müssen ... Die Panne wurde behoben.
Laufenburg entstand dort, wo der Rhein nach dem Ausfliessen aus dem Bodensee zwischen Tafeljura und Schwarzwald im roten Gneis seine engste Stelle hat (12 m) und einknickt. Das hier zwischen 1908 und 1912 erbaute Kraftwerk mit seinem Stauraum begrub das grandiose Schauspiel der Stromschnellen unter sich, die Lachsen und Schiffern die Passage verunmöglicht hatten; diese „Laufen“ (Lauffen, Louffen) haben dem Ort den Namen gegeben. Die Fischer erfreuten sich hier ausgezeichneter Jagdgründe.
Wir machten einen Spaziergang durch Gross-Laufenburg (CH) mit seinen vielen Türmen und betrachteten von hier aus die dem Rhein zugewandte, romantische Fassade von Klein-Laufenburg D; eine Brücke stellt die Verbindung über den Rhein und damit über die Landesgrenze her.
Kaum an einem anderen Ort sind die gesellschaftlichen Hierarchien so deutlich in die Architektur bzw. die Stadtgestaltung eingeflossen wie in Laufenburg AG: Ganz oben auf dem Schlossberg ist die Ruine der einstigen weltlichen Macht, der Habsburger. Diese Episode wurde 1797 beendet, als das Fricktal nach dem Frieden von Campo Formio ein französisches Protektorat und 1801 im Frieden zu Lunéville der Helvetischen Republik zugeschlagen wurde. Hier verlief die Frontlinie zwischen den Armeen Österreichs und Frankreichs. Laufenburg wurde in 2 Teile zerlegt, der Rhein zur Landesgrenze erklärt, wobei aber nach wie vor enge Beziehungen zwischen den beiden Teilen gepflegt werden, über ein gemeinsames Brauchtum hinaus. Napoléon Bonaparte, der die Gebiete aufteilte, löste den Kanton Fricktal auf, und Laufenburg CH kam als Hauptort des gleichnamigen Bezirks zum neuen Kanton Aargau.
Etwas tiefer unten, unterhalb des Bergfrieds, folgt die kirchliche Macht, repräsentiert durch die katholische Pfarrkirche St. Johann. Sie wurde in der Mitte des 15. Jahrhunderts erstellt, und deren Innenraum, der gerade zugeschlossen war, zählt zu den schönsten Schöpfungen der Spätgotik im Aargau. 1750‒1753 konnte die Kirche der Barockisierung durch Johann Michael Hennevogel (Stuck) und Anton Morath (Deckenbilder) nicht entgehen. Und darunter folgen die Herrenhäuser und die schlichten Bürgerhäuser, oft mit Sprossenfensterläden, welche das Bild der engen und oft steilen Längs- und Quergassen prägen; sie sind von der Kirche aus über 2 gedeckte, breite Treppen mit Ziegeldächern zu erreichen. Die meisten Altstadtbauten sind schmal, traufständig, 3- bis 4-stöckig und besitzen Aufzugslukarnen, die auf enge Treppenhäuser schliessen lassen. Hier gab es kaum ein Schmuckbedürfnis zur Repräsentation. Auch die wuchtigen, 12-eckigen Brunnen sind auf das Wesentliche reduziert.
Die Altstadt ist schön erhalten, Ausdruck einer Wertschätzung für das Überlieferte. Bei wenigen Häusern, die am Verlottern sind, ist die Renovation im Gange oder geplant. Die Altstadt ist seit 1972 ein Denkmalschutzobjekt von nationaler Bedeutung – und dies verpflichtet. Dass die Verpflichtung wahrgenommen wurde, belegt die Auszeichnung von Laufenburg mit dem Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes (1985).
Bei den Griechen
Inzwischen hungrig geworden, überquerten wir die alte Rheinbrücke (Laufenbrücke) am unteren Altstadt-Ende, die auf CH-Seite gekiest und in Deutschland gepflastert ist, womit die nationalen Unterschiede augenfällig werden – jeder Staat konstruiert die Bodenbeläge eben auf seine Weise, und das erhöht die Vielfalt. Wir kehrten im ufernahen Aussenrestaurant des Gasthauses „Athen“ beim Zollplatz ein, das griechische Spezialitäten anbietet.
So konnten wir uns den Flug nach Griechenland sparen und wählten Gyros und Lammkoteletten bzw. Lammfilets mit frittierten Kartoffelscheiben, Reis und Quarksauce auf einem grünen Blatt (13,5 Euro). Beim Gyros handelt es sich wörtlich um einen gedrehten Grillspiess; aber auch das Gericht aus Schweinefleisch trägt im griechischen Kulturraum diesen Namen. Auf einem Berg aus ausserordentlich schmackhaften Schweinefleischstücken thronte das Lammfleisch. Dieses war mit getrocknetem, pulverisiertem Oregano, das der Kellner aus Wildfängen in seinem Heimatland mitgebracht hatte, angenehm und typisch gewürzt. Wir tranken dazu ein offenes Rothaus Pils aus dem Schwarzwald – in Deutschland gibt's nicht nur gutes Essen, sondern auch hervorragende Biere: Polí oréo (sehr gut), wie die Griechen sagen.
Da ich ja meine Chauffeuse bei mir hatte, krönte ich das Festmahl mit einem Ouzo und freute mich am Anis- und Fenchel-Geschmack.
Dieses Grenzpendeln Schweiz‒Deutschland‒Schweiz‒Deutschland‒Schweiz-Deutschland‒Schweiz mit einem kulinarischen Abstecher nach Griechenland genossen wir kolonnenfrei zu jener Zeit, als viele Touristen vor der Gotthardröhre ihre kostbare Ferienzeit verplämperten. Und etwas Griechisch haben wir auch in Laufenburg D lernen können: Auf den Papierservietten des „Athen“ ist ein kleiner Sprachkurs aufgedruckt. Gute Nacht heisst Kaliníchta.
Im eigenen Bett schliefen wir anschliessend besser als im Stau.
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