BLOG vom: 16.09.2009
Bundesratswahl CH 2009: Burkhalter gewährleistet Stabilität
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
In der Schweiz war eine Bundesratsersatzwahl anstelle von Bundesrat Pascal Couchepin (FDP) fällig. Der Abtretende war laut der Nationalratspräsidentin Chiara Simoneschi-Cortesi ein „animal politique“, ein politisches Alphatier, das eine Zeitlang von Christoph Blocher (SVP) im Zaune gehalten wurde. Als Gesundheitsminister gelang es Couchepin nur sehr beschränkt, den sich ständig aufblähenden Betrieb im Krankheitswesen zu bändigen. Im Moment sind gerade rekordverdächtige Anstiege der Krankenkassenprämien für 2010 angekündigt, Resultat ansteigender Krankheitskosten und weil selbst viele KK-Vermögensverwalter auf kranke US-Papiere hereingefallen sind.
Und nun musste also ein Ersatz für Couchepin gefunden werden. Die Freisinnig-demokratische Partei der Schweiz (FDP) stellte 2 Kandidaten zur Auswahl: Didier Burkhalter (Neuenburg) und Christian Lüscher (Genf), weil es wieder ein Romand sein sollte/musste. Die CVP wollte ihren 2. Bundesratssitz wieder zurückerobern, den sie bei der Abwahl von Ruth Metzler am 10.12.2003 verloren hatte, und sie schickte den Freiburger Ständerat Urs Schwaller als Sprengkandidaten ins Rennen. Dies hätte der Bundesbehörde einen leichten Linkstrend gegeben, wobei die schwammige, lavierende CVP-Politik allerdings schwer ins Links-Rechts-Schema einzuordnen ist. Dazu gehört auch, dass Schwaller als „Mann des Ausgleichs“ gefeiert wurde, trotz des verpuffenden Sprengstoffs, mit dem er sich ausgerüstet hatte. Das sind halt so die CVP-Zweideutigkeiten.
Vorspiel ausser Rand und Band
Im Vorfeld der Wahl des 112. Bundesrats im 4. Wahlgang, bei welcher Didier Burkhalter herauskam, wurde während Monaten ein überdimensionierter Medienzirkus aufgezogen. Journalisten und Politiker übten sich in Spekulationen und outeten und vergaloppierten sich als Allerweltsstrategen; Sondersendungen wurden abgespielt, und Polit-Experten feierten ihre hohe Profilierungszeit, obschon das Ergebnis der Wahl leicht vorauszusehen war, zumal geheimnisumwitterte Zauberkunststücke rund um die Zauberformel diesmal eine minime Rolle spielten – die Ausgangslage war durchschaubar: Weil die SVP dem CVP-Kandidaten keine Stimme gab und sich die FDP ohnehin auf ihr eigenes Kandidatengut kaprizierte, kandidierte Schwaller auf verlorenem Posten. Da diesmal keine Aktionen aus dem Hinterhalt zu befürchten waren und die Transparenz von allen Parteien eingehalten wurde (Hintertreppenaktionen und Spielchen kommen in der Schweiz nicht gut an), war die ganze Aufregung umsonst. Aufregungen bedeuten eben auch Spannung, und Medien leben ja weitgehend von inszenierten Events, besonders zu Zeiten der Wirtschafts- und Inseratenflauten. Der von der Krise besonders betroffene „Tages-Anzeiger“ verstieg sich gar zum aufmüpfigen Titel: „Es wird ultraspannend“, was natürlich ultraübertrieben war.
Intermezzo mit Dick Marty
Ein Überraschungseffekt ergab sich anfänglich durch die verhältnismässig hohe Stimmenzahl, welche Tessiner FDP-Ständerat Dick Marty (64-jährig), Rechts- und Wirtschaftsberater, als „wilder Kandidat“ erhalten hatte, der sich dann aber zurückzog und dabei die Bedeutung des Tessins in der Schweizer Politik betonte. Die Stimmen stammten von jenen National- und Ständeräten, die sich mit keinem der 3 offiziellen Kandidaten anfreunden mochten. Marty ist ein glaubwürdiger Politiker, der zum Beispiel als Ermittler im Auftrag des Europarats illegale Aktivitäten des US-Geheimdiensts CIA in Europa aufdeckte: Überführungsflüge und Geheimgefängnisse in Polen und Rumänien, und er warf vielen Ländern vor, die Augen vor den kriminellen US-Aktivitäten zu verschliessen. Zudem forderte er „ein Minimum an Transparenz und das Recht auf Verteidigung“ für die Terrorverdächtigten; schliesslich kann ein blosser Verdacht nicht genügen, um ein Menschenleben zu zerstören. Das ist Rechtsverwilderung, heute gang und gäbe.
Das FDP-Kandidatenduo
Von den beiden FDP-Kandidaten ist Burkhalter (* 1960) der ruhigere, alles andere als ein Showmann, sondern ein unauffälliger, sicher seriöser Schaffer, auf Konsens bedacht und jedem Personenkult abhold. Er ist wirtschaftsfreundlich und gewährleistet ein Stück Schweizer Stabilität – und genau das ist es, was dem Land zu Ansehen und Erfolg verhalf und was in dieser beunruhigten Welt mehr denn je nötig ist. Diese Feststellung bezieht sich auf Grundsätze, nicht auf die Korrektur von Fehlentwicklungen wie im Krankheitswesen, das nicht mit Wirtschaftsfreundlichkeit zu lösen ist, oder wie in der Aussenpolitik. Die Neuenburger feierten Burkhalters Wahl mit einem Schluck Absinth aus dem neuenburgischen Val de Travers – ich auch, füllte das Glas aber nicht bis zum oberen Rand.
Der Rechtsanwalt Christian Lüscher (*1963), Hobby-Schauspieler, ist eine intelligente, schillernde und wendige Persönlichkeit, die zweifellos mehr Medienfutter geliefert hätte – wie wegen seines Seitensprungs mit der Ex-Miss Schweiz, Lolita Morena. Die SVP setzte anfänglich auf ihn, weil er ihrer Haltung in der EU-Frage (gegen Beitritt) und in Bezug auf einfältige Einsätze der Schweizer Armee im Ausland offenbar näher als Burkhalter steht. Offenbar lehnt Lüscher zwar einen EU-Beitritt ab, aber in Armeefragen sprach er sich bisher für eine internationale Zusammenarbeit aus, was zu denken gibt. Anschauungsunterricht darüber, wohin beispielsweise die Einbindung in US-gesteuerte Organisationen wie die Nato führen kann, liefert im Moment Deutschland (Afghanistan). Man wird sehen, was sich diesbezüglich im Bundesratsseptett mit Einbezug Burkhalters ergibt. Zum guten Glück gibt es in der CH-Politik genügend Korrekturmechanismen für Ausrutscher. Ein Beispiel dafür wurde sogleich geliefert: Gerade nach der Bundesratswahl hat der Nationalrat mit 103:84 Stimmen die so genannte "Atalanta"-Vorlage verworfen. Sie sollte die Grundlage dafür schaffen, dass die Schweiz am Horn von Afrika hätte auf Piraten-Jagd gehen können. Vor solchen militärischen Einsätzen muss die neutrale Schweiz ihre Finger lassen und ihre Kräfte für humanitäre Taten reservieren. Sie sollte zudem dafür sorgen, dass den Somaliern nicht länger die Fische von den Seefahrtsnationen weggefangen und weggefressen werden und somit aus den Piraten wieder anständige Fischer werden können. Die Vorlage geht nun an den Ständerat zurück, der hoffentlich einsichtig wird.
Die Lösung solcher und anderer Fragen unter Neutralitäts- und Unabhängigkeitsaspekten ist wichtiger als ablenkendes Dauer-Vergnügen, wobei ich den Stellenwert guter Unterhaltung sicher nicht verkenne. Doch versuchen die Medien unter dem vermeintlichen Quotendiktat ohnehin zunehmend, die Politik in eine permanente, seichte Unterhaltungsaktion umzufunktionieren. Und das ist eine grosse Gefahr für die Demokratie und die Politik, welche die anstehenden Fragen mit Fachkompetenz, Tiefgang sowie Voraussicht und nicht auf der Grundlage im Umfeld von publikumswirksamem Klimbim lösen muss beziehungsweise sollte.
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Diese Bundesratsersatzwahl vom 16.09.2009 verlief bilderbuchmässig, und das Resultat befriedigt einigermassen unter dem Aspekt, dass Politik nicht mehr als die Kunst des Möglichen sein kann. Es ist schon viel, wenn sie sich diesem Möglichen wenigstens annähert. Soweit als möglich ...
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