Textatelier
BLOG vom: 19.09.2009

Koblenz AG: Von Flüssen, Brücken, Bahnen, Schiffen, Fähren

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Wer von Koblenz spricht, muss präzisieren, ob er das aargauische oder deutsche Koblenz (Rheinland-Pfalz) meint. Der gleich lautende, aus der lateinischen Sprache abgeleitete Name Confluentia bedeutet Zusammenfluss. In Koblenz AG treffen sich Aare und Rhein, in Koblenz D mündet die Mosel in den Rhein. Und so kann es schon einmal vorkommen, dass jemand eigentlich nach Koblenz an der Mosel wollte und irrtümlicherweise im Aargau landet. Dass dies tatsächlich passiert ist, habe ich aus der denkbar zuverlässigsten Quelle persönlich erfahren: von Frau Gemeindeammann Heidi Wanner, eine charismatische, reife Dame in den besten Jahren und voller Tatendrang. Nach den Sitzungen des Gemeinderats (Exekutive) kehre die Behörde jeweils ein („mir göhnd eis go zieh“), sagte sie. Dabei habe sie einmal eine Gruppe ziemlich betrunkener Touristen angetroffen, die zu einem Rolling-Stones-Konzert in Koblenz D reisen wollten und sich nach Koblenz AG verirrt hätten. So rollen die Fans der Rock-Urgesteine manchmal eben an den falschen Ort.
 
Möglicherweise aber haben sie sich in Koblenz wohl gefühlt, denn Flüssiges ist dort keine Mangelware, und Aare und Rhein haben dem Ort zu manch einer Attraktion wie dem ältesten Bahnviadukt zwischen Chur CH und Mainz D verholfen – er ist jetzt genau 150 Jahre alt. Industriell ist die Gemeinde von Stoll Giroflex AG und seinen berühmten Sitzgelegenheiten geprägt. Das einstige „rote Nest“ Koblenz ist inzwischen viel farbiger geworden, wie Frau Wanner betonte. Stoll Giroflex stellt zirka die Hälfte der Arbeitsplätze; in der Gemeinde leben knapp 1600 Einwohner, am fliessenden Wasser 319 m über Meer.
 
Wir (mein Bruder Rolf und die Ehefrauen Alice und Eva) hatten am Europäischen Tag des Denkmals (www.hereinspaziert.ch) vom 12.09.2009 das richtige Koblenz erwischt – jenes am Treffpunkt von Aare und Rhein. Dort wurde das Thema „Flussschifffahrt und Eisenbahn“ auf angenehme Weise zelebriert. Rund eine Stunde vor Beginn der Exkursion fanden wir uns beim alten Lokdepot Koblenz an der Gütschhalde 1 am Fusse des Frittel genannten Hügels (schräg gegenüber dem Bahnhof) ein, um dieses zu besichtigen (www.lokdepot-koblenz.ch). Es handelt sich um denkmalgeschützte, etwa 150 Jahre alte Zweckbauten mit Satteldach, in die Bahngeleise führen. Drinnen sind Ausstellungsstücke aus der Eisenbahnregion Koblenz und Draisinen anzutreffen. Ein Mitglied des seit 1995 aktiven Vereins Draisinen Sammlung Fricktal DSF, www.draisine.ch) war gerade dabei, die Ober- und Unterarme bzw. die Wippe des Scherenstromabnehmers einer elektrischen Oldtimer- Lokomotive mit Silberbronze zu bemalen, damit dieser besser zum Lokomotivendach passen wird.
 
Die Draisinen
Die Draisinen sind putzige Schienenfahrzeuge, die sich nicht um Aerodynamik gekümmert haben. Es gab solche Fahrzeuge, nach dem Erfinder, Freiherr Karl Friedrich Drais (1765‒1851), benannt, schon im 18. Jahrhundert; sie wurden damals Tret- oder Schieberad geheissen. Sie wurden dann zu Schienenfahrzeugen weiterentwickelt, vor allem zu so genannten Handhebel-Draisinen, manchmal ohne Dach und Schutz für den Fahrer. In der Folge nahmen Ausstattung und Grösse zu.
 
So ist etwa die rote Draisine „Dm 3661“, die 1947 durch die Firma Condor in Courfaivre erbaut wurde, hier untergebracht. Den inhärenten Porsche-Industriemotor (44 PS) würde man ihr gar nicht zutrauen; wahrscheinlich ist das der unförmigste Porsche überhaupt. Doch an Wendigkeit übertrifft sie alle: Eine Wendevorrichtung erlaubt es, das Fahrzeug an Ort und Stelle zu drehen, was auch Geisterfahrern (Falschfahrern) zugute käme. Dass es sich bei diesem Schienenfahrzeug um eine absolut saubere Sache handelt, beweisen die aufklappbaren Wischvorrichtungen an den Vorderrädern. Diese Draisine wurde beim Fahrleitungsdienst für die Traktion der mobilen Rollleitern eingesetzt. Sie ist noch immer betriebstauglich und bringt im Falle vollständiger Ausgelassenheit maximal 45 km/h auf den Tacho.
 
Deutlich kleiner und schnittiger ist die Draisine „Dm 3344“, die ab 1932 durch die Firma Emil Asper in Küsnacht ZH erbaut wurde, ein offenes Fahrzeug für den Bahnmeister auf Kontrollfahrten. Sie leistet 9 PS, bringt es ebenfalls auf 45 km/h und kann, wie es sich gehört, auch an Ort und Stelle gewendet werden. Natürlich sind im Depot noch weitere Modelle zu sehen, etwa die „Dm 3402“, die für Personaltransporte diente. Die letzten Draisinen wurden 1989 ausgemustert; doch stehen eine Handhebel- und eine Motordraisine noch Privaten für Schienenausfahrten zur Verfügung (E-Mail: info@draisine.ch). Zum Glück gibt es diese Sammlung; viele Draisinen entgingen der Verschrottung nur knapp. Über dem Eingangstor zum Lokdepot ist eine hölzerne Draisine als Vorläuferin des Velos als Gebäudeschmuck aufgehängt.
 
Der CEO-Sitz
Ein Probesitzen im hier deponierten 1.-Klasse-Sitz von Benedikt Weibel, 1983 bis 2006 Vorsitzender der SBB-Geschäftsleitung, liessen wir uns nicht nehmen. Er (der Sitz) ist ebenfalls im Depot gelandet; Herr Weibel zog eine komfortablere Behausung (in Muri BE) vor. Dieses direkt auf Schienen montierte Prachtexemplar von Komfortstuhl ist mit 2 Leselampen, einer kleinen Bahnhofuhr und einem Beistelltisch bestückt und von Fahrdrähten mit Gefahrensignal „Vorsicht Strom“ umgeben – Stoll Giroflex könnte sich hier reiche Inspirationen besorgen ....
 
Die WM
Auch ein 1966 in Betrieb genommener EAV-Triebwagen der seligen Wohlen-Meisterschwanden-Bahn (Bde 4/4), die heute nur noch zwischen Wohlen AG und Villmergen AG als Güterbahn existiert, hat in diesem Depot seine letzte Ruhestätte als Ausstellungsstück gefunden. Eine Gedenktafel zum 10. Todestag (31.05.2007) der WM erinnert an die vergangenen Zeiten. Wir konnten in diesen Wagen mit der wohnzimmerartigen Wohnlandschaft einsteigen, in dem sogar eine Bar (die „Pfyl-Bar“) eingerichtet ist. Unsere englisch sprechende Alice versuchte sich als Lokführerin, erwischte aber den Hebel „Bremsen“ statt „Fahren“, so dass keine Wiederbelebung und keine Reise stattfanden.
 
Mit dem Triebwagen 1405 unterwegs
Vor dem Depot war der grüne Triebwagen 1405 (Betriebsnummer) aus dem Jahr 1959 bereit, mit dem die Reise zum Wasser beginnen sollte; der Denkmalschutztag stand unter dem Motto „Am Wasser“. Von der erwähnten Triebwagen-Einheit wurden 76 Stück gebaut. Das Ausstellungsstück in Koblenz ist der letzte dieses Wagentyps im Ursprungszustand, und es hat die bekannte SBB-grüne Farbe zurückerhalten (www.aargauer-pfyhl.ch ).
 
Ich genoss es, in einem Zug wieder einmal das Fenster mit den beiden Griffknöpfen hinunterschieben zu können und nicht hermetisch abgeschlossen zu sein. Der Koblenzer Normbahnhof konnte vom Wagen aus schön fotografiert werden; ein klassischer kleiner SBB-Bahnhof aus einem Mittelbau mit Satteldach und 2 Annexbauten mit Kehrgiebeln. Ein stichbogiger Eingang betont die Mittelachse auf der Geleise-abgewandten Seite, wie ich bei der Anfahrt gesehen hatte.
 
Auf der stillgelegten Strecke fuhren wir über die schwungvolle, 1891/92 erstellte, leicht gekurvte und 236 m lange Aarebrücke bei Felsenau (siehe unten); dort steht ein 1984 erbautes kleines Stationsgebäude. Doch vorher schauten wir von der Aarebrücke aus durch die vorbeiflitzenden, korbbogigen Fachwerkbögen auf den Fluss. Die kurze Reise führte weiter zum Rhein, der im Fullfeld auf der Höhe von Dogern D erreicht wird. Diese eindrückliche Fahrt endete genau auf der Höhe des Kernkraftwerks Leibstadt AG – und zwar auf offener Strecke. Eine kleine Anstelltreppe, die mitgebracht worden war, erleichterte den Ausstieg über das Schottergefälle.
 
Geschichte des Bahnhofs Koblenz AG
Auf gleicher Höhe konnten die Denkmal-Interessenten am Rheinufer auf die seit März 1998 zirkulierende Fähre „Waldshut-Tiengen“ umsteigen, die normalerweise zwischen Full AG und Waldshut zirkuliert. Vorbei an Dogern D und Liedermatten D glitten wir auf dem ruhig fliessenden Rhein gegen die Strömung Waldshut entgegen. Im Hintergrund winkte die kleine Dampffahne des 25 Jahre alten KKW Leibstadt, das den Energiehunger von 1 Million Menschen zuverlässig stillt. Strahlenförmig schien die Abendsonne durch die perforierte Wolkendecke mit den Hell-Dunkel-Kontrasten.
 
Der Kunsthistoriker Claudio Affolter, der als Bauinventarisator für den Kanton Aargau arbeitete und heute Lehrer in Würenlingen AG ist, und Heidi Wanner lieferten kompetent Informationen zu dem, was zu sehen war, und sie betteten den Anschauungsunterricht in grössere, auch historische Zusammenhänge ein. Aus Anlass des 150-Jahre-Jubiläums der Bahnlinie Turgi‒Koblenz‒Waldshut hat Herr Affolter die Geschichte des Grenzbahnhofs Koblenz von 1859 bis heute aufgezeichnet, und er erläuterte sie in geraffter Form auf der Fähre.
 
Der Grenzübergang KoblenzWaldshut verlor schon 14 Jahre nach der Bahnhof-Eröffnung an Bedeutung; denn 1873 wurde in Basel die Strecke über die Rheinbrücke zum Badischen Bahnhof in Betrieb genommen und 1875 die Bözberglinie (Basel‒Frick‒Brugg‒Baden) eröffnet. Während der beiden Weltkriege war der Verkehr zwischen Waldshut und Koblenz zeitweise eingestellt. Nach dem 2. Weltkrieg entwickelte sich Koblenz von einer beschaulichen Bahnstation zum wichtigsten Bahnhof des Bezirks Zurzach, ein kurzes Zwischenhoch. Denn ab 1978/80 setzte wegen der Inbetriebnahme des Rangierbahnhofs Limmattal ein drastischer Rückgang des Güterverkehrs in Koblenz ein, und heute hat die Verbindung Waldshut‒Turgi nur noch lokale Bedeutung. Der Bahnhof Koblenz ist kein Grenzbahnhof mehr, sondern eine bescheidene Station.
 
Am Zusammenfluss von Aare und Rhein
Soweit etwas Theorie – die Praxis fand ausserhalb der Waldshuter Rheinfähre statt, deren Dach eine gute Aussichtsfläche ist. Das schwerfällig wirkende Schiff hatte sich zwischen Full AG (Faarhüser) und Waldshut D als wirkliche Fähre – und zwar hin und zurück – betätigt. Immer zur vollen Stunde muss sie das aufgrund ihrer Konzession tun (Fahrpreis: 1 Euro pro Überfahrt). Und das Programm war so eingestellt, dass dies trotz unserer Exkursionen klappte. Die Schiffsmannschaft, der Kapitän und sein Stellvertreter sowie 2 Serviceangestellte, waren sehr auskunftsfreudig und nett, und wir konnten sogar ein trübes, nur schwach bitteres und umso süffigeres Weissbier aus dem Schwarzwald („Waldhaus“) geniessen, wie es wegen des grossen Hefeanteils von unserem Lebensmittelexperten Heinz Scholz empfohlen wird. Auch die neue Broschüre „Die Geschichte der Waldshuter Rheinfähre“ konnte ich für 5 CHF ergattern. Daraus habe ich entnommen, dass der Fährebetrieb, der schon um 1400 begonnen haben könnte, aus verschiedenen Modellen bestand und zwischen 1866 und 1872 eine Wagenfähre benützte, die auch den Transport von Gütern und Vieh ermöglichte. Der Flussübergang war zu allen Zeiten ein „Beweis der nationalen Freundschaft“ zwischen Deutschland und der Schweiz. Sie dient auch dem Ausflugsverkehr, ermöglicht Wirtshausbesuche auf der anderen Rheinseite und wird heute oft von der Schweiz aus für Einkäufe in Waldshut benutzt. Erfreulicherweise ist sie trotz der Konkurrenz durch moderne Verkehrsmittel erhalten worden – in neuerer Zeit als Motorfähre und heute mit Rundfahrtenangebot; den Stadtwerken Waldshut-Tiengen GmbH gebührt dafür Dank und Anerkennung.
 
Der Schiffsführer Sven Schiessel lenkte die Fähre an der Rheinbiegung zwischen Schmittenau und Koblenz in den Hochrhein hinein, und bei diesem Zusammenfluss von Aare und Rhein konnte man mit blossem Auge sehen, dass die Aare-Wassermenge hier rund ¼ grösser als jene des Rheins ist, so dass der vereinigte Fluss gemäss dem Brauch, dass der grössere Zufluss den Namen weitergibt, eigentlich Aare und nicht Rhein heissen müsste. Doch „Rhein“ setzte sich durch; die Aare verhilft ihm zu Aufschwung.
 
In diesem Mündungsbereich ist ein Dreier-Brückensortiment vorhanden: die erwähnte 180 m lange Autobrücke zwischen Felsenau und Koblenz über die Aare, ein inneraargauisches Bauwerk, das 1936 eingeweiht wurde. Die beiden Stahlfachwerkbögen mit je 90 m Spannweite nehmen die umgebende hügelige Landschaft auf. Der Ober- und Untergurt sind als Fachwerkträger ausgestaltet, zwischen denen vertikale Füllstäbe die Brücke feingliedrig und damit leicht erscheinen lassen.
 
Fährt man nach dem Treffpunkt der Flüsse ein kleines Stück rheinaufwärts, was neben einem hängen gebliebenen Baumstamm nur in einer schmalen Rinne möglich ist, sieht man hintereinander die Auto- und die Eisenbahnbrücke zwischen Waldshut und Koblenz auf der Höhe von Schmittenau. Die Strassenbrücke (Zollbrücke) wurde 1932 eröffnet – eine 128 m lange und 10,4 m breite Betonbrücke, die mit 1 m hohen, seitlichen stählernen Vollwandträgern gefasst ist, und auch sie belebt den Verkehr und die freundnachbarlichen Beziehungen.
 
Die eigentliche Attraktion aber ist die 131,45 m lange Eisenbahnbrücke aus dem Jahr 1859, handelt es sich doch um die älteste noch in Betrieb stehende Fachwerkbrücke Europas; die übrigen Exemplare dieses Brückentyps haben die Weltkriege nicht überlebt. Der Überbau ist als Gitterträger mit Vertikalversteifungen ausgebildet. Die diagonal verspannten, sich mehrfach kreuzenden Streben bestehen aus genieteten Flacheisen. Auf der Koblenzer Seite schliesst sich ein sechsbogiger, aus Stein bestehender Viadukt an, der sich am Formenkanon des Historismus orientiert und deshalb ebenfalls eine Sehenswürdigkeit ist.
 
Denkmal-Tage
In Koblenz war die Schifffahrt zu Ende – man wäre gern weitergereist. Und immer wieder, wie vor 2 Jahren im Schloss Landshut, Utzenstorf BE, kam ich zur Einsicht, was für eine ausgezeichnete Einrichtung der „Europäische Tag des Denkmals“ doch immer wieder ist. Zum Null-Tarif können einzigartige Objekte unter erstklassiger Führung besichtigt werden (www.nike-kultur.ch).
 
Genau so war es auch diesmal: eine ordentliche Portion faszinierender Heimatkunde 1:1.
 
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Quellen
Affolter, Claudio: „Station Koblenz. Erster Grenzbahnhof der Schweiz“, Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK, CH-3012 Bern 2009.
Weiss, Andreas: „Die Geschichte der Waldshuter Rheinfähre“, herausgegeben von den Stadtwerken Waldshut Tiengen GmbH 2009.
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