BLOG vom: 29.09.2009
Roman Polanski: Die Schweiz tanzt den Tanz der Vampire mit
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Peinlich. Wer sich so blödsinnig wie die Schweizer Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf mit ausdrücklicher Unterstützung von Globalisierungsbundesrätin Doris Leuthard verhält, zieht Spott aufs Land; man muss sich bald schämen, ein Schweizer zu sein. Die unverhoffte Verhaftung des berühmten Filmregisseurs Roman Polanski, der seit Jahren in der Schweiz ein und aus geht und in Gstaad im Berner Oberland ein Châlet besitzt (wo er sich zuletzt im August 2009 aufhielt), begründet und legitimiert den Vorwurf, die Schweiz habe sich zum Handlanger der USA gemacht (so z. B. die „Süddeutsche“ vom 29.09.2009). Frau Widmer, die es schon bei ihrer Wahl in den Bundesrat mit einer ehrlichen Haltung nicht so ganz genau nahm, bestritt vor versammeltem Fernsehpublikum zwar, den Verhaftungsbefehl aus den USA erhalten zu haben, obschon das offensichtlich war. Als ob der Peinlichkeiten noch nicht genug wären.
Man hat nun hier eine Fortsetzung der Verhaftung des als Randalierer bekannten Gaddafi-Sohns Hannibal (Mottassim Bilal al-Gaddafi), bei dessen Festnahme in Genf kein Fehler ausgelassen wurde, den man in solchen Fällen begehen kann, vor allem was die polizeiliche Stürmung der Unterkunft der libyschen Gäste mit einem masslosen, geradezu kriegerischen Aufgebot anbelangte. Das führte dann dazu, dass Bundespräsident Hans-Rudolf Merz zu Kreuze (oder zu Halbmond) kriechen musste, ohne damit bisher etwas erreicht zu haben; 2 Schweizer durften bisher nicht aus Libyen ausreisen. Aus den Ursachen dieser Staatskrise hat man offensichtlich nichts gelernt.
Selbstredend haben weder ein Gaddafi-Spross noch ein weltberühmter Filmregisseur Anspruch auf eine Sonderbehandlung; aber beide haben, wie alle anderen auch, Anspruch auf eine korrekte Behandlung. Verhaftungen dürfen auf jeden Fall nicht nach der liederlichen US-amerikanischen Art aufgrund von Vermutungen und Willkür erfolgen, auch (und gerade) wenn Interpol darauf drängt. Das Vertrauen muss auf einer allseitig korrekten Verhaltensweise im Rahmen rechtsstaatlicher Grundsätze beruhen – zwischen den Staaten einerseits und zwischen Staaten und Einzelpersonen anderseits. Es kann nicht angehen, dass jemand, der schon seit Jahren unbehelligt ein Land besuchen konnte, plötzlich verhaftet wird, obschon keinerlei neue Fakten oder gar Delikte bekannt wurden.
Die ganze Welt wundert sich, dass die als Hort der Freiheit bekannte Schweiz mehr als 30 Jahre nach der Ausstellung eines Haftbefehls durch die USA diese Verhaftung nun plötzlich (am 26.09.2009 bei der Einreise) vornahm – zudem ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da Polanski vom „Zurich Film Festival“ zur Ehrung seines Lebenswerks als Filmregisseur eingeladen worden war. Sein Lebenslauf war bekannt, auch durch den Dokumentarfilm „Roman Polanski: Wanted and Desired“ von Marina Zenovich. Polanski vergewaltigte 1977 die 13-jährige Samantha Gaile, die er zu einem Fototermin im Auftrag von „Vogue“ eingeladen hatte. Sie hat ihm seit Jahren verziehen: „Was er mir angetan hat, war falsch, aber ich wünschte, er könnte nach Amerika zurück, so dass wir beide diesen Albtraum hinter uns lassen können. Er hat einen schrecklichen Fehler gemacht, aber er hat dafür gezahlt."
Nach seiner Tat geriet Polanski in die Fänge des mediengeilen Richters Laurence J. Rittenband, der Polanski in ein Hochsicherheitsgefängnis sperren liess. Überhaupt war das US-Verfahren von schwerwiegenden Mängeln begleitet; der Anklage und dem Richter wurden ein „erhebliches Mass an Fehlverhalten“ vorgeworfen. Um einer weiteren Verhaftung zu entgehen, flüchtete der Regisseur 1978 aus den USA nach Frankreich. Es war die 2. Flucht von Rajmund Roman Liebling, wie der bürgerliche Name des Roman Polanski lautet: Er stammt aus einer jüdischen Familie, die der nationalsozialistischen Judenverfolgung ausgesetzt war und konnte aus dem Krakauer Ghetto fliehen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich ausgerechnet und sogar Frankreich, das sich unter Nicolas Sarkozy wieder vollends der Fuchtel der USA unterstellt hat, für Polanski einsetzt. Das Vasallentum Frankreichs ist besonders deutlich an der Rückkehr in die militärischen Gremien der Nato abzulesen; Charles de Gaulle war es gewesen, der sich 1966 aus dem Bündnis zurückzog, was die bekannte Straf- und Rachsucht der USA auslöste. Umso bemerkenswerter ist, dass Polanski trotz des internationalen Haftbefehls unbehelligt in Frankreich leben konnte und sich dieses Land jetzt für den französisch-polnischen Doppelbürger einsetzt (wie übrigens Polen auch). Laut „New York Times“ hat der französische Aussenminister Bernard Kouchner seine Schweizer Amtskollegin Micheline Calmy-Rey gebeten, „Herrn Polanskis Rechte vollständig zu respektieren und schnell eine vorteilhafte Lösung zu finden“.
Die Schweiz hat sich in geradezu läppischer Art und Weise zu einer Hauptdarstellerin einer Geschichte gemacht, die den Titel eines Polanski-Films tragen könnte: „Ekel“ (1965). Das Ekelhafte daran ist, dass sich die Schweiz schon wieder als Komplizin der USA berufen fühlte. Dies geschah, nachdem alle anderen Länder, auch Israel, den Verhaftungsbefehl aus dem maroden Land mit der grössten Inhaftierungsrate der Welt (rund 2 260 000 Personen) und den überfüllten Riesengefängnissen (Kalifornien musste aus Platzgründen Insassen entlassen) ignoriert hatten. Folglich muss sich jetzt die Schweiz aus aller Welt den Vorwurf anhören, sie sei (wie beim Steuerstreit) wieder vor den USA eingeknickt und habe mit der willkürlichen Verhaftung bessere Bedingungen im Banken-Steuerstreit herausschinden wollen, bei dem sie (laut „Tagesspiegel") „demütigende Niederlagen" erlitt und sich jetzt schon wieder blamierte.
Für die Schweiz gibt es ein grosses, bisher vollständig verdrängtes politisches Problem, das endlich breit diskutiert und auf vernünftige, selbstbewusste Art gelöst werden müsste, damit weitere Polit- und Wirtschaftspossen in Zukunft unterbleiben werden:
Sollen und wollen wir weiterhin am US-Gängelband bleiben, den von dort vorgegebenen „Tanz der Vampire“ im Gleichschritt mittanzen, unsere Selbstständigkeit aufgeben und uns damit vor der ganzen Weltöffentlichkeit weiterhin lächerlich machen?
Diese zentrale Frage gehört aufs Tapet, wenn auch etwas spät – viel Schaden, was den Ruf der Schweiz anbelangt, ist bereits angerichtet. Aber weil der Niedergang der US-Allmacht bereits eingesetzt hat, dürfte die Lösung allmählich leichter fallen.
Literatur zum Thema
Hess, Walter: „Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“, Verlag Textatelier.com, CH-5023 Biberstein 2005. ISBN 3-9523015-0-7.
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