Textatelier
BLOG vom: 08.10.2009

Einsichten in Aarauer Aarekanäle: Rinnsale alles Irdischen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
In den Aarauer Aarekanälen, die zum IBAarau-Kraftwerk führen, herrschte am Montag, 05.10.2009, eine panische Stimmung. Eine komplette fünfköpfige Biber-Familie (Vater, Mutter und 3 Kinder) sah sich ihrer Wohnung mit dem Unterwasser-Eingang beraubt. Sie musste sich einfangen und in den alten Aarelauf nebenan tragen lassen. Dabei hatte sie den Staubereich so sehr geschätzt, weil dort gerade jetzt viele Äpfel angeschwemmt werden, die nicht zu verachten sind. Bachneunaugen (Lampetra planerir) trauten ihren Augen kaum, als sie miterleben mussten, wie ihnen ihr Lebensraum förmlich wegfloss. Nasen (Chondrostoma nasus), die zu den Karpfenfischen gehören und sich ebenfalls als Rarität fühlen dürfen, blieb die quer verlaufende Maulspalte vor Schreck offen. Äschen (Thymallus thymallus) ihrerseits, die sich mit dem Aufstau trotz ihrer Liebe zu strömendem Wasser mit Geschiebetransport abgefunden hatten, wedelten mit der Rückenflosse (der so genannten Äschenfahne), diesmal nicht als Imponiergehabe, sondern aus purer Verzweiflung. Und unzählige Aale, die ihre Aktivitäten eher in der Nacht oder in der Dämmerung unternehmen, wurden am helllichten Tag ihrer Verstecke beraubt und mussten froh sein, wenigstens noch ein Rinnsal zu finden, das sie vor dem Austrocknen schützte. Die Ursache des Malheurs: Das Stauwehr in Schönenwerd SO war am Montagmorgen geschlossen worden, die Aare vollständig in den Altarm umgeleitet.
 
Die Lage gewann noch an Dramatik, als im Morgengrauen dieses grauenhaften Tages ganze Rudel von Fischern der Fischerzunft Aarau und des Fischereivereins Schönenwerd mit Stiefeln und leuchtfarbenen Anzügen im Aarebett aufkreuzten, von denen einige einen Generator zur Stromerzeugung (ein Verbrennungsmotor mit einem Drehstromgenerator, genau genommen) auf dem Rücken trugen, der an einen harmlosen Rucksack erinnerte. Diese Maschine war mit einem Kabel mit Keschern (Käschern) verbunden, ähnlich den Fangnetzen von Schmetterlingsjägern. Das versprach wenig Gutes – eine Art von waidgerechtem Jagen. Der Kescher diente vorerst als Anode, und als Minuspol wirkte eine Metalllitz, die hinter dem Stromerzeuger im Wasser nachgezogen wurde. Die Fische spürten unversehens einen harten Schlag, der tief unter die Schuppen ging, und dann nichts mehr. Der Gleichstromkreis war geschlossen, die Betäubung komplett. Schwäne und Enten mochten nicht mehr zuschauen und suchten das Weite. Kamberkrebse (Orconectes limosus) und Signalkrebse (Pacifastacus leniusculus) fühlten sich zum Krebsgang veranlasst. Die beiden Krebsarten sind im Raume Aarau ziemlich neu – noch so ein Importgut aus Amerika. Fischer sammelten die Bewusstlosen ein. Einer der Petrijünger, der mit einem Eimer bewaffnet war, rief seine Kameraden zur Mässigung auf: „Läsed denn nöd no grad jede Chäber uf!" (Sammelt nicht auch noch jeden Käfer ein).
 
Als bei den Wassertieren das Bewusstsein zurückkehrte, fanden sie sich in einem roten Plastikeimer, der bald in den noch intakten, fliessenden Teil der Aare ausgekippt wurde. Die Lebensgeister kehrten zurück, und das Leben ging nach der Zwangsumsiedlung im neuen Biotop weiter. Weiter unten sind ja noch weitere Kanäle.
 
Als das Kanalwasser bis auf einige Rinnsale am Grund abgeflossen war, kamen verschiedene Velos, Gartenhag-Bestandteile und auch eine Krücke zum Vorschein. An den Speichen, insbesondere bei den Naben, und anderen zarteren Bestandteilen der Velos hatten sich Dreikantmuscheln (Dreissenidae) in Reih’ und Glied angehängt – sie waren aus dem Schwarzen Meer, an Schiffe geklammert, in die Schweiz transportiert worden und haben im Aarekanal ihre neue Heimat gefunden. Auch die Asiatische Körbchenmuschel der Gattung Corbicula konnte sich nicht länger verstecken. Die Chinesen verwenden sie für die Suppenzubereitung. Doch die Aarauer, die in Scharen zu den entleerten Wasserkanälen gepilgert waren, legten keinen Sammeleifer zutage, da sie eher anderen Suppeneinlagen wie Rüebli (Karotten), Sago, Erbsen und kleinen Teigwaren und dergleichen zugetan sind.
 
Bei den leeren Kanälen, die das Landschaftsbild am Rand des Aarauer Schachens und hinein ins Solothurnische (Erlinsbach, Niedergösgen) verändern, herrschte ein Duft wie auf dem Fischmarkt in Agadir. Offenbar waren doch nicht ganz alle Wasserlebewesen aus dem Trocknenden ins Nasse hinüber gerettet worden. Doch alle taten unter der strengen und kompetenten Aufsicht durch die ANL (AG für Natur und Landschaft, Aarau) das Beste. Der ANL-Mitbegründer und Ökologe Heiner Keller, hier als „Baubegleiter Ökologie“ im Einsatz, und seine Leute retteten, was zu retten war, auch aus dem antiquierten Beckenfischpass (Fischtreppe, Baujahr 1957), dessen Wasserdurchfluss (6600 Minutenliter) versehentlich abgestellt wurde.
 
Geputzt muss sein 
Solch eine Kanalputzete, die mit einer Reparatur der Kanalbauten verbunden ist, muss hier, von der IBAarau Kraftwerk AG veranlasst, alle 10 Jahre durchgeführt werden. „Mehr Fischer, mehr Fang“, sagte Keller an einer Orientierung am frühen Abend des 05.10.2009 auf der 1986 erbauten Stauwehrbrücke beim Kraftwerk, und es waren viele Fischer im Einsatz gewesen. Aber wenn im Kanal keine Fauna vorhanden gewesen wäre, hätten auch die vielen Fischer nichts genützt, fügte er bei. Doch war die Ausbeute in den entleerten Kanälen, die höher als die umgebende Landflächen sind, trotz ihrer Künstlichkeit stattlich. Über 20 Fischarten wurden bestimmt, vor allem Welse – eine Neuerscheinung – und Barben.
 
Ein Caterpillar-Trax führte vor dem bildfüllenden Kraftwerkrechen Sand, Steine und eine dunkle schlammige Sauce weg. Ingenieure begutachteten den Zustand der Dämme, die unbedingt vor dem Bersten bewahrt werden müssen, wenn Überschwemmungen (etwa im Gebiet Telli) verhindert werden sollen. Der ältere, kleinere Kanal stammt aus dem Jahr 1873 und hat schon einiges an Reparaturen hinter sich. Er diente zuerst als Gewerbekanal, als Wasserkraft-Lieferant; einige Fabrikanten planten am Fusse des Hungerbergs ein Industriequartier. Dazu gehörte die oberhalb der Aarebrücke mit einem Transmissionsantrieb funktionierende Zementfabrik Fleiner, die wieder abgebrochen wurde. Der grosse Parallelkanal kam im beginnenden 20. Jahrhundert (1912) hinzu, als der Elektrizitätshunger der Menschheit wuchs. Der Mitteldamm wurde 1957 zum Teil abgebrochen. Wo einst die Männer-Badeanstalt war, fehlt die Dammbefestigung auf der Innenseite des Kanals. Die Ausgestaltung der Ufermauern ist ohnehin sehr unterschiedlich – ein offenes Dammbau-Geschichtsbuch.
 
Nebenan fliesst das meiste Aarewasser im alten Aarelauf ungenutzt vorbei. Das Elektrizitätswerk beschränkt sich auf die Nutzung von maximal 380 m3/Sek., doch nicht einmal so viel kommt ständig aus dem Solothurnischen herangeflossen (20 % des Kanals sind im Aargau, 80 % im Kanton Solothurn). Nach der fast zweimonatigen Trockenperiode (August/September 2009) kamen gerade noch etwa 110 bis 120 m3/Sek. die Aare herunter, so wenig wie sonst nur im Dezember und Januar. Deshalb hätte es keinen Sinn, Flusskraftwerke auf den nur selten anzutreffenden Hochwasseranfall auszurichten – die Kosten-Nutzen-Rechnung bestimmt die Produktionsmenge. Die Konzession für das IBAarau-Kraftwerk läuft 2014 aus und muss dann erneuert werden. Die bei der momentanen Putzete gewonnenen Erkenntnisse werden dafür eine gute Grundlage sein.
 
Erkenntnisse zur Vergänglichkeit 
Ich wanderte auf den Dämmen, vorbei an ineinander verschlungenen, herausgefischten Velos, einem Kleinmotorrad, ebenfalls nach neuen Erkenntnissen fischend. Etwa diese: In einem kahlen Kanal sind Velos durchaus willkommene Lebensräume, was nicht bedeutet, dass man möglichst viele gestohlene oder veraltete Fahrräder ins Wasser werfen soll. Es gibt genügend Alteisen-Sammelstellen. Vor allem Muscheln und Algen schätzen es, wenn sie sich irgendwo andocken können, selbst unter Velosätteln und im Schutzblechgewölbe.
 
Dann ist auch der Zerfall von Gegenständen wie eben Velos unter Wasser bemerkenswert: Die Pneus halten sich recht gut, wenn sie nicht durch vorbeiziehenden Sand bis aufs Stützgewebe abgeschabt werden. Beschichtungen aus Kunstharzfarben schützen das Eisen recht gut, das sich im Übrigen mit dicken Rostkrusten überzieht und auflöst. Stahlbestandteile wie eine Sturmey-Archer-Gangschaltung aus England überstehen die Jahre im Wasser recht gut. Erstaunt hat mich, dass selbst Aluminium zerbröseln kann – und das alles innerhalb von weniger als 10 Jahren.
 
Insgesamt aber wird mit der Zeit alles zu Staub, wie es die Pfarrherren kundtun. Staub zu Staub. Oder: Gegenstände zu Schlick. Schlamm zu Schlamm. Das Kraftwerk-Gebäude mit seinem Spitzturm, auf dem eine Wetterfahne sitzt, erinnert an eine mehrschiffige Kirche, ist aber nicht für Abdankungen gebaut.
 
Hinweis auf ein weiteres Blog über die Aare im Gebiet Aarau/Wöschnau
 
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