BLOG vom: 31.10.2009
Vellerat JU: Die eingebundene „Freie Gemeinde der Schweiz“
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Vellerat: eine kleine, eigentlich unbedeutende Gemeinde mit bloss etwa 35 Gebäuden, rund 75 Einwohnern, vielen Hunden, Katzen und Pferden – und sie hat es dennoch zu einer internationalen Berühmtheit gebracht. Ihre Geschichte sei „pas banale“ (nicht gewöhnlich, nicht banal), heisst es auf der Webseite www.vellerat.ch.
Der Ort liegt auf einer Geländeterrasse etwa 200 Meter westlich oberhalb des Industriekonglomerats Choindez (Von Roll Holding AG) in der Gemeinde Courrendlin (Bezirk Delémont, Kanton Jura). Dort unten, in einer Senke des Faltenjuras, wurden 1846 ein grosser Hochofen und eine Giesserei eingerichtet. Schachtdeckel und Hydranten waren die bekanntesten Produkte. Die Eisenverhüttung wurde um 1982 eingestellt, das heisst, damals erkaltete der letzte Hochofen der Schweiz für immer. Das Eisenwerk lief weiter, und noch nie habe ich so viele Eisenrohre gesehen, die meines Erachtens für Trinkwasserleitungen gebraucht werden, wie bei unserer Fahrt über Balsthal, Welschenrohr und Moutier in die Ajoie im Norden des Kantons Jura. Sie lagen zu Bündeln geordnet in einer abmarschbereiten Kolonne.
Von Choindez muss man weiter nach Norden fahren, wo sich das Tal öffnet, ins Dorf Courrendlin hinein und dort, eine Spitzkehre vollziehend, die Abzweigung nach Vellerat finden. Als Eva, unser an Jurafragen speziell interessierter Bekannter Luigi und ich am 27.10.2009 durch das bewaldete Gebiet zwischen dem Forêt de la Cendre (Aschenwald) und der Côte des Porcs (Schweinerippe, nicht zu verwechseln mit Schweinegrippe) hinauffuhren, war dies der Abschied von den letzten Nebelschwaden in der Birs-Schlucht von Choindez. Die Sonne brachte die schönsten Herbstfarben in einer weich modellierten und doch markanten Landschaft zur Blüte. Sie kontrastierten mit dem tiefblauen Himmel.
Der Freiheitskampf
Auf 665 m ü. M., gleich bei der Innerortstafel „Vellerat JURA“, ist dies zu verspüren: Man ist in eine politisch virulente Gemeinde geraten. Zur Bestätigung und Betonung des Umstands, dass man sich hier im Kanton Jura befindet, hat jemand das Jura-Kantonswappen mit dem roten Bischofsstab auf Silber auf der linken und den 3 silbernen Balken auf Rot auf der rechten Seite aufgeklebt. Der Baselstab erinnert an die Zugehörigkeit zum Fürstbistum Basel, die bis 1815 dauerte, und die 3 Balken an die 3 Bezirke Delsberg (Delémont), Pruntrut (Porrentruy) und Freiberge (Franches-Montagnes), die den jungen Kanton Jura aufteilen. Ganz verblasst ist unter der schwarzen Schrift der Innerortstafel noch „COMMUNE LIBRE“ zu lesen, wie Luigi entdeckt hat. Er war kurz vor der Abstimmung Anfang Juni 1996 schon einmal hier, als alle Strassen und Häuser mit Freiheitsparolen („Weg von Bern!“) dekoriert waren. Am Träger der Tafel ist ein Plakat montiert, auf dem der untere Teil des Wappens in Puzzle-Elemente zerlegt ist. Und der Text lautet: „Cette commune veut la réunification“ – diese Gemeinde wünscht die Wiedervereinigung. Das heisst also, dass Vellerat vom Kanton Bern zum Kanton Jura übertreten wollte. Die Vergangenheitsform ist hier angemessen, denn das ist per 01.06.1996 bereits geschehen.
Und genau hier ist der Punkt, den Vellerat berühmt machte. Bei der Gründung des Kantons Jura, die gleichzeitig die Abspaltung von der Berner Herrschaft war, wurde Vellerat (Bezirk Moutier) ausgeklammert. Denn sie hatte keine gemeinsame Grenze mit dem damaligen Bezirk Delémont und konnte aus diesem Grund nicht frei über ihre Kantonszugehörigkeit entscheiden. Sie gehörte weiter zum Kanton Bern. Basta. Das gefiel den Bewohnern von Vellerat, den Velleratiens, überhaupt nicht. Die Strassenverbindung zum Kanton Bern führte ja zwangsläufig durch jurassische Gemeinden, insbesondere Courrendlin. Und so etwas schweisst zusammen.
Die Velleratiens, selbstbewusst genug, stiegen auf die Barrikaden, proklamierten Vellerat als die „Freie Gemeinde der Schweiz“ und wollten unbedingt in den Kanton Jura einverleibt werden. Jahrelang wurde mit den Bernern herumgestritten, bis diese mürbe genug waren, die nur 2,04 km2 umfassende Fläche abzutreten.
Das Kantonswechsel-Prozedere war gigantisch. Denn über die Grenzbereinigung mussten auch der National- und der Ständerat beraten. Weil das Gebiet der Kantone durch die schweizerische Bundesverfassung garantiert ist, musste auch noch eine nationale Volksabstimmung veranstaltet werden, die am 10.03.1996 stattfand und ganz im Sinne Vellerats ausging: 91,7 % der Stimmenden und alle Kantone befürworteten den Wechsel vom Kanton Bern in den Kanton Jura. Die Interpreten dieses Entscheids vermuteten, dass die Schweizer das „Recht auf Selbstbestimmung“ hoch einschätzten; so sind wir eben.
In seiner Botschaft ans Volk hatte der Bundesrat im Hinblick auf die Abstimmung geschrieben, das Grundsätzliche betonend: „Nach herrschender Lehre und Verfassungspraxis bedürfen alle Änderungen im Gebiet der Kantone nicht nur der Zustimmung des betroffenen Gebietes, des Kantons, in dem dieses Gebiet liegt, und des Anschlusskantons, sondern auch der Zustimmung von Volk und Ständen. Deren Zustimmung als Bundesverfassungsgeber ist für die Gebietsveränderung konstitutiv. Diese Grundsätze wahren das föderalistische Gleichgewicht der Schweiz. Die Abtretung einer ganzen Gemeinde kann nicht als blosse Grenzbereinigung ohne politische Bedeutung betrachtet werden. Vielmehr ist der Kantonswechsel einer Gemeinde in unserem auf Stabilität angelegten Bundesstaat nach wie vor ein aussergewöhnliches Ereignis, weshalb der Bundesrat auch aus Gründen der Rechtssicherheit, d. h. der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Verfassungspraxis am vorgesehenen Zustimmungsverfahren festhält.“
Man kann sich daraus ungefähr vorstellen, was alles im Rahmen der Tendenz, auch noch den Berner Jura in den Kanton Jura einzubringen, abgehen wird, auch wenn dafür in Zukunft dafür keine Abstimmung von Volk und Ständen nötig sein wird. Die Chancen sind eher bescheiden, was sich schon aus den unterschiedlichen Religionen (Berner Jura mehrheitlich reformiert, jetziger Kanton Jura mehrheitlich katholisch) ergibt. Ein Trick wäre, Moutier im Berner Jura statt Delémont zur neuen Kantonshauptstadt zu erklären; aber da hätte man ja dann Widerstand aus nördlicher Richtung.
Kontaktbedürfnis
Gleich nach der Innerortstafel folgt eine 2., farbenfrohe Tafel, welche Vellerat zur „Commune d’Europe“ erklärt, was mich schon etwas überrascht hat, weil das mit einem ausgeprägten Unabhängigkeitsstreben mit dem besten Willen nicht in Einklang zu bringen ist. Und auch nicht mit dem lobenswerten Umstand, dass sich Vellerat zur „GATS-freien Gemeinde“ erklärt hat. Besser verständlich ist die auf der Tafel am Dorfeingang in der Nähe eines Apfelbaums mit breit ausladender Krone erwähnte, seit Juni 2001 bestehende Partnerschaft mit der Gemeinde Les Fourens (Voeren), einer flämischen Exklave im wallonischen Landesteil von Belgien. „Occupés par la Flandre“ steht darauf, eine Schicksalsgemeinschaft, die zu einer geistigen Verbundenheit führte.
In Vellerat
Wir stellten den Prius auf der „Place Roland-Beguelin“ ab, vor allem weil hier Platz war und weniger im Gedanken an den jurassischen Freiheitshelden Beguelin (1921‒1993), der die verfassunggebende Versammlung des entstehenden Kantons Jura als Vizepräsident begleitete. Auf uns Deutschschweizer hielt er nicht gerade grosse Stücke, was ich allerdings nicht als Rassismus empfand. Zwischen 1979 und 1990 war er der erste Präsident des jurassischen Parlaments. Bei diesem Parkplatz ist auch das Eschmann-Monument du Coq (mit dem Hahn) zum Gedenken an den Kantonswechsel 1996 aufgestellt.
Daneben ist die kleine, von Dreiecken geprägte Kapelle von Vellerat, die 1960/61 von Jeanne Bueche erbaut wurde. Das Andachtshaus war ursprünglich nicht mit Glasmalereien versehen, wahrscheinlich eher zu seinem Gewinn. Die beiden seitlichen, dreieckigen Fenster von 10,05 m Breite und 3,18 m Höhe bestanden nur aus Betongittern, die das Licht filtern sollten. Doch wurden noch 1961 etwa 20 m2 Glasgemälde des berühmten André Bréchet aus Delémont zwischen die Gitter gesetzt, die eine gute Gesamtwirkung haben. Aus der Nähe aber muten sie verschmiert und zerkratzt an. Auf den Gesimsen ruhen Ansammlungen toter Fliegen in Frieden, für die ich mir ein Gemeinschaftsgrab gewünscht hätte.
Bei einem Rundgang durchs Dorf entdeckten wir eine Frau auf einem Balkon; andere Personen sahen wir nicht. Aus dem oberen Teil einer Stalltüre nickten uns die Köpfe von 2 Freiberger Pferden freundlich zu, und schnaubende Hunde versuchten, uns aus dem Dorf zu vertreiben. Am Montag und Dienstag sind viele Gaststätten im Jura geschlossen, so auch das Restaurant Coq d’Or, Au Village 8; also befolgten wir die Anweisungen der Bellenden.
Trotz des steigenden Goldpreises war der Goldhahn also zu. Aber der goldene Herbst nach jurassischer Art machte dieses Defizit wett. Wir fuhren in aufgeräumter Stimmung weiter, „Le Fritz“ entgegen. Wo blieb er nur?
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