BLOG vom: 23.12.2009
Anneli, die Glarnerin. Eine Erinnerung an unsere Nachbarin
Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
Jedes Jahr, wenn die Tage kürzer werden und die Festtage bevorstehen, erinnern wir uns an die einstige Nachbarin Anneli. Sie lebt schon lange nicht mehr. Sie stammte aus dem Glarnerland, war die Tochter eines Bergbauern. Eine grazile Person, liebenswürdig, aber eher distanziert. Unsere Gespräche über den Gartenzaun waren nie weltbewegend. Um Wichtiges zu besprechen, war ihr Mann zuständig. Er, ein Breitschultriger, sie, eine Feingliedrige, ein sich ergänzendes Paar. So lange er lebte, sangen die beiden in der Silvesternacht ein Jodellied. Im Garten stehend, verabschiedeten sie das alte und begrüssten das neue Jahr.
Anneli sprach nicht vom Silvester. Sie nannte diesen letzten Tag im Jahr „Altjahrabig“. Es tönte, wie wenn hier von etwas Arabischem die Rede sei. Dieser Ausdruck ist geblieben. Darum denken wir jetzt wieder an Anneli und sprechen von ihrem Altjahrabig-Niidle. (Niidle=Rahm).
So wird er hergestellt: Rahm steif schlagen. Getrocknete Weinbeeren und geraffelte Schokolade darunterziehen.
Wenn keine Kinder am Tisch sind, serviere ich dieses Dessert mit Weinbeeren, die ich vorher eine Stunde in Kirschwasser eingelegt habe.
Dieser Festschmaus war nur dem letzten Tag im Jahr vorbehalten. Dass er ersehnt wurde, kann ich mir gut vorstellen.
Bevor Anneli in ein Altersheim übersiedelte, erlebten wir mit ihr eine spannungsvolle Zeit. Sie war vergesslich geworden, ging aus dem Haus und fand manchmal den Heimweg nicht mehr. Ich suchte sie oft, hatte den Söhnen versprochen, auf sie aufzupassen. Sie hatte einen grossen Freiheitsdrang und verstand es, ganz leise zu entwischen.
Einmal sass sie an einem ruhigen Samstagnachmittag mehr als eine Stunde auf der Bank bei der Tramstation Bernoulli und hoffte, dass jemand käme, sie anspreche und heimbegleite. Sie war aus der Stadt zurückgekehrt und wusste nicht mehr, wo sie zu Hause sei. Ein Tramchauffeur bemerkte, dass sie immer noch auf der Bank sass, nachdem er seine Route bis zur Endstation Tiefenbrunnen und hieher zurück gefahren war. Er alarmierte die Zentrale der Verkehrsbetriebe. Es wurden 2 Männer aufgeboten, die sie suchen und zu uns Nachbarn heimbegleiten mussten. Das mit Namen und Adresse versehene Tram-Abonnement half ihnen, ihren Wohnort zu finden.
Die Söhne hätten sie schon längst gerne in der Obhut eines guten Altersheims gegeben, doch sie wehrte sich vehement. Die Schwierigkeiten aber wuchsen, und sie ahnte, dass sie letztendlich ihr Zuhause verlieren werde.
Eines Tages erzählte sie mir einen Traum: „S’ hät mer traumet“ (Es hat mir geträumt), ich sei in einem anderen Land. „Ich ha tänggt“ Ich habe gedacht, wo bin ich auch?
Ich fragte sie, ob es dort schön gewesen sei? Sie wusste es nicht. Ob es dort auch andere Leute gegeben habe? Ja, aber etwas habe gefehlt. „Es isch nüd dehai gsii“ (Es war nicht daheim).
So habe ich es notiert und dazu geschrieben: Wenn ich Annelis Hände reibe, um sie zu wärmen, fühle ich ihr Vertrauen in mich. Ich fühle, wie sie an meiner Hand geht, ein Reststück ihres Lebens ertastet. Wie heilsam das ist, dieses Begleiten, die Zuwendung beiderseits. Und ich weiss, dass ich doch so vieles nicht tun kann, was sie brauchte.
Annelis Lieblingscafé befand sich am Limmatplatz in Zürich. Wenn ich sie suchen musste, wurde ich oft dort fündig. Sie genoss ihr „Käffeli“" (eine Tasse Kaffee) und Schwarzwäldertorte. Manchmal habe ich sie auch dorthin begleitet und gesehen, wie ihr das Personal behutsam entgegenkam. Ich bemerkte auch, wie sie beinahe jauchzte, wenn sie das Lokal betrat und die wohlige Wärme fühlte. Sie zog sich vielmals zu wenig warm an. Ihr Wunsch nach Eleganz blieb bis zuletzt erhalten.
Zur Zeit der offenen Drogenszene im Platzspitz wurde sie oft von bettelnden Männern angesprochen. „Grosi, häsch mer en Stutz?" (Grossmutter, hast du mir einen Franken.) Und sie öffnete ihre Tasche und gab einen Batzen. Sie war auch dort beliebt und dadurch beschützt. Sie wurde nie überfallen.
Auf der Heimfahrt schaute sie, kaum ins Tram eingestiegen, sofort nach, ob der Hausschlüssel und das Portmonnaie noch da seien. Und das wiederholte sich in kurzen Intervallen, bis sie am Ziel war. Zu Hause dann, wenn sich die Tür problemlos öffnete, stiess sie einen tiefen und erlösenden Seufzer aus.
Und heute bin ich es, die schon im Tram nach dem Hausschlüssel sucht. Wenn ich dann melde, „S’ Anneli hät de Schlüssel“ (Anneli hat den Schlüssel bei sich), schmunzelt Primo vielsagend und vielwissend. Ja, Annelis Andenken ist immer noch lebendig.
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