Textatelier
BLOG vom: 04.01.2010

2010: Wie Bibersteiner mit Horaz zu Höhenflügen abhoben

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ 
Hermann Hesse hat das im Gedicht „Stufen“ gesagt. Und Wolfgang Schulze, der Präsident der Kulturkommission von Biberstein AG, hat das beim Neujahrempfang, zu dem die Bevölkerung ins Gemeindehaus eingeladen war, so zitiert. Zwischen Tischen mit Speckzopf und einheimischem Wein hatten wir uns vom Entrée des ehemaligen Schulhauses über ein paar Stufen in die obere Etage mit dem grossen Vorraum, in den Gemälde von früher erzählen, in ein üppiges Sitzungszimmer emporgearbeitet.
 
Dazu passte gerade die Fortsetzung des Hesse-Gedichts: 
„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.“ 
Diesen Teil des Gedichts unterschlug der auf Konzentration bedachte pensionierte Pfarrer Schulze, um uns – wohl um die 50 Personen – auf noch höhere Stufen der Geisteserkenntnis anzuheben. Der echte Priester sei immer Dichter gewesen, hat Novalis gewusst – Pfarrherren sind also vielseitig einsetzbar, sogar in Biberstein, das sich keiner Kirche erfreut. Der deshalb im Kultursektor tätige Pfarrer stellte in poetischer Art fest, wie fragil, verletzbar wir Menschen sind, wie wir unsere Höhen und Tiefen, unsere Freuden und Tsunamis, erleben. Wir können wohl planen, aber eine vollkommene Sicherheit gibt es nicht – das einzig Sichere ist vielleicht noch der Bibersteiner Neujahrsempfang, wie ich aus eigner Erkenntnis beifügen möchte – abgesehen von Satron-Produkten (siehe unten).
 
Pfarrer Schulzes Höhenflug landete zur Freude aller Nicht-Schwindelfreien nicht ganz oben im Himmel, sondern viel tiefer unten und in der Vergangenheit: bei Quintus Horatius Flaccus (65‒8 vor unserer Zeitrechnung), dessen Name auf Horaz verkürzt wurde, denn der Name Flaccus = Schlappohr schrie geradezu nach einem Ersatz. Horaz wurde im apulischen (römischen) Venusia geboren und genoss in Rom und auch noch in Athen eine glänzende Ausbildung. Wolfgang Schulze entführte uns in Horaz’ Begleitung in die Antike, um darzutun, dass manch eine Planung auch falsch sein kann, das heisst, man sich am bitteren Ende auf der falschen Seite findet.
 
Als rebellischer Student schloss sich Horaz den Cäsaren-Mördern an, setzte auf die falsche Karte. Denn zu seinem Pech wurden die Republikaner in der Schlacht bei Philippi durch die Heere des M. Antonius und des Octavian vernichtend geschlagen. Er musste flüchten; sein Besitz wurde enteignet, und schliesslich konnte er noch als Stadtschreiber mühsam sein Brot verdienen. Das Glück aber sollte wieder zurückkehren: Nach der Veröffentlichung der ersten Gedichte wurde Vergil (P. Vergilius Maro) auf Horaz aufmerksam, und er führte ihn in den Kreis des Kunstförderers Maecenas (C. Cilnius Maecenas) ein, der Horaz ein Landgut in den Sabinerbergen schenkte. Und auch dank der Freundschaft mit Augustus konnte er sich ausschliesslich der Dichtung widmen, erwies sich als unübertrefflicher Meister der Form. Er stellte mit gewissen Erziehungsabsichten Menschliches-Allzumenschliches dar, geisselte unter anderem Habgier und Schlemmerei, rief zur Beschränkung der fernen Hoffnung auf eine kurze Dauer und zum Klären des Weins auf – zum Leben mit Verstand. An dieser Stelle gönnte ich mir noch einen Schluck.
 
Und damit war ich bereits dem Praktizieren des Zitats vorausgeeilt, das nun im gegebenen Horaz’schen Zusammenhang unausweichlich war: „Carpe diem“ (Nutze den Tag, pflücke den Tag) ... und glaube so wenig wie möglich an den nächsten. Die Zuhörerschaft aus den gebildeten Bibersteinern hatte die im antiken Raum baumelnde Lebensweisheit ebenfalls im Voraus aus den handgestrickten Ärmeln der wärmenden Winterbekleidung geschüttelt. Man kennt hier Horaz’ Oden natürlich, insbesondere „Carmen 1,11“, hörte ohne Schlappohren sozusagen auf Augenhöhe zu, wenn Wolfgang Schulze, mit den hellenistisch-römischen Vorbildern ringend, antike Geisteshaltungen auf unsere banalisierte Zeit herunterbrach. Ein intellektuelles Vergnügen.
 
Das Tagepflücken habe nichts mit dem Hineinleben in den Tag zu tun, sagte der Referent, sondern das bedeute, dass jeder einzelne Tag so wertvoll wie das ganze Leben sei; jeder einzelne Tag sollte dementsprechend genossen werden. Der ehemalige Pfarrer, dessen Kanzel nicht erhöht war und aus einem mit farbigen Papierschlangen dekorierten Stehpult bestand, konnte einem Zugriff auf die Bibel nicht widerstehen – man verzieh es ihm. Aus dem „Prediger“ extrahierte der im Predigen geübte Referent diese Lebensrezepte: „Also: Iss dein Brot mit Freude, und trink deinen Wein mit frohem Herzen! Denn schon längst hat Gott Gefallen an deinem Tun. Trag immer freundliche und frische Kleidung und salbe dein Gesicht mit gutem Öl.“ Dabei zupfte Wolfgang Schulze schmunzelnd an seiner knallroten Fliege, dem Querbinder über dem Hemdkragen. Dies und das Geschenk des Lebens seien das Resultat für Arbeit und Mühsal unter der Sonne. Man müsse sich nach Kräften für das Wohl der Gemeinschaft einsetzen, sagte er fast wie zu sich selber, in Biberstein an der Aare glücklich gestrandet: „Wir leben in einer wunderbaren Welt, an einem schönen Ort.“
 
Meines Erachtens hätte dieser Feststellung sogar ein Vertauschen der Adjektive nicht geschadet: „Wir leben in einer schönen Welt, an einem wunderbaren Ort.“
 
Unter solchen Eindrücken gestalteten wir den 1. Tag von 2010 weiter, frischten Bekanntschaften auf und machten neue. So waren der französische Skulpteur Terence Baldelli (aus F-86420 Saires), 1933 in Paris geboren, und seine temperamentvolle, schwarzhaarig und südländisch wirkende Frau Anne in Biberstein zu Gaste. Baldelli, eine beruhigende, kräftige Erscheinung mit gewinnendem Gesichtsausdruck und grauem Bart, ist ein bekannter, berühmter Künstler, der mit Holz und Metall gestaltet, diese Werkstoffe bearbeitet, verbiegt, verzaubert und kleine und monumentale Werke schafft (Internet: http://baldelli.terence.free.fr/). Wir unterhielten uns über die südbündnerisch-italienische Herkunft seiner Familie. In Biberstein gibt es einige Werke von ihm in Privatbesitz. Auf dem neuen Friedhof Kirchberg (zwischen Biberstein und Küttigen) ist das Grab von Beat Sigrist, alt Gemeinderat und -ammann) von Terence Baldelli gestaltet: Ein unscheinbarer, sich nach unten öffnender und nach oben strebender Fächer in Bronze, der auf einer dreiseitigen Pyramide am Südende einer Gräberreihe steht.
 
Das Künstlerpaar Baldelli erschien in Begleitung von Hans Rudolf Schwarz, der in Biberstein wohnt und vor 30 Jahren die in Mägenwil AG domizilierte Firma Satron AG (www.satron.com) aufgebaut hat und leitet. Sie umfasst heute rund 100 Mitarbeiter, ist in aller Welt tätig und produziert knifflige elektronische Anlagen, die auch unter schwierigsten Umweltbedingungen dafür sorgen, dass immer Elektrizität fliesst, zum Beispiel bei Notbeleuchtungen, in Rechenzentren bis zu komplexen Prozesssteuerungen auf Bohrinseln, in Raffinerien oder Kraftwerken.
 
Es geht hier demnach um Zuverlässigkeit, um Kontinuität, um die oben erwähnte vollkommene Sicherheit. Und diese sind auch in Biberstein unter dem beliebten Gemeindeammann Peter Frei gewährleistet, der ebenfalls am Empfang teilnahm. Unser Blick aus dem Fenster des Gemeindehaus-Sitzungszimmers richtete sich über die Aare hinweg nach Rohr, das seit wenigen Stunden nun Aarau geworden war. Wir rätselten lange über die Ursachen der Fusionitis, wie sie allenthalben zu beobachten ist. Mit der Bemerkung „Einfach eine Mode“ wischte Peter Frei das Thema unter den Tisch, das für Biberstein ohnehin keines ist.
 
Vive in libertate aut morere (Lebe in Freiheit oder stirb). Wir haben uns für das Weiterleben im zauberhaften Biberstein entschlossen, wenn immer möglich über 2010 hinaus – und geniessen so unabhängig und selbstverantwortlich wie möglich jeden Tag.
 
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