BLOG vom: 13.01.2010
Bibersteiner Waldweide: Wirtschaftsform aus der Mottenkiste
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG (Textatelier.com)
Bei der Aarebrücke in Biberstein AG, nahe bei den Schulanlagen, steht eine offizielle Orientierungstafel, gezeichnet mit „Gemeinde Biberstein. Leben am Jurasüdfuss“ und mit Biber-Silhouette geschmückt. Sie erzählt in Wort und Bildern von der Waldweide dort unten im „Schächli“, welche auf der linken Aareseite neben einem asphaltierten Strässchen 2006 eingerichtet worden ist, wo einst der Kehrichtablagerungsplatz der Gemeinde war und heute noch einige Bündten (Gärten) sind. Das Land ist im Besitz der Gemeinde Biberstein; es wurde nach dem Bau des Kraftwerks Rupperswil-Auenstein im 2. Weltkrieg zwischen dem neuen, kanalisierten Aarelauf und dem Jurafuss aufgeschüttet. Die Beweidung begann im Sommer 2007. Der ehemalige Buschauffeur und Bauer Walter Senn aus der Buhalde in Biberstein gewährt dort 5 von seinen 9 Schottischen Hochlandrindern innerhalb eines Elektrozauns während der Vegetationsperiode (Juni bis Oktober) freien Auslauf. Er ist ein Pionier in der Haltung dieser Tiere in der Schweiz, kaufte die 2 ersten Tiere, Samantha und Yvonne, 1997 vom Zirkus Knie.
Der Wanderer erfährt von der Hinweistafel ferner, dass zahlreiche Lebensräume während Jahrhunderten durch die traditionelle land- und forstwirtschaftliche Nutzung entstanden sind. Als Beispiele werden blumenreiche Magerwiesen, lichte Föhrenwälder, Hochstamm-Obstgärten, Riedwiesen und Waldweiden genannt. „Viele wildlebende, einheimische Pflanzen kommen in solchen naturnahen Lebensräumen vor“, wird beigefügt. Zudem verschaffte mir Walter Senn viele Unterlagen über die Waldweide.
Früher war die Waldweide ein Teil der Nahrungsbeschaffung, ein Aspekt der Existenzgrundlage also, wie auch dem 1830 erschienenen Buch „Die Waldweide Und Waldstreu in Ihrer Ganzen Bedeutung Für Forst-Landwirtschaft Und National-Wohlfahrt“ von Johann Christian Hundeshagen nachzulesen ist; ich konnte das Buch als Nachdruck beschaffen. Es ging damals um den Futterertrag, den Pacht- und Kapitalwert der Weiden und das Gewerbseinkommen aus der Viehzucht; der Schaden in Bezug auf den Holzertrag wurde weniger stark gewichtet.
So liess man zum Beispiel in Eichen- und Buchenwäldern Schweine weiden, wodurch sich Grimmelshausens Simplicissimus im 17. Jahrhundert zu dieser Aussage veranlasst sah: „Auf den Eichen wachsen die besten Schinken.“ Und ich gebe hier unumwunden zu, dass ich gern solchen Schinken oder Speck essen würde, denn die Eicheln sollen ein kerniges Fleisch und besten, sicher schmackhaften Speck begründet haben. Eine ausgewachsene Stieleiche wirft im Herbst jeweils etwa 70 000 Eicheln ab. Nur Geräuchertes von Schweinen, die mit Buchennüsschen (Bucheckern) gemästet wurden, soll einen etwas tranigen Geschmack gehabt haben, wie ich im Buch „Auf den Eichen wachsen die besten Schinken“ des ETH-Forstingenieurs Christian Küchli, offenbar ein Feinschmecker, gelesen habe.
Die Eiche stand in hohem Ansehen, und die Schweinemast im Wald sicherte indirekt das Überleben von Eichen und Buchen. Vielerorts brauchte es spezieller Erlaubnisse, um Eichen zu fällen, so dass viele von ihnen bis zum natürlichen Zerfall erhalten blieben. Diese so genannten Höhlenbäume wirkten sich mit ihrem Totholz, an dem sich Insekten gütlich tun, segensreich auf die ökologische Vielfalt aus; vor allem Mittel- und Kleinspechte wissen das Insektenangebot zu schätzen.
Jedenfalls war in Mitteleuropa die Eiche der Baum, dem am meisten Wertschätzung entgegengebracht wurde, von Menschen und Schweinen gleichermassen. Christian Küchli notierte dazu: „Im Frankreich der Karolingerzeit wird der Waldwert in Schweinen angegeben, und Wilhelm der Eroberer teilt 1066 nach seinem Sieg bei Hastings das eroberte Südengland unter seine Vasallen nach der Anzahl der Schweine auf, die in den damals noch ausgedehnten Wäldern weiden können. Bis ins frühe 19. Jahrhundert rechnen Lehrbücher den Wert eines Eichenwaldes nicht nach dem mutmasslichen Holzertrag, sondern dem kapitalisierten Eichelerlös. Schinken und Speckseiten sind lange Zeit viel wichtiger als Balken und Bretter. Die Eiche ist ein Fruchtbaum, der Eichenwald steht nicht dicht geschlossen, sondern ist offener Weidewald.“
Der Weidewald im Schachen
Wenn sich die erwähnte Bibersteiner Orientierungstafel (OT) wie ein Waldweide-Propagandaplakat ausnimmt, so darf man dafür ein gewisses Verständnis aufbringen, obschon der Weidewald auch seine Gegner hat, deren Gründe noch darzulegen sein werden. In den beiden mit „patura“-Elektrozäumen eingefassten Waldabschnitten auf dem wenige Meter über die Aare angehobenen, teils vorhandenen, teils angestrebten lichten Zweiblatt-Eschen-Mischwald gedeihen mehrere jugendliche Eichen, aber auch Buchen, hohe, krumme Föhren, mächtige Sommerlinden, Ahorngewächse, eine Birke, Holunder usf. Eine hohe Biodiversität ist erwünscht und wird gefördert.
Im Schächli (kleiner Schachen) weiden auf den 310 Aren (Wald und Wiese) keine Schweine, sondern Schottische Hochlandrinder. Bei meinem Spaziergang vom 22.12.2009 aber waren sie längst im Festtagsurlaub, zumal man ihnen die Futtersuche in dem von Brombeerranken durchwirkten Wald unter der Schneedecke nicht zumuten wollte. Die Waldweide ist immer nur auf einige wenige Monate beschränkt.
Die zotteligen Highland Cattles mit ihren rostroten oder dunkelbraunen Fellen sind genügsam, essen, was anderes Vieh verschmäht: abgestandenes Gras und kleine Zweige, auch jene von Brombeeren; diese Tiere eignen sich auch zur Nachweide. Für ein Stück Brot tun sie alles. Mit grossen Brombeerranken aber würden die Hochlandrinder nicht fertig, mit ganz jungen schon, sagte mir Walter Senn bei einem Telefonat am 31.12.2009. Er müsse sie mit der Hacke entfernen, und vielleicht säe er dann Klee an. Ein anderes Problem sind die Hunde, die in die Waldweide eindringen, sich versäubern und die Rinder herumjagen. Nach der TV-Sendung „10vor10“ würden viele Hundehalter mit ihren Tieren zur nächsten Weide gehen – im Schutze der Dunkelheit ohne Kotbeutel.
Weil das Biberstein, das ich meine, nicht im schottischen Hochland liegt, braucht es schon gewisse Erklärungen zur Wahl dieser Tiere. Die OT: „Die ursprünglichen Nutztierrassen sind aus der modernen Landwirtschaft verschwunden. Die Organisation Pro Spezie Rara sowie private Tierhalter setzen sich für deren Erhaltung ein. Im Gegenzug hat der Naturschutz die extensive Beweidung wieder aufgegriffen. Statt mit aufwändiger Pflege wie Mähen und Entbuschen sollen so naturnahe Lebensräume nachhaltig bewirtschaftet werden. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass die Tiere gute Laubverwerter sind und mit ihrem Frass den aufkommenden Gehölzjungwuchs in Schach halten.“
Nimmt man es genau, geht es im Prinzip nicht nur um Steak-Frass, mit dem wir aufkommende Fleischberge in Schach halten, sondern ebenso um den Einsatz von einer Art Gratisrasenmähern im Wald, welche der Verbuschung entgegenwirken sollen. Und dazu muss man aus den rar gewordenen Arten die richtigen herauspflücken. Die OT dazu: „In diesem Gebiet weiden Schottische Hochlandrinder – eine alte Rasse des Hausrindes. Ihre Herkunft ist der Nordwesten Schottlands. Die Tiere gelten als gutmütig, robust und langlebig. Die Schottischen Hochlandrinder eignen sich hervorragend für eine extensive Weidebewirtschaftung.“
Die Gemeindebehörde weist dann noch darauf hin, es gehe vorerst um einen auf 5 Jahre befristeten Versuch, bei dem festgestellt werden soll, „wie sich der beweidete Lebensraum entwickelt und ob sich die erhoffte Vielfalt an Pflanzen und Tieren einstellt“. Die bisherigen Erfahrungen sind ausgezeichnet, und für Spaziergänger sind die Rinder eine Attraktion.
Tatsächlich scheint sich aus Gründen des Naturschutzes neuerdings ein wiedererwachendes Interesse am Weidewald einzustellen. Anderweitig werden neben Schweinen jetzt wieder Pferde, Schmalvieh wie Schafe und Ziegen sowie auch Rotwild als Rasenmäher im Wald eingesetzt.
Waldweide und Gesetz
Bei der Waldweide handelt es sich um eine Renaissance, nachdem diese landwirtschaftliche Bewirtschaftungsart vor allem deshalb in Misskredit geraten war, weil durch diese Doppelnutzung die subalpinen Berg- und Schutzwälder geschädigt, destabilisiert wurden. Man kreidete der Waldweide an, sie führe zur Überalterung und zur Entmischung der Wälder, was in Bezug auf Schutzwälder eine gewisse Berechtigung haben mag. Da ich mit meinen 73 Jahren selber ein überalterter Mensch bin, bin ich nicht eben ein begeisterter Anhänger des Begriffs „Überalterung“, deutet er doch darauf hin, dass die Gesellschaft den Nutzen des alt und allenfalls etwas morsch gewordenen Holzes nicht richtig einzusetzen und zu schätzen weiss.
Weidende Tiere können durch Viehtritt und Verbiss der Jahrestriebe die Regeneration hemmen, wobei selbstredend die Beweidungsintensität (Tierbesatzstärke) mitspielt. Auf kleinen Flächen sind die Rinder unterbeschäftigt und beginnen mit den Bäumen zu spielen, was diesen eher schlecht bekommt, womit nichts gegen Holzspielsachen gesagt sei.
In der Waldgesetzgebung ist die Waldweide in der Regel aufs Schandbänklein verwiesen, wie auch im Aargauer Waldgesetz vom 01.07.1997: „Die Waldweide, das Niederhalten von Bäumen sowie Ablagerungen gehören zu den unzulässigen nachteiligen Nutzungen (Art. 16 WaG). Das Gleiche gilt für das Reiten und das Fahren abseits von Waldstrassen und Waldwegen.
Ausnahmsweise können diese und andere nachteilige Nutzungen aus wichtigen Gründen durch die vom Regierungsrat bezeichnete Behörde unter der Voraussetzung bewilligt werden, dass sie mit den Zielen des Gesetzes im Einzelfall vereinbar sind.“
Die erste Einschränkung der Waldweide erfolgte im 1. schweizerischen Waldgesetz von 1874. Doch in Artikel 16 des jüngsten Bundesgesetzes über den Wald von 1991 wird die Waldweide nicht mehr explizit als nachteilige Nutzung bezeichnet. Nutzungen, welche die Funktionen oder die Bewirtschaftung des Waldes gefährden oder beeinträchtigen, sind jedoch unzulässig, und Rechte an solchen Nutzungen sind abzulösen; die Kantone erlassen die erforderlichen Bestimmungen. Die Waldgesetzgebung einiger Gebirgskantone sieht vor, umstrittene Weiderechte neu zu reglementieren (Graubünden und Uri). Die Einschränkungen der Waldweide können auch aus Befürchtungen hinsichtlich einer beeinträchtigten Holzqualität erfolgen.
Der Bibersteiner Versuch wurde deshalb zusammen mit der Abteilung Wald des Departements Verkehr, Bau und Umwelt entwickelt und musste bewilligt werden.
Fazit mit etwas Marx
Unsere Wälder sind in der Regel überjüngt, das heisst gerade deshalb arm dran, weil ihnen alte Bäume fehlen. Gleichaltrigkeit bedeutet immer auch Gleichförmigkeit, die den Lichteinfall erschwert und zur Monotonisierung führt. Das kann wissenschaftlich belegt werden: Der Waldstrukturtyp „vielschichtig-offen“ ist in den beweideten Wäldern am häufigsten vorzufinden, während in den unbeweideten Wäldern der Strukturtyp „einschichtig dicht“ am häufigsten vorkommt (Mayer und Stöckli, 2003).
Die Waldweide, die für Schutzwälder wenig geeignet ist, hat, wie erwähnt, ihre Licht- und Schattenseiten. Wenn man aber daran denkt, dass sie eigentlich durch die Stallhaltung des Rindviehs verdrängt wurde, wird einem bewusst, dass es sich um eine naturnähere, ursprünglichere Landwirtschaftsform handelt. Dabei ist selbstverständlich jede Art von Bewirtschaftung vom menschlichen Streben nach Nutzen und Wert geprägt, so wandelbar dieses in den Zeitenläufen auch sein mag. Und die Natur hat sich gefälligst anzupassen.
Jedes Wirken und Werken des Menschen hat Auswirkungen. Der philosophische Sozialreformer Karl Marx (1818‒1883) sah es so: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur ausser ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmässigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmässigen Formen der Arbeit zu tun.“
Der Mensch ist, etwas frei interpretiert, also auch eine Art Tier, jedenfalls fest in die Natur eingebunden. Deshalb, würde ich meinen, sollten wir doch gleich die mit uns lebenden Rinder als Hauptbetroffene über ihre Meinung zum Weidewald befragen. Ich werde sie zur Rede stellen, sobald sie nach Ausbruch der Vegetationsperiode wieder im Bibersteiner Schachen Laub und Büsche verzehren und sich ihre Mäuler an den Brombeerranken verstechen. Wie schmeckt’s?
Zu den Quellen
Hundeshagen, Johann Christian: „Die Waldweide Und Waldstreu in Ihrer Ganzen Bedeutung Für Forst-Landwirtschaft Und National-Wohlfahrt“, Verlag Heinrich Laupp, Tübingen 1830.
Küchli, Christian:„Auf den Eichen wachsen die besten Schinken“, Verlag Im Waldgut, CH-8500 Frauenfeld 1987.
Mayer, A.C., 1999: „Verjüngung in Bestandeslücken eines subalpinen Hochstauden-Fichtenwaldes“, Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen 150: 171–177.
Stöckli, V., 2002: „Der Bannwald. Lebensgrundlage und Kultobjekt“. In: Pfister, C. (Hrsg.): Am Tag danach – Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000. Bern, Stuttgart, Wien, Haupt. 101–112.
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