Textatelier
BLOG vom: 09.02.2010

Zahnbrecher im Mittelalter: Zähne und Hühneraugen entfernt

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Denn noch bis jetzt gab´s keinen Philosophen,
Der mit Geduld das Zahnweh konnt´ ertragen.“
(Benedikt in Shakespeare, „Viel Lärm um Nichts“)
 
„Kann es etwas Schlimmeres geben als Zahn- und Ohrenschmerzen gleichzeitig?“ klagte ein Freund.
„Gibt es“, erwiderte Mark Twain. „Rheumatismus und Veitstanz gleichzeitig.“
 
*
 
„Zum Glück bekommst Du Deine Zahnbehandlung nicht im Mittelalter, sondern heute, da stehen den Ärzten ja gute örtliche Betäubungsmittel zur Verfügung.“ Dies hörte ich, bevor ich zu Dr. Dr. med. Georg Beitinger, Arzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, nach Lörrach D ging. Er führte bei mir eine Wurzelspitzenresektion durch. Diese war notwendig, um den Zahn, der eine Brücke stabilisiert, zu erhalten. Nun, die Operation verlief gut: Die Wurzelspitze wurde abgetragen und eine Zyste und das Entzündungsgewebe entfernt. Wie ich mir sagen liess, sind die Erfolgsaussichten gut. Eine mögliche Alternative ist der Zahnersatz.
 
Blicken wir einmal ins Mittelalter zurück. Da waren Zahnbehandlungen beziehungsweise das Zähneausreissen eine Tortur. Oft wurden die Behandlungen auf Messen und Jahrmärkten durchgeführt. Kurpfuscher und Quacksalber hatten Hochkonjunktur. Ich kann mir lebhaft vorstellen, mit welchen schmerzverzerrten Gesichtern die Geplagten sich die Prozedur des Zähneausreissens unterzogen. Da hätte sicherlich auch ich nicht gut ausgesehen.
 
Es gab im Mittelalter einige Heilmittel gegen Zahnleiden. In den Schriften des Constantinus Africanus (um 1080) sind 185 Pharmaka aufgeführt. So kamen zum Beispiel Weinessig, Knoblauch, Zimt, Alaun, Arsen, Kamille, Wachs, Bilsenkraut, Honig und Myrrhe zur Anwendung. Auch die Nelke wurde als zahnschmerzstillendes und wundheilendes Mittel verwendet.
 
Lange Zeit wurde bei uns das Bilsenkraut bei Entfernung von „Zahnwürmern“ eingesetzt. Dazu leitete man den schmerzstillenden Rauch des Bilsenkrautes mittels eines Trichters auf den kranken Zahn und holte ihn mit dem weissen Kern des Bilsenkrautsamens auf spektakulärer Weise heraus. Die oft naiven und wundergläubigen Zuschauer waren verblüfft und begeistert.
 
Die Zahnpflege und Zahnheilkunde hatten in den alten Hochkulturen einen hohen Stellenwert. Die ersten Brücken wurden schon von den Ägyptern zirka 2500 v. u. Z. angefertigt. So wurden die unteren Backenzähne mit Golddraht geschient. Erstaunlich war die Fähigkeit der Etrusker bei der Anfertigung von  Zahnbrücken. Die in den Lücken eingefügten Zähne wurden nicht mehr mit Draht, sondern mit Bändern und Ringen verbunden.
 
Arzneien und Zahnbrecher
In meiner Anekdotensammlung entdeckte ich einige Episoden über Zahnärzte und Zahnbrecher. Nun weiss ich, was mir hätte blühen können, wenn ich damals unter die Bader oder fahrenden Zahnärzten geraten wäre.
 
Im 16. Jahrhundert und auch später hatten dubiose Medikamentenverkäufer und fahrende Zahnbrecher Hochkonjunktur. Ihre Produkte, die sie marktschreierisch anboten, wurden ihnen förmlich aus den Händen gerissen. So verkauften diese Scharlatane beispielsweise Linsenbrei gegen Abszesse im Mund und Pfefferbrei gegen Zahngeschwulst.
 
Gesunde Zähne, gute Verdauung
Bemerkenswertes aus der Kampfschrift der Vereinigten Zahnärzte Basels vom 28.11.1857: „Die ganze Welt schätzt gesunde und schöne Zähne als eine wahre Zierde und als Gegenstand beneidenswerther Schönheit. Welchen grossen Einfluss die Zahnbildung, Zahnstellung, Zahnmangel oder ungekränkter Zahnbesitz, Reinheit der Zähne, Schmelz und Farbe, Frischheit derselben, auf den Gesichtsausdruck, Mundbildung und Stellung beim Sprechen, uns so auf das soziale Zusammenwohnen haben kann, ist bekannt. Das Lebensglück mancher Menschen wurde durch Schadhaftigkeit oder Schönheit der Zähne zerstört oder begründet, was man begreiflich finden wird, wenn man erwägt, welchen physiognomischen Eindruck dieser oder jener Zahnzustand auf unsere Nebenmenschen macht. Die Kauvorrichtung ist für die Digestion der Speisen von ausserordentlichem Einfluss. Eine gute Verdauung hängt von einer guten Verkauung der Speisen im Munde ab, so dass zahnlose Individuen oder solche mit schadhaften Zähnen bestimmte Speisesorten entweder gar nicht mehr geniessen, oder sie doch nur in einem ungeeigneten Zustande zu sich nehmen. Von dem Kau- und Verdauungsgeschäft hängt die Blutbildung und von dieser die Ernährung des ganzen Körpers ab. Wie viele gastrische und andere Gesundheitsstörungen durch schadhafte, unreine Zähne oder durch Zahnmangel bedingt werden, ist jedem Sachverständigen bekannt. Wieviele solcher Kranken werden vom Arzte wochen- und monatelang nutzlos mit allerhand inneren Mitteln behandelt; der kundige Zahnarzt erkennt beim ersten Blick in den Mund die Quelle des Übels, er nimmt den angehäuften Zahnschmutz hinweg, verstopft die schmerzende und das Kauen hindernde Öffnung im Zahne, setzt eine neue Zahnreihe oder ein ganzes Gebiss an die Stelle des Fehlenden, zieht einen scheinbar unschuldigen, aber höchst schadhaften Zahn aus: und siehe da, die Magenleiden, die Verdauungsstörungen und andere Schmerzen verschwinden.“
 
Fahrender Zahnarzt entfernte auch Hühneraugen
Auf dem Zürcher Jahrmarkt verteilte 1783 ein fahrender Zahnarzt folgendes Flugblatt: „Herr Joseph Cherf, aufgenommener Land-Zahn-Operateur in der Grafschaft Limburg-Speckfeld, von Sommershausen bey Würzburg, auch zugleich privilegierter Vorder-Oesterreichischer Zahn-Arzt, welcher mit hinlänglichen Attestatten von seiner besitzenden Geschicklichkeit von Stuttgard, Karlsruh, Mannheim, Zweybrücken, Pirmasenz und Darmstadt, Würzburg, Ulm, München, Regensburg, Schaffhausen, wie auch von vielen Reichsfürsten, Grafen etc. versehen ist, bietet mit hoher gnädigster Erlaubnis dem geehrten Publikum seine Dienste in folgenden Stücken an: Er nimmt schadhafte, hohle, auch bereits abgebrochene Zähne oder deren stumpfe Reste, zum Theil ohne Instrumente, blos mit den Fingern heraus, wenn sie noch so tief gewurzelt sind. Conserviert, brennt oder füllt hohle Zähne aus, und giebt er ihre Festigkeit wieder. Setze neue Zähne ein, und giebt ihnen eine Dauerhaftigkeit auf 10 Jahre; wackelnden Zähnen giebt er ihre Festigkeit wieder, und dem mangelnden Zahnfleisch hilft er im Wachsthum nach, auch dem Brand der Zähne wehret er, dass solcher nicht weiter nachkommt, befreyet die Zähne vom Weinstein, und den Mund vom üblen Geruch. Ferners nimmt derselbe in Zeit von 4 Minuten die Hühneraugen heraus, ohne Schmerzen und Bluten. Gedachter Land-Operateur, welcher im Gasthofe zum Schwerdt logiert, gedenket nur ein paar Tage hier zu verbleiben. Er hofft mit seinen Operationen dem hochgeehrten Publico noch mehrere Satisfaction zu leisten, als in dem Avertissement gefunden wird.“
 
Quelle der letzten 3 Episoden: „100 Jahre Zahnärzte-Gesellschaft Basel“ (1886‒1986) von Eduard Frei, Basel 1986.
 
Die damaligen fahrenden Zahnärzte begnügten sich also nicht nur mit Zahnbehandlungen, sondern waren auch tüchtige Geschäftsleute, indem sie gleich die Hühneraugen entfernten. Unglaublich ist die Fingerfertigkeit des Herrn Cherf, der mit blossen Händen Zähne zog. Da würde so mancher Zahnarzt von heute über die mangelnden Hygienemassnahmen von damals die Hände über den Kopf zusammenschlagen.
 
Es kam schon vor, dass unsere Eltern und Grosseltern sich den Zahnarztbesuch sparten, indem sie lockere Zähne selbst zogen. Entweder mit einer Zange oder dem obligatorischen Bindfaden. Die Wunde wurde dann mit einem Schnaps desinfiziert. Auch so manches Kind kam in den „Genuss“ des Heraussreissens von lockeren Zähnen. Bei Milchzähnen half ich mir, die lockeren Zähne mit der Zunge so lange zu malträtieren, bis sie herausbrachen. Bei einem Milchzahn ist dies relativ einfach zu bewerkstelligen, da sich die Wurzel teilweise schon aufgelöst hat, um Platz zu schaffen für die 2. Zähne.
 
Noch einige Worte zu Zahnärzten. Während meiner Tätigkeit bei Thomae in Biberach an der Riss, suchte ich einen Zahnarzt auf, bei dem ich sofort einen Termin bekam. Er war als „Viehdoktor“ verschrien, da er die Geplagten nicht immer sanft behandelte. Nun, ich war unerschrocken und suchte ihn trotzdem auf. Der Arzt führte die Instrumente etwas grob in meine Mundhöhle herum, aber die Behandlung war erfolgreich. Er blieb mein Hauszahnarzt bis zu meinem Wegzug. Vorteil: Ich bekam immer sofort einen Termin. Die „Weicheier“ flüchteten wohl zu anderen Zahnärzten.
 
Lustiges über Zahnärzte
Ein Mann beglich seine Zahnarztrechnung mit falschen Banknoten. Zur Rede gestellt, verteidigte er sich mit dem Hinweis, die ihm eingesetzten Zähne seien auch nicht echt.
 
Der Schwiegersohn des Zahnarztes weigerte sich, das ihm in Rechnung gestellte Gebiss seiner Frau zu bezahlen: „Ersatzteile kostenlos.“
 
Referenz für einen Zahnarzt: „Alle Zähne, die er mir einsetzte, sind zu meiner vollen Zufriedenheit ausgefallen.“
 
Zahnarzt zum Patienten: „Es tut jetzt ein wenig weh. Bitte den Mund weit aufmachen und die Zähne zusammenbeissen.“
 
Ein Zahnarzt beantragte Armenrecht: Er lebe von der Hand in den Mund.
 
Zahnarzt = Ein Mann, der seinen eigenen Zähnen Arbeit verschafft, indem er anderen die Zähne wegnimmt.
 
Wilhelm Busch und der hohle Zahn
In seiner Bildergeschichte „Der hohle Zahn“ schildert Wilhelm Busch die enormen Schmerzen des Friedrich Kracke. Er versucht alles Mögliche, um sich von den Schmerzen zu befreien. Aber das Rauchen einer Zigarre, das Tauchen seines Kopfes in einen Wasserkübel oder das Wärmen am Kachelofen oder ein Pflaster hinters Ohr geklemmt und das Schwitzen im Bett half nicht. Weil seine Frau noch mehr einheizen möchte, zückt der die Rute und verfolgt sie schmerzgepeinigt. Diese drastische Massnahme ist wohl des Guten zu viel. Schliesslich sucht er doch einen Zahnarzt auf, der pfeiferauchend (!) dann den hohlen Zahn zieht. Die Schmerzen sind weg.
 
Hier den Text zur Bildergeschichte (diese kann unter http://gutenberg.spiegel.de nachgesehen werden. 
Oftmalen bringt ein harter Brocken
Des Mahles Freude sehr ins Stocken.
 
So geht´s nun auch dem Friedrich Kracke;
Er sitzt ganz krumm und hält die Backe.
 
Um seine Ruhe ist`s getan;
Er biss sich auf den hohlen Zahn.
 
Nun sagt man zwar: es hilft der Rauch!
Und Friedrich Kracke tut es auch.
 
Allein schon treiben ihn die Nöten,
mit Schnaps des Zahnes Nerv zu töten.
 
Er taucht den Kopf mitsamt dem Übel
In einen kalten Wasserkübel.
 
Jedoch das Unheil will nicht weichen,
Auf andre Art will er´s erreichen.
 
Umsonst! – Er schlägt, vom Schmerz bedrängt,
Die Frau, die einzuheizen denkt.
 
Auch zieht ein Pflaster hinterm Ohr
Die Schmerzen leider nicht hervor.
 
„Vielleicht“ – so denkt er „wird das Schwitzen
Möglicherweise etwas nützen.“
 
Indes die Hitze wird zu gross,
Er strampelt sich schon wieder los;
 
Und zappelnd mit den Beinen,
Hört man ihn bitter weinen.
 
Jetzt sucht er unterm Bette
Umsonst die Ruhestätte.
 
Zuletzt fällt ihm der Doktor ein.
Er klopft. – Der Doktor ruft: „Herein!“
 
„Ei, guten Tag, mein lieber Kracke,
Nehmt Platz! Was ist denn mit der Backe?
 
Lasst sehn! Ja, ja! Das glaub´ ich wohl!
Der ist ja in der Wurzel hohl.“
 
Nun geht der Doktor still beiseit.
Der Bauer ist nicht sehr erfreut.
 
Und lächelnd kehrt der Doktor wieder,
Dem Bauern fährt es durch die Glieder.
 
Ach, wie erschrak er, als er da
Den wohlbekannten Haken sah!
 
Der Doktor, ruhig und besonnen,
Hat schon bereits sein Werk begonnen.
 
Und unbewusst nach oben
Fühlt Kracke sich gehoben.
 
Und rack – rack! – da haben wir den Zahn,
Der so abscheulich weh getan.
 
Mit Staunen und voll Heiterkeit
Sieht Kracke sich vom Schmerz befreit.
 
Der Doktor, würdig, wie er war,
Nimmt in Empfang sein Honorar.
 
Und Friedrich Kracke setzt sich nieder
Vergnügt zum Abendessen nieder. 
Anmerkung: Wer schon einmal von Zahnschmerzen geplagt war, kann das Verhalten des Herrn Kracke nachvollziehen. Bevor ich zum Zahnarzt ging, hatte ich Schmerzen, besonders beim Draufbeissen, so dass ich immer auf der anderen Gebissseite kauen musste.
 
Es wurde mir empfohlen, doch mit Schnaps, am besten mit 80%igem Stroh-Rum zu spülen. „Da gehen sämtliche Bakterien kaputt“, wurde mir glaubhaft versichert. Ich spülte zwar, aber die Schmerzen kamen wieder. Auch Spülungen mit Salbeitee führte ich durch, die aber auch nicht den gewünschten Erfolg brachten, da ja der Entzündungsherd sich unterhalb der Zahnwurzel befand. Nach der Behandlung und dem Fädenherausziehen spülte ich laufend mit Salbeitee, um oberflächliche Entzündungen zu vermeiden.
 
Literatur
Busch, Wilhelm: „Und die Moral von der Geschicht“, Sämtliche Werke I, Bertelsmann Verlag, München 1982.
Puntsch, Eberhard: „Witze, Fabeln, Anekdoten, Handbuch“, München 1968.
Reddig, Wolfgang F.: „Bader, Medicus und Weise Frau“, Battenberg Verlag, München 2000.
Schipperges, Heinrich: „Geschichte der Medizin in Schlaglichtern“, Meyers Lexikonverlag, Mannheim 1990.
 
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