Textatelier
BLOG vom: 14.02.2010

Minikrimi statt Liebesroman: Valentine und der Schurke

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London

 
Vorwort: Selbst eine einzige Rose kostet am Valentinstag in London £ 3. Die anspruchsvolle Valentine wird sich gewiss nicht mit einer Rose abspeisen lassen. Reizwäsche, Parfüm, Handtaschen oder Schmuck erwartet die Umworbene. Und erst noch eine Mahlzeit in einem Luxusrestaurant. Dabei darf eine Flasche Champagner nicht fehlen. Wer kann das bezahlen? Und natürlich darf auch der Valentino nicht leer ausgehen. All das hat so wenig mit Liebe zu tu, wie diese Valentine-Geschichte. Der Mädchenname Joy bedeutet Freude. Leider wurde sie grausam um ihre Valentine Freude geprellt.
*
 
Joy, ein frühreifer Backfisch, traute ihren Augen kaum: Statt eine einzige Valentine-Karte erhielt sie ihrer 10. Zuerst jubelte sie, doch als sie die Texte las, wurde sie äusserst besorgt. Die 1 handgeschriebene Karte hatte sie erkannt, denn sie stammte von ihrem Freund. Die restlichen waren vom PC in verschiedenen Schriftarten ausgedruckt und auf die Karten geklebt.
 
Der Inhalt dieser Karte ängstigte sie: „Ich habe Dich beobachtet, ohne dass Du es bemerkt hast, und zwar im ,Dog and Fox’ (das ‚Hund und Fuchs’-Pub). Wie leicht Du Dich mit Männern einlässt, ist bedenklich. Als meine Valentine gehörst Du mir allein. Ich werde Dich im Auge behalten!“
 
Eine andere Karte stellte schamlose Fragen über ihre Unterwäsche, und der Kerl schlug vor, dass sie keinen BH tragen sollte. Es kam noch schlimmer, als der Absender fragte, ob sie noch eine Jungfrau sei. Einer Karte war ihr Foto angeheftet und zeigte sie unterwegs zum College. In Fettschrift und mit Fragezeichen versehen, las Joy auf einer Karte den Satz: „Hast Du Deine Hausaufgaben im Bett gemacht und dabei Privatunterricht genossen?“
 
Joy, sei vermerkt, war die umhegte Tochter einer wohlhabenden Familie. Ihr Vater war ein vielbeschäftigter Anwalt; ihre Mutter spielte gern Bridge und hatte einen verfeinerten Geschmack für Mode und erschien immer schick gekleidet an gesellschaftlichen Anlässen. In dieser gut bürgerlichen Umwelt wurde Joy verwöhnt. Sie besuchte die Reitschule und genoss Tennisunterricht. In Joys Privatschule – eine so genannte „finishing school“ – werden Töchter in gesellschaftsfähige Damen verwandelt. Selbst dort war Joy bestenfalls eine mittelmässige Schülerin. Im Frühjahr soll sie ihre praktische Ausbildung im elitären London „College of Secretaries“ beginnen. Dort werden Mädchen zu PA (Personal Assistants oder Direktionssekretärinnen) ausgebildet.
 
Joy freute sich des Lebens – unterhielt sich im „Face Book“, „twitterte“ viel und wurde zu vielen Privatpartys eingeladen. So lebte Joy in einer heilen Welt in einer Grossstadt, die viele Kehrseiten hat, die sie nicht berührten. Wie viele Mädchen ihres Alters war Joy naiv, gutgläubig und leicht beeinflussbar.
 
„Das ist doch alles Unsinn“, raffte Joy diese Karten zusammen und wollte sie zerreissen, doch besann sich eines Besseren und versteckte sie in ihrer Schublade. Diese Karten hatten Joy arg verunsichert „Wer kann mir so etwas antun?“, fragte sie sich. War sie ausser Haus, fühlte sie sich jetzt beständig verfolgt und bedroht. Ihrem Freund entging nicht, dass Joy betrübt war. Aber es dauerte eine Weile, bis sie ihm gestand, dass sie furchtbare Valentine-Karten erhalten hatte. „Sei ja vorsichtig“, meinte er. „Heute darfst du niemand trauen, selbst mir nicht“, fügte schalkhaft hinzu.
 
„Ja, das weiss ich“, sagte sie abwinkend, „schliesslich lese ich die Zeitung“.
 
„Verlass dich auf mich. Ich werde dich beschützen.“ Das war leichthin gesagt. Sie glaubte ihm aufs Wort.
*
Nach langem Hin und Her zeigte sie schliesslich die Karten ihrem Vater. „Gut, dass du sie nicht weg geschmissen hast. Übrigens, wer ist John?“ wollte er wissen. Er war überrascht, dass Joy schon einen festen Freund hatte, aber liess sich das nicht anmerken und stellte keine weiteren Fragen.
 
Natürlich war ihr Vater alarmiert, doch wollte er seine verängstigte Tochter nicht zusätzlich beunruhigen. „Einige Vorkehrungen sind angebracht, wenn du damit einverstanden bist. Ein guter Freund von mir, ein Psychologe, mag uns beraten. Er hat viel klinische Erfahrung und kennt besser als wir alle die Beweggründe eines derart abnormalen Verhaltens. Ausserdem wäre es gewiss wünschenswert, wenn auch dein Freund mit dabei sein könnte, zumal ihm dein Wohl am Herzen liegt und er deine Besorgnis teilt. Zusammen werden wir diesen Schurken gewiss bald entlarven.“ Zögernd willigte Joy ein. Ein Treffen wurde vereinbart.
 
Als gewiegter Anwalt hielt ihr Vater das Gespräch im Griff. „Wie ihr bemerkt habt, habe ich einen weiteren Kollegen zum Gespräch eingeladen. Er stellte Sir Joshua vor, einen älteren Mann, den er als seinen ,Freund mit ausgeprägtem Menschenverstand und Findigkeit‘, vorstellte.
 
Joys Vater hatte wohlweislich verschwiegen, dass er inzwischen seinen Sohn, einen pfiffigen IT-Berater, u. a. auch in „social networking systems“ bewandert, damit beauftragt hatte, John im Netz auf- und nachzuspüren. Was sein Sohn ausfindig machen konnte, verdichtete seinen Verdacht, doch reichte als Beweisgrundlage keineswegs aus. So wurde das Gespräch wie eine Theatervorstellung inszeniert. Weder Joy noch John wussten um diesen Hintergrund. Auch blieben alle Optionen offen, denn es war durchaus möglich, dass diese Valentine-Karten überhaupt nichts mit John zu tun hatten.
 
In der Begrüssung dankte ihr Vater John gebührend für seine Teilnahme und seinen Beitrag zu allfällig zu treffenden Schutzmassnahmen. Anschliessend gab er das Wort an den Psychologen, Herrn Dr. Robert Ott. „Was könnten mögliche Motive sein? Wer bedroht ein junges Mädchen mit solchen abwegigen und unflätigen Karten? Mehr und mehr Kinder suchen heute „Cyber“-Freunde über „Internet Chat Rooms“, und setzen sich dabei vielen Gefahren aus. Sie wissen nicht, wen sie im Internet finden oder wer sie aufgabelt. Immer wieder taucht das Wort „grooming“ auf. (am Besten mit „striegeln“ übersetzt). Damit werden besonders junge Mädchen für Sex „zurechtgebügelt“ oder eingeschüchtert von Psychopathen aller Art, meistens Männer mittleren Alters, oft Familienväter mit eigenen Kindern. Ob dies in diesem Fall zutrifft, scheint mir eher unwahrscheinlich.“
 
Dem Beobachter blieb Joys Verlegenheit nicht verborgen. John folgte Dr. Otts Darlegungen merklich interessiert. Eines ist aus den Karten zweifellos ablesbar: der pornographische Einschlag. Genau das ist es, was uns hier besorgt. Was lässt sich dagegen tun? Welchen Schutz können wir Joy bieten?“ beschloss Dr. Ott seine Kurzanalyse.
 
Dazu meldete sich Sir Joshua, ein Polizeikommissionär im Ruhestand, der, wie gesagt ‚ bloss als Freund mit gesunden Menschenverstand vorgestellt worden war. „Niemand, ausser Politikern, können rund um die Uhr beschützt werden. Ich empfehle, dass Joy vorderhand nicht allein ausgeht, sondern nur in Begleitung von Freunden und anderen ihr vertrauten Leuten. Joy verdient es, ein weiterhin ein unbeschwertes Leben zu führen. Allenfalls kann argumentiert werden, dass bei öffentlichen Veranstaltungen ein Privatdetektiv im Hintergrund zugegen sein sollte, der nach dem möglichen Übeltäter Ausschau hält. Es versteht sich von selbst, dass Joy unter keinen Umständen Getränke von Unbekannten annehmen darf. Viel zu leicht kann dem Getränk eine Droge beigemischt werden. London ist ein gefährliches Pflaster geworden!“
 
Jetzt war der Augenblick für John gekommen. Beinahe unterwürfig anerbot er sich, Joy wo und wann immer beizustehen. Joys Vater verdankte dieses Angebot. Damit war dieses Treffen beendet. Die vorgeschlagen Massnahmen wurden von Joys Vater – und auch von Joy selbst – als vernünftig und machbar angenommen.
*
Hinter den Kulissen besprachen anschliessend Vater und Sohn, Dr. Ott und Sir Joshua, was die Internet-Nachforschungen über John bisher erbracht hatten. „Er ist 28 Jahre alt, also 12 Jahre älter als Joy“, begann der Sohn. Soweit feststellbar, hatte John sie vor 4 Monaten im Netz aufgegabelt. Er teilt eine Mietswohnung mit 3 anderen Leuten beim Belsize Park, in einem guten Distrikt. Diese und andere Fragmente müssen dringend ergänzt werden, eine Aufgabe, die Sir Joshua auf sich nehmen wird. Er werde den Verdächtigen auch „beschatten“ lassen.
 
Eine Woche später schon erfuhr Joys Vater Folgendes: John war geschieden und hat 2 Kinder, Knaben im Alter von 3 und 6 Jahren, die bei ihrer Mutter in Sutton lebten. Wiewohl er keiner geregelten Arbeit nachging und keine Arbeitslosenunterstützung bezog, lebt John auf relativ grossem Fuss. Er verkehrt regelmässig mit einem reichen Ägypter, der ein luxuriöses Haus in Park Lane besass. Ohne es vorderhand nachweisen zu können, vermutete Sir Joshua, dass John dessen Faktotum war. Der Ägypter gab viele Partys, die oft ein Wochenende dauerten – und gemäss Aussagen verschiedener Nachbarn – viel Lärm verursachten. „Ein wahres Gelage“, klagte ein Nachbar, „verbunden mit viel Frauengekreisch, das mir und meiner Familie viel Schlaf raubt.“ Bisher war die Polizei machtlos, trotz wiederholter Klagen, die eingereicht worden sind.
 
Aber dies alles erklärte noch lange nicht, was John, sofern er wirklich für die Valentine-Karten verantwortlich ist, damit bezweckte. Der Vater unterrichtete seine Tochter über die Ergebnisse dieser Nachforschung und verhörte sie behutsam. Wie erwartet, glaubte ihm Joy zuerst kein Wort. Schliesslich brach sie heftig schluchzend zusammen. Nach und nach entrang er ihr Geständnis. Schon beim 2. Treffen mit John hatte er sie in einem Hotel verführt. Sie war ihm hörig geworden. John hatte sie ausgiebig fotografiert und ihr erst noch vorgeflunkert, sie sei zum Supermodell prädestiniert, und er könne, dank seiner Kontakte mit bekannten Agenturen, ihre Karriere lancieren. Waren diese Fotos aufgreifbar? Was konnte ihr Vater als Anwalt tun? Joy war knapp 16 Jahre alt geworden. Aussage stand gegen Aussage. War John als Faktotum dazu angestellt, Joy für den Ägypter zu verschachern? War dies sogar der Fall einer „traité des blanches“ (Handel mit weissen Sexsklaven)? Die Geschichte wird immer verwickelter. 
 
Ohne Widerrede zu dulden, schickte er Joy mitsamt ihrer Mutter zu Verwandten nach Schottland. Er wollte die Fahndung auf eigene Faust vorantreiben und nahm Verbindung mit Johns geschiedener Frau auf. „Oh dear!“ sagte sie betroffen, nachdem er ihr den Grund seines Anrufs mitgeteilt hatte, und willigte ein, dass er sie aufsuche. Wiewohl sich sein Besuch als aufschlussreich erwies, konnte er John nicht beikommen. Tatsächlich hatte John immer wieder junge Mädchen übers Internet aufgegriffen und sich keinen Deut um seine Familie gekümmert. Seine Frau hatte die Scheidung eingereicht. Im letzten Augenblick erinnerte sie sich, dass Johns PC noch immer bei ihr eingelagert war. „Er hat sich wohl einen neuen angeschafft“, vermutete sie. „Sie können ihn mitnehmen, wenn sie wollen“, anerbot sie. Er nahm ihr Angebot an und überliess das Gerät seinem Sohn, damit er es aufknacke und durchsuche.
 
2 Wochen waren verstrichen, als John ihm telefonierte und klagte, dass er Joy nicht erreichen konnte und sie seine Emails und Handy-Anrufe nicht beantwortete. „Sie hat leider einen Nervenzusammenbruch erlitten“, sagte ihr Vater ausweichend. „ Ich nehme an, dass sie sich, nachdem sich ihr Gesundheitszustand verbessert hat, wieder mit ihnen in Verbindung setzen wird …“, sagte er und beschloss das Gespräch. John durfte keinesfalls Lunte riechen.
 
Joy war bereits wieder zu Hause, als eine Karte mit Golddruck ins Haus flatterte und sie zu einer Party in Park Lane einlud. „RSVP“ war neben der Adresse des Hauses vermerkt, das dem Ägypter gehörte.
 
Im Beisein von Sir Joshua und Herrn Dr. Ott wurde die reiche PC-Ausbeute seines Sohns gesichtet. Ja, John hatte immer wieder Mädchen im Internet aufgelesen. Eine Sammlung von Mädchenaufnahmen wurde ebenfalls aufgefunden. „Wirklich ein Dreckkerl“, entrüstete sich Sir Joshua. Der ehemalige Polizeikommissar übergab den PC seinen Kollegen. Einige der im PC entdeckten Mädchen wurden als vermisst gemeldet, waren spurlos verschwunden. „Diese Spuren zu verfolgen, wird viel Zeit kosten“, sagte Sir Joshua. „Aber besser jetzt zuschlagen, als abwarten“, bestand der Anwalt. „Sind Sie bereit, ihre Tochter als Lockvogel ...“, wollte Dr. Ott wissen. „Auf keinen Fall!“ winkte Joys Vater barsch ab. Dr. Ott nickte beifällig „Das dachte ich mir.“
 
Wiederum wusste Sir Joshua Rat: „Lassen sie ihre Tochter die Einladung formell und pro forma annehmen. Joys Präsenz an der Party erübrigt sich. Überlassen Sie den Rest der Polizei. Wir werden die Party diskret überwachen mit Abhörgeräten und Miniaturkameras. Ich habe uns dazu die Bewilligung erwirkt.“ 
 
Wer lauerte längst vor dem Beginn der Party vor dem Haus auf Joys Erscheinen? Ja, es war ihr Beschützer John. Dreist genug, erkundigte er sich unverhofft nach Joy. Diesmal gab ihm ihre Mutter Bescheid: Sie sei ausgegangen. Ihr Vater habe sie zu einer Party gefahren. Hastig entfernte sich John. Und fürwahr, er tauchte kurz darauf in Park Lane auf und verschwand im Haus.
*
Nachwort: Ende gut, alles gut, wenigstens für Joy und ihre Familie. Mehr als genug Beweismaterial lag vor. Unerklärt blieb vorderhand, was John mit diesen Karten im Schilde führte. War es seine Einschüchterungstaktik? Wenige Tage später wurden John und Kohorte mitsamt dem Ägypter verhaftet. Der Gerichtsfall wirbelte Schlagzeilen auf. Der Import- und Exporthandel mit Sexsklaven wurde endlich eingehend durchleuchtet. Und das war gut und längst überfällig.
 
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