Textatelier
BLOG vom: 25.02.2010

Spanienwein-Tag in Zürich: Die Suche nach dem Rustikalen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Die Aufgabe war heroisch: Es galt, am Montag, 22.02.2010, ab 11 Uhr, 900 spanische Weine aus 400 Bodegas zu degustieren. Die Wirtschafts- und Handelsabteilung der Spanischen Botschaft in Bern hatte ein Fachpublikum zu diesem Día de Vino (Tag des Weins) in den Gartensaal des Kongresshauses in Zürich eingeladen, und da ich den kraftvollen Saft aus Spanien schon seit je zu schätzen weiss, nahm ich die Einladung gern an. Doch will ich unumwunden zugeben, dass ich bloss etwa 20 Weine beobachtend, schnuppernd und schlürfend auf Aussehen, Geruch, Geschmack, Rückgeruch analysieren konnte, begleitet von vielen Gesprächen mit Weinproduzenten aus Spanien und weiteren Experten.
 
Die umfangreiche Ausstellung spiegelte den Umstand, dass Spanien mit seiner Weinanbaufläche von mehr als 1 Million Hektaren weltweit an der Spitze steht. Früher kannte man dieses Weinland insbesondere als Sherry- und Malagaproduzenten. Doch dann wurden zunehmend Rot- und auch Weissweine angebaut. Unterschiedliche klimatische Gegebenheiten auf verschiedenen Höhenlagen – der gebirgige Norden ist beispielsweise durch ein ausgesprochen feuchtes Klima gekennzeichnet – führten zu einer erfreulichen Weinvielfalt, die aber immer durch eine ausgesprochene Üppigkeit auffällt. Inzwischen spricht jede 4. ausländische Rotwein-Flasche in der Schweiz spanisch (25 %); der Anteil an Weisswein macht 9 % aus. 2009 wurden spanische Weine im Gesamtwert von 158 Mio. CHF in unser Land eingeführt.
 
Urwüchsiges im Visier
Ich hatte mir ein Thema nach meinem persönlichen Gusto zurechtgelegt: ungehobelte, rustikale und möglichst naturbelassene Weine. Diese Thematik ergab sich für mich aus folgendem Grund: Die handelsüblichen Weine sind weitgehend standardisiert. Um der Klarheit willen ist bei ihnen zu viel Substanz herausfiltriert, und ihre Säure ist auf ein global akzeptiertes Mittelmass herunter gezähmt, das heisst, dass alle Ecken und Kanten durch kellerkünstlerische Eingriffe blankpoliert wurden. Das Mass für die Säure ist der pH-Wert, der als negativer Logarithmus der Hydrogenium-Ionen-Konzentration definiert ist. Rotweine sind im Bereich von pH 3,6 bis 3,9 angenehm, Weissweine etwas tiefer: Normwerte wie bei der Beurteilung der menschlichen Gesundheit. Das Wohlbehagen zählt kaum noch, Ausreisser werden behandelt. Gegen das geschönte Elend wollte ich Gegensteuer geben und stattdessen das deftige spanische Temperament erspüren.
 
Was ich suchte, war also das Regionstypische, herausgewachsen aus dem speziellen Klima, den eigenwilligen Böden und den darauf abgestimmten Sorten. Und wenn die Anbau- und Keltertechnik noch einige schöne alte Bräuche in die rationalisierte Gegenwart hinüberretten konnte, ist mir das umso lieber. Zu meiner Überraschung wurde ich bei allen Produzenten fündig. Geradezu Massstäbe setzte diesbezüglich ein bio-dynamischer Wein, „Casa Gualda Selectión C&J“ (2004) aus sehr alten Tempranillo-Reben aus La Mancha, den die Vinothek Santé AG, CH-8003 Zürich, anbot, der 5 Monate auf der Hefe im 225-Liter-Barrique ruhte – unfiltriert und unverfälscht abgefüllt (17.50 CHF). Ein barockes Trinkvergnügen. Der Argentinier Gaston Dutschmann, der den Stand betreute, machte mich noch auf den fruchtbetonten und kräftigen „Tinto Calleja“ (2008) aus der Ribera del Duero aufmerksam, ein reiner Tempranillo-Wein, der 4 Monate Fasslagerung hinter sich hat und noch etwas ungestümer ist. Der Inhaber der Santé-Vinothek ist der aus Madrid gebürtige Rafael Perez. Er wirkt als Präsident von Slow Food Schweiz, bezieht die Bedürfnisse der Mutter Erde in seine önologisch-ökologischen Philosophien ein. Aber manchmal muss er sich halt auch mit statistischen Aufgaben herumschlagen. Er hatte gerade seine Weinangebote bilanziert: 60 Spanier, 59 Italiener, 30 Schweizer usf.
 
Einige Bodenproben hatte Joan Maria Morrell Torrell an die Ausstellung mitgebracht; sein Weingut in ES-43480 Vila-seca liegt etwa 40 Meter über Meer rund 2 km von der Küste in Tarragona entfernt. Der Boden besteht aus einem hellen Kalk, der von ausgesprochen kleinen Muscheln dicht durchsetzt ist. Die Verbindung mit der Erde drückt sich im Weinnamen „Nus del Terrer“ aus. Der Wein basiert vornehmlich auf der Cabernet-Sauvignon-Rebe. Wegen seiner Blumen- und Beerenaromen und der einjährigen Lagerung im Barrica aus französischer Eiche besitzt er ein angenehmes, rundes Tannin. Mir fielen die guten Korkzapfen auf, auf die ich M. Torrell ansprach. Er bestätigte, dass es genügend Kork gibt, vor allem in Portugal, doch seien die Zapfen eher teuer – etwa 0,5 Euro pro Stück. Was kostet denn ein Drehverschluss? „Das weiss ich nicht“, antwortete der Weinbauer spontan; das interessiert ihn nicht. Der bodenständige Mann beeindruckte mich.
 
Opulent
Besonders aroma- und körperreiche Weine kommen aus dem Priorato in der Weinbauregion Katalonien im Nordosten des Landes. Am Stand des Hauses Felicious in CH-6630 Cham entdeckte ich den Rioja „Erdiano Crianza DOCa“ (2006) aus der Tempranillo-Rebe, die gegen tiefe Temperaturen widerstandsfähig ist und tiefdunkle, fast undurchsichtige, bukettreiche und langlebige Weine liefert. Ich möchte die folgende Beschreibung dieses Weins aus einem Verkaufsprospekt den Lesern nicht vorenthalten: „Aufhellendes Rubin, mitteldunkel. Intensives, fein süsses Bouquet, rote, gekochte Kirschen, helles Karamell, ein Hauch Kokos, laktische Noten, sehr intensiv und sich immer mehr öffnend. Fülliger Gaumen, cremiges Extrakt, wunderschön integrierte Säure, im Innern zart gerbig, sehr langes Finale, wieder rote, sehr reife Beeren.“ Und ich muss ehrlich zugeben: Das stimmt so ziemlich, nur auf die gekochten Kirschen und auf die Laktose wäre ich selber nicht gekommen. Es ist lange her, seitdem ich die laktische Muttermilch eingesogen habe, und damals hatte ich noch keine Gelegenheit, diese Delikatesse in Verbindung mit Wein zu bringen. Endlich war mir das nun vergönnt. Der Felicious-Inhaber Felix Künzle, ein innovativer Unternehmer, der auch schon einmal Schafskäse-Raclette initiiert hat, hat mir dieses Glücksgefühl verschafft.
 
Weiss neben Rot
Den Weissweinen hatte ich mich zum Beginn meiner Degustationsrunde angenommen, wie es sich gehört. Eine Entdeckung war der „Sobre Lias“ (2008) aus dem Hause Viña Somoza in ES-32350 A Rúa (D. O. Valdeorras) mit einer ausgeprägten Frucht mit einer Spur Aprikose. Javier Rey Sevilla, der diesen Wein aus der Godello-Rebe mit berechtigtem Stolz kredenzte, machte mich darauf aufmerksam, dass der angesehene Weinpublizist Robert Parker für diese Rarität 90 Punkte verliehen habe.
 
Ein weisser Barricawein ist ungewöhnlich. Die Finca Casa Lo Alto (Haecky Drink & Wine AG) produziert ihn in der Region Utiel-Requena (17.90 CHF): „Casa Lo Alto Chardonnay.“ Der Holzton ist schön eingebaut. Aus der Bodega Pirineos S.A. ihrerseits stammt der ebenfalls weisse „Pirineos Mesache“ mit einer von Chardonnay und Maccabeo kunstvoll gemilderten Gewürztraminer-Dominanz.
 
Ehret auch einheimisches, aargauisches Schaffen: Am Tisch der Nauer-Weine, CH-5026 Bremgarten, tat es mir der weisse bzw. strohgelbe, opulente und dennoch erfrischende „Baltasar Gracián“ (2008) aus dem Herkunftsgebiet Calatayud im südlichen Rioja an (10.95 CHF). Unter demselben Namen degustierte ich auch gewaltige Rotweine. Geradezu umwerfend gebärdete sich der „Baltasar Gracián Tempranillo Viñas Viejas“ (2006) mit 14,5 Volumenprozent Alkohol. Sein Name bezieht sich auf den spanischen Schriftsteller und Jesuiten Baltasar Gracián y Morales S.J. (1601–1658), der sich zum Beispiel mit der taktisch klugen Lebensführung befasste. Darüber sprach ich auch mit Josef Vogt, der mir erzählte, dass die Nauer AG nicht nur Weine vertreibt, sondern im Aargau auch Weine produziert und sich somit die önologischen Erfahrungen und das Wissen ständig erneuere. Taktisch klug
 
Da man im Kongresshaus sein Weinglas auf die Degustationsrunde mitnahm, hatte man immer ein gut „ausgeweintes“ Trinkgefäss bei sich – ohne jeden Rest von Spülmitteln. Darüber unterhielt ich mich mit Rolf Tschumi von der Firma Vogelsanger Weine, CH-9015 St. Gallen. Er teile meine Ansicht, dass Weingläser niemals in die Abwaschmaschine gehören. Sie sollten nicht einmal mit Spülmitteln in Berührung kommen, sondern immer nur mit heissem Wasser abgewaschen werden.
 
Durchaus möglich ist es, ein und dasselbe Glas für mehrere Weine zu benutzen. Gegebenenfalls spült man es mit etwas Wasser aus, was unbedingt nötig ist, wenn man beispielsweise von Rot zu Weiss wechselt, die übliche Reihenfolge umkehrend. Aus dem Vogelsanger-Sortiment probierte ich den frischen „Marius Blanco“ 2009 (D. O. Almansa) aus der Finca Los Timonares, der nahe bei der Chasselas-Traube, aber vielleicht etwas beladener und gleichwohl immer noch fruchtig ist.
 
Die Version in Rot ist der „Marius Crianza“ (2006) aus 50 % Tempranillo (Cencibel), 40 % Monastrell und 10 % Cabernet Sauvignon, der 6 Monate in neuen Fässern aus amerikanischer Eiche ausgebaut wurde. Er entsteht auf einer Hochebene mitten im Weinbaugebiet La Mancha (östlich der Stadt Albacete). Mir fiel ein deutlicher Geruch nach Heidelbeeren auf, ein Alltagswein für gehobene Ansprüche.
 
Degustiertechnik
Soll man den Wein nach dem Degustieren ausspucken? Man tut das bei einer ausgedehnten Degustierrunde, damit man sich nicht zu viel Alkohol einverleibt und die Sinne geschärft bleiben. Aber das hat einen entscheidenden Nachteil; denn der Rückgeruch (vom Gaumen in die Nase) kann sich mit dem besten Willen nur nach dem Abfliessen durch den verwöhnten Gaumen und durch die Speiseröhre einstellen – man geht also wichtiger Eindrücke verlustig, wenn man aufs Schlucken verzichtet. Ich beschränke mich bei Degustationsmarathons jeweils auf eine einzige mundfüllende Probe pro Wein, die dann auch einverleibt wird, und innert Stunden schaffe ich 20 Proben oder auch mehr locker, setze mich dann vorsichtshalber aber nicht mehr ans Steuer.
 
Degustationen werden in der Regel von Brot begleitet. Ein Händler sagte mir, wenn man Käse zum Wein gebe, könne man jeden Wein verkaufen. Als potenzieller Käufer aber sollte man ein Stück Apfel essen ... erst dann komme heraus, was im Wein tatsächlich stecke; für einen Wein sei es schwer, neben einem Apfel zu bestehen.
 
Wahrscheinlich hätte der „Protos“ aus der Ribera del Duero, dem vom Duero durchflossenen Weinbaugebiet in der Region Kastilien-León, selbst diesen Test bestanden. Er wurde von der gustoMondial GmbH, CH-8004 Zürich, angeboten und von Marcel Bouvard erläutert. Die von mir gekostete Version hatte 3 Monate im Fass verweilt und machte verständlich, dass die Weine von der Bodega Protos immer wieder ausgezeichnet werden. Es handelte sich um eine Cuvée von 85 % Temproanillo, und in den Rest teilen sich Cabernet Sauvignon und Merlot. Daraus entstand ein purpurroter, rustikaler Wein, der viele Früchte in sich aufgenommen zu haben scheint und durch den weichen Abgang, bei dem ein leichtes Röstaroma hervortritt, einen guten Eindruck hinterlässt.
 
Und schliesslich sei noch der komplette „Gresa“ (2007) von der Paratge Olivardots, Alt Emordà (Girona), erwähnt, eine Mischung (Verschnitt) aus 30 % Grenache, 30 % Carignan, 20 % Syrah und 20 % Cabernet Sauvignon, alle handgepflückt. Die Säure ist noch schön vorhanden (pH-Wert: 3,6), und sie gewährleistet eine lange Lagerung. Etwas Karamell ist schon da. Weitere Düfte werden sich mit der Lagerzeit noch einstellen.
 
Zum Kropf
Zwischendurch hatte ich mich zwecks kulinarischer Bodenbildung zu einem währschaften Essen ins Restaurant „Zum Kropf“, In den Gassen 16, in der Zürcher Altstadt begeben. Ich wollte der Weinschwemme vorübergehend entfliehen, und zu diesem Zwecke schien mir das traditionsbeladene Haus mit dem berauschenden bayerischen Bierhallen-Barock der gegebene Zufluchtsort zu sein. Ich platzierte mich unter dem Fries mit den engelhaften, biertrinkenden Putten, den singenden Fröschen, musizierenden Affen und anderen lebensfrohen Trinkgesellen und bestellte zur Bratwurst mit der dunkeln Zwiebelsauce und einer knusperigen Rösti ein Glas ... Süssmost. Ich stehe zu Apfelsäften aller Art., erachte sie nicht als zweitrangig.
 
Der polnische Dekorationspinsler Alexander J. Soldenhoff (1849–1929), der allerhand Gemüse, Krebse und anderes Getier als bleibende Speisekarte neben kulinarischen Wappen an den Gasthauswänden der Nachwelt zu treuen Händen gab, hätte wohl alle Augen zugedrückt und sich über diesen Ausdruck von Heimatstil wahrscheinlich gefreut. Der Heimatstil lässt sich nämlich problemlos in den Historismus à la „Zum Kropf“ integrieren – eine Imitation vergangener Kunstformen. Und zu diesen sind schliesslich auch kantige und abgerundete Weine zu zählen, wenn sie nach traditioneller Art gekeltert sind.
 
Hinweis
Veranstalter: „Wein aus Spanien“ ICEX und Spanische Botschaft, Bern.
 
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