BLOG vom: 01.03.2010
Schloss Liebegg: Komponenten, die Behaglichkeit schaffen
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
Beim Eintritt ins Wynental, südlich von Gränichen AG, sieht der Passant von der Kantonsstrasse aus nur den schlanken, spätgotischen Wohntrakt unter dem steilen Zeltdach mit dem westseitig angebauten Schneggen, einem Rundturm. Augustin von Luternau (1527‒1563), Mitglied einer kyburgischen und habsburgischen Ministerialienfamilie aus Luthern im Kanton Luzern, hatte ihn erbauen lassen. Wer sich aber zum Schloss Liebegg hinauf wagt, ist von den baulichen Dimensionen überrascht, handelt es sich doch um die Weiterentwicklung einer Doppelburg aus der Feudalzeit, als die Bauern den Lehensherren unterstanden. Die Besitzverhältnisse des umfangreichen Liebegger Anwesens wechselten häufig; selbst der pfälzische Juwelier und Bankmann Reinhart Graviseth und die Familie von Diesbach hinterliessen hier ihre Spuren; Graviseth liess u. a. die Schlossscheune („Schloss-Schüür“, 1617/18) bauen. Räume bzw. Bauteile sind nach ihnen benannt. Seit 1946 gehört das Schloss Liebegg dem Staat Aargau.
Diese heutige Liebegg sei mehr als ein Heirats- und Fondueschloss, sagte der Aargauer Landammann Roland Brogli am Freitagabend, 26.02.2010, bei der Eröffnung der Ausstellung von Bildern von Béatrice Bircher und Holzobjekten von Magnus Würth; das sei auch ein Haus der Kunst, der Kultur. Und er hielt es mit Serlo aus Johann Wolfgang von Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“:
„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“
Die vernünftigen Worte steuerte Roland Brogli gleich selber bei, treffliche Gemälde aus Gegenden, die zum Ferienmachen einladen, waren ebenfalls zu sehen, und hinzu kamen sogar noch die fabelhaften Drechslerarbeiten von Magnus Würth, welche über Serlos Forderungen hinausgehen. Von den Naturäusserungen auf Leinwand und Papier einerseits sowie den Holzobjekten anderseits, mit denen Verwachsungen, Äste, Risse und Unregelmässigkeiten neben geschliffenen, polierten Stellen zur Dekoration geadelt wurden, mithin von Struktur und Form insgesamt, zeigte sich der Wander- und Naturfreund Brogli angetan. Sein Auftritt war kein Muss; es gefiel ihm hier.
Magnus Würth
Der Metall- und Holzplastiker Magnus Würth, Gränichen, ist Präsident des Vereins Schloss Wildegg, und sozusagen der heutige Schlossherr. Er haucht dem Schloss, das während Jahrzehnten als Unterwynentaler Randerscheinung dahindöste, wieder neues Leben ein. Er ist ein Multitalent, kann alles, und ihm gelingt alles, mit Unterstützung seiner Frau Vera. Mit seinen Holzarbeiten ist er über sich selbst hinausgewachsen. Es gelang mir gerade noch, eine bizarre, runde Schale mit einer unregelmässig, langgezogenen, durchgebrochenen Stelle in einer Seitenwand vertraglich käuflich zu sichern, eine von 80 Skulpturen – wenige Minuten, bevor andere Kaufinteressenten auftraten. Das Knorrige hat es mir schon immer angetan. Eine bizarre Eichenwurzel hatte die Vorarbeit für dieses Kunstwerk geleistet. Für andere Werke wurden Buche, Eibe, Kirschbaum, Spitzahorn, Apfelbaum, Birke, Nussbaum, Platane, Mirabelle usf. verwendet, falls das betreffende Holz hohe Anforderungen an die Unregelmässigkeit erfüllte. 2 Ahornschalen, rundum mit Ästen besetzt, sind ausgesprochen dünnwandig und unregelmässig. Wie ist das nur möglich, eine solche drechslerische Feinarbeit zu schaffen?
Béatrice Bircher
Eine jahrzehntelang freundschaftliche Bekanntschaft verbindet uns auch mit Béatrice und Silvio Bircher, der einst Chefredaktor der Tageszeitung „Freier Aargauer“ war und dem ich bei Presseanlässen häufig begegnete. Er gehörte zwischen 1979 und 1993 dem Nationalrat und von 1993 bis 1998 dem Aargauer Regierungsrat an. Auf meine Frage, ob er, sollte er nochmals vor der Berufswahl stehen, eher die Journalisten- oder Politikerlaufbahn anstreben würde, antwortete er spontan: „Politiker“. Das hatte ich mir gedacht – er hat alle Voraussetzungen dazu, auch das nötige Einfühlungsvermögen.
Seine charmante Frau Béatrice ist mit Leib und Seele der Malerei zugetan, bildet und entwickelt sich laufend weiter. Sie hat ihr Atelier im Rüetschi-Areal in Suhr, wohnt mit ihrem Mann zusammen in Aarau. Sie ist eine zierliche, hellhäutige Person mit blauen Augen und langem, blondem Haar, in das sich ein silbergrauer Schimmer gemischt hat. Als Persönlichkeit strahlt sie ein ganz ähnliches Licht aus, wie wir es zum Beispiel in Mittelmeerländern gern auf uns einwirken lassen, weil es unser Gemüt erhellt. Und wenn man ihre 63 Werke im Schloss betrachtet, stellt man fest, dass sie in ihren Landschaftsdarstellungen in Mischtechnik (oft Acrylfarben, mit Wachs, Gips oder Sand vermischt), eigentlich immer sich selber malt, jedenfalls was die Farbzusammenstellung anbelangt. Licht, Stimmungen, wie sie die Sonne im Tagesverlauf hervorbringt, Ferienidylle, Wasserspiegelungen, Blüten, fächerförmige, in Lappen geteilte Ginkgoblätter usw. sind ihre bevorzugten Motive. Im Vergleich zu ihren früheren Bildern haben die jüngeren Werke einiges von ihrer Leuchtkraft zugunsten einer Tiefenwirkung eingetauscht, Ausdruck eines steten Entwicklungsprozesses, bei dem das luftige Ausdrucksstarke zugunsten einer nachdenklichen Beschaulichkeit etwas zurücktreten musste: eine beseelte Kunst voller Wärme mit spätimpressionistischen Nachklängen.
Die Bilder entführen in Welten, in denen man sich gern erholen möchte, so etwa an einem einsamen Sandstrand mit Felstrümmern an der Côte d’Azur, in Italien, in Spanien oder im Engadin. Es sind Orte, wo die Stunden nicht zählen, wie in einem von Landammann Brogli erwähnten Gedicht von Rose Ausländer: „Zähl nicht die Stunden, sie zählen sich selbst / zum Jahr / zur winzigen Ewigkeit / deines Aufenthalts hier / Dieser rollende Hauch.“
Kunst gründe auf Freiheit und sei eine tragende Säule jeder freiheitlichen Gesellschaft, fügte der Staatsmann noch bei. Man schlürft solche Worte angesichts der globalen Aushebelung der Privatsphäre und weiteren Einengungen wie Honig ein. Und dann griffen wir bei den belegten Brötchen und einen feuchten, aromatischen Speckzopf kräftig zu, bevor wir das Schloss durchs Halbbogenportal, um viele Erlebnisse bereichert, verliessen.
Gränichen
Auf der bewaldeten Hügelzunge, auf der das Schloss Liebegg steht, klang eben langsam die Winterkälte ab; an schattigen Stellen hatte sich noch etwas Schnee zu halten vermocht. Der Fondue- und Racletteduft vom 4. Schmelzkäseabend vom 19.02.2010, den ich in schöner Erinnerung habe, war inzwischen von den Sturmwinden verweht. Die Stammfeste (Festung) des Ritterhauses von Liebegg hat alles heil überstanden.
Um die Wende des 18. Jahrhunderts hatte einmal ein Blitz ins exponiert gelegene Schloss eingeschlagen, was der Anlass für einen vollständigen Umbau war. Das Schloss war damals zusammen mit seinen Höfen unterhalb des Schlosses eine selbstständige Gemeinde und wurde erst 1820, zusammen mit Gulmhof und Pfendel, der Gemeinde Gränichen einverleibt. Der einheimische Industrielle im Ruhestand Andreas Zehnder, der zusammen mit seinem Bruder Hans-Jakob wesentlich am Auf- und Ausbau der international tätigen Gränicher Zehnder Group beteiligt war, stellte mit Blick aufs nächtliche, von sanften Hügeln umgebene Dorf Gränichen fest, das sei der schönste Ort der ganzen Welt. Er liebt ein behagliches Klima draussen und drinnen; sein Unternehmen produziert schliesslich Heizkörper und Heizsysteme, die das Wohlbefinden anheben.
Gränichen, Liebegg, stimmungsvolle Gemälde, von der Natur vorgeformte Hölzer, angenehme Temperaturen: Diese exklusive Mischung hat schon etwas mit einem ausgeprägten Behagen zu tun.
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