Textatelier
BLOG vom: 17.03.2010

Süsse der Bitterkeit: Geschmacksvolumen nicht beschneiden

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
„Die Galle wird gallenbitter sein.“
Peter Handke, zitiert von Peter Sloterdijk, in:„Versprechen auf Deutsch“
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Wer den bitteren Geschmack nicht liebt, hat ein bitteres Leben. Bitter ist nämlich gesund, abgesehen von den bitter schmeckenden Pflanzengiften (wie das Pikrotoxin aus den Kokelskörnern oder das Antiarin, das die Ureinwohner von Java als Pfeilgift verwenden). Im Prinzip ist die Geschmacksempfindung bitter ein Warnsignal – im Übrigen aber erhöht das Bittere die Lust, das Wohlbefinden.
 
Der Enzian
Nicht umsonst haben die meisten Naturmedizinen einen bitteren Geschmack. Dazu gehört auch der Enzian von Brigitte Pulfer (Blog vom 13.09.2008), den die Kräuterfrau aus dem Gelben Enzian aus der Region Stalde-Meielsgrund-Meiel-Gumm (Gemeinde Saanen BE) herstellt. Sein extrem wahrnehmbarer, im angenehmsten Sinn nachhaltiger Geschmack vereint sich mit einer sofort spürbaren Bekömmlichkeit. Der Magen blüht in Sekundenschnelle auf und steht vor Wohlbefinden da wie der Gelbe Enzian (Gentiána lútea, frz.: Geniane jaune, it.: Genziana maggiore) auf einer Alpweide. Ich trinke die Spirituose aus der Enzianwurzel von Zeit zu Zeit mit Andacht, nur tropfenweise und erfahre die Berechtigung des Volksnamens „Magenwurz“. Anderweitig, aber seltener, werden auch die Wurzeln anderer Enzianarten wie des Purpur-Enzians (Gentiána purpurea) verwendet, die sogar als die Beste für diesen Zweck gilt. Auch der Ostalpen-Enzian (Gentiána pannónica) und der Getüpfelte Enzian (Gentiána punctáta) kommen dafür infrage.
 
Dem Gelben Enzian begegnet man auf Alpenwanderungen besonders auf Weiden und Kalkmagerrasen, auch im Jura, häufig, da er Kalk liebt. Er ist nicht zu übersehen, kann doch sein unverzweigter, runder, hohler Stängel 50 bis 120 cm hoch werden. Die Blätter sind ebenfalls markant: breit-lanzettlich, mit 5- bis 7-bogigen, verzweigten Hauptrippen. Sie sind 5 bis 15 cm breit und von einem Grün, das leicht ins Bläuliche geht. Sie sitzen gegenständig am Stängel. Die Blätter umfassen wie Kelche die goldgelben Blüten, die in den Blattwinkeln im oberen Teil der Pflanze sitzen. Sie sind weit und trichterförmig, als ob sie jeden Lichtstrahl der Höhensonne einsammeln wollten, fast bis zum Grund 5- bis 6-teilig und werden durch schmal-lanzettliche Zipfel zu einem halbrunden oder runden Ball angefüllt. Die Hauptblütezeit sind die Monate Juni und Juli.
 
Die getrockneten Blätter können als Rauchtabak verwendet werden, und aus den Blättern und den weichen Trieben setzen Kundige von April bis Juni Kräuterliköre (Bitterlikör) an.
 
Bitterstoffe
In der Chemie wird alles, was einen bitteren Geschmack aufweist, als Bitterstoff bezeichnet. Dazu gehören beispielsweise das Alkaloid Chinin, sodann Lactucopikrin aus der Wegwarte und den Lattich-Arten, das Cynarin in Artischocken, die Glucosinolate im Rüböl usf. Im Schwarztee und Wein findet sich in mehr oder weniger hoher Konzentration der Bitterstoff Tannin aus der Gruppe der Phenole. Im Wein stammt er aus dem Eichenfass (oder aus den beigefügten Eichenspänen) und/oder aus dem Stielgerüst der Trauben, der Schale der Traubenbeeren und den Kernen. Grosse Weine haben alle einen harmonischen Bittergeschmack, der auf dem hinteren Teil der Zunge und an ihrem Rand wahrgenommen wird. Erst dadurch wird der Wein vollmundig, körperreich. Die Tannine dürfen selbstverständlich nicht das Fruchtempfinden erschlagen. Werden die Beeren vor der Vergärung von den Stielen getrennt, wird die Bitterkeit dadurch stark eingeschränkt („Beerliwein“); die Weine sind süffiger, aber weniger reich an Gehalt.
 
Der Pressdienst pressetext pte http://pressetext.ch hat am 13.10.2009 bemerkenswerte Informationen über die neuesten Resultate der Bitterkeitsforschung und insbesondere über die Wahrnehmung des Bitteren publiziert („Enzian-Inhaltsstoff noch in Verdünnung 1:58 Mio. wahrnehmbar“). Sie bezogen sich auf die Erkenntnisse der Molekulargenetiker am deutschen Institut für Ernährungsforschung (DifE, http://www.dife.de). In der Fachzeitschrift „Journal of Agricultural and Food Chemistry“ beschrieben sie, wie 8 der 25 bekannten Bitterrezeptor-Gene des Menschen (TAS2R43 bis 50) mit verschiedenen Bitterstoffen interagieren: „Der Mensch schafft es, mit 25 Rezeptoren, mehrere Tausend natürliche Bitterstoffe zu identifizieren. Wir haben nun unter anderem entschlüsselt, durch welche Mechanismen die bitterste dieser Substanzen erkannt wird“, berichtete Studienleiter Maik Behrens in einem pressetext-Interview.
 
Bei der bittersten Substanz handelt sich um Amarogentin, mit dem sich der Enzian vermutlich vor Fressfeinden schützt. Die Substanz ist so bitter, dass sie selbst in einer Verdünnung von 1 : 58 Millionen noch deutlich wahrgenommen werden kann. „Das entspricht einem 2-Zentiliter-Schnapsglas, das man in 5800 Badewannenfüllungen schüttet“, erklärte Behrens. Das trotz seiner Bitterkeit kaum giftige Amarogentin besitzt in Dosen, die eben noch im menschlichen Wahrnehmungsbereich liegen, gesundheitsförderliche und infektionsabwehrende Wirkungen, die etwa im Enzianschnaps ausgenutzt werden. „Schnäpse und Liköre sind absichtlich bitter, da man ihnen dadurch verdauungsfördernde Wirkung zuschreibt. Es gibt allerdings kaum verlässliche Studien, die diese Wirkung belegen“, so der Molekulargenetiker.
 
Meines Erachtens genügen Feldstudien und Erfahrungen vollauf. Die Magenbekömmlichkeit kann jedermann nach einem Schlückchen Enzian gleich selber spüren. Was ich damit auch noch sagen will: Es existiert nicht nur das, was wissenschaftlich bewiesen ist, ansonsten wir arm dran wären.
 
Bei 4 Rezeptor-Typen konnten die Forscher nun feststellen, dass diese durch Amarogentin aktiviert werden. Dass der Mensch Bitterstoffe überhaupt als solche erkennt und unterscheiden kann, verdankt er 25 Bitterrezeptor-Genen, die ähnlich wie Sensoren an der Spitze der Geschmackszellen angeordnet sind. „Diese Zellen befinden sich auf den roten Pünktchen auf der Zunge, den so genannten Geschmackspapillen, an der Zungenseite sowie im oberen Gaumenbereich“, erklärte Behrens. Gelangt eine Substanz an den passenden Rezeptor, löst dieser ein Zellsignal aus und leitet dieses weiter ans Gehirn, wo die Bitterkeit schliesslich registriert wird. Allerdings werden Bitterstoffe auch in anderen Körperregionen wahrgenommen, wenn auch nicht als Geschmack. So zeigten etwa Studien an Nagetieren, dass Rezeptoren im Luftkanal der Nase die Atmung regulieren, was ein Schutzmechanismus bei giftigen Dämpfen sein dürfte. Andere Bitterrezeptoren im Magen und Darm dürften für die Verdauung wichtig sein.
 
Bitterkeit signalisiert Tier und Mensch Vorsicht vor potenziell giftigen Substanzen. Die Aversion gegenüber Bittergeschmack ist uns angeboren, reagieren doch kleine Kinder anfangs ausschliesslich ablehnend auf Bitteres und lernen erst mit der Zeit, dass der Bitter-Geschmack nicht immer Ungeniessbarkeit bedeutet. „Der Mensch verfügt auch über mehrere funktionslose Bitterrezeptoren, so genannte Pseudogene, die zu früheren Zeiten der Evolution ebenfalls Bitterstoffe wahrnahmen. Das lässt darauf schliessen, dass das Erkennen von Bitterkeit in früheren Zeiten für das Überleben noch wichtiger war als heute“, so Behrens. Das Auffinden aller menschlichen Rezeptoren für Bitterstoffe könnte eines Tages dazu führen, dass die bittere Wahrnehmung für bestimmte Zwecke gezielt ausgeschaltet werden kann. „Medikamente oder gesundes Gemüse könnten dadurch eines Tages angenehm schmecken“, hofft der Potsdamer Wissenschaftler.
 
Ich persönlich kann mit diesem wissenschaftsüblichen Denkmuster nichts anfangen. Man soll doch nicht den Menschen umbauen, damit er zu einem vernünftigeren Verhalten findet, sondern ihm durch Aufklärung begreiflich machen, dass es oft angezeigt ist, angeborene und anerzogene Aversionen zu überwinden und sich aus einer infantilen Verhaltensweise zu befreien.
 
5 Geschmacksrichtungen
Mit dem Geschmackssinn des Menschen ist ohnehin nicht weit her. Das gustatorische Empfinden beschränkt sich auf die Geschmacksrichtungen süss, sauer, salzig und bitter, wobei neuerdings unter japanischem Einfluss noch umami hinzu gekommen ist. Diese Geschmacksrichtung basiert auf der Glutaminsäure (eine Aminosäure) und wird vor allem für besonders eiweissreiche Nahrungsmittel wie Fleisch verwendet. Glutamate (Ester und Salze der Glutaminsäure) werden in der asiatischen Küche gern und in beträchtlichen Mengen als Geschmacksverstärker eingesetzt; doch sind sie, wenn auch in bescheidenerem Umfang, auch im Abendland üblich. In Fleisch, Käse und Tomaten sind sie von Natur aus vorhanden, ebenso in Soja- und Fischsaucen.
 
Man weiss noch nicht so genau, was grosse (über den natürlichen Gehalt der Lebensmittel weit hinausgehende) Glutamatmengen im menschlichen Organismus bewirken; bekannt sind Hitzeempfindung, Juckreiz, Kopfschmerzen, Gesichtsmuskelstarre, Gliederschmerzen und Übelkeit. Viele Menschen reagieren überempfindlich darauf, und man spricht vom China-Restaurant-Syndrom, weil das Glutamat im Gehirn die Funktion eines erregenden (exzitatorischen) Neurotransmitters ausübt. Doch wegen seiner Bedeutung darf der von Glutamat hervorgerufene Geschmack umami sicher als eigenständige Grösse zu den 4 allgemein bekannten Geschmacksrichtungen gezählt werden.
 
Dennoch ist unser Geschmackssinn extrem eingeschränkt, um nicht zu sagen degeneriert. Wie gesagt: Ganze 5 Geschmacksrichtungen meldet er ... und da wäre es ja wohl ein blühender Blödsinn, die Palette freiwillig einzuschränken.
 
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