Textatelier
BLOG vom: 05.04.2010

Das ewige Religionstheater: Ideologien in Schranken weisen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
„Wäre nicht die Dummheit oder die Geistesträgheit bis zum heutigen Tage die eigentliche Königin der Menschenwelt, so müsste der Anblick der Religionsgeschichte, dieser Unsumme von Wahn, Lüge, Unrecht, Hass und Greuel, das schleunige Verschwinden des gesamten Religionswesens bewirken.“
 
Dies schrieb der Religionskritiker Robert Mächler (1909‒1996) in seinen „Richtlinien der Vernünftigung“ 1967. Dieser tiefschürfende Denker, der in Unterentfelden AG lebte und mit dem ich persönlich Kontakt hatte, wäre wohl nicht besonders überrascht, wenn er das ewige unselige Religionstheater, dem auch heute wieder neue Akte hinzufügt werden, mit ansehen müsste. Die bekannte Geschichte wird weitergeschrieben.
 
Die Pädophilie
Im Moment geht es um die unzähligen sexuellen Übergriffe durch pädophile Priester, wie sie die breiten Massen in dieser Dimension nie erwartet hätten. Kenner der Kirchengeschichte, unter denen der deutsche Historiker Karlheinz Deschner (www.deschner.info) einer der herausragendsten ist, sehen darin nur eine Bestätigung bisheriger Erkenntnisse, den Regelfall. Deschner: „Nach intensiver Beschäftigung mit der Geschichte des Christentums kenne ich in Antike, Mittelalter und Neuzeit, einschliesslich und besonders des 20. Jahrhunderts, keine Organisation der Welt, die zugleich so lange, so fortgesetzt und so scheusslich mit Verbrechen belastet ist wie die christliche Kirche, ganz besonders die römisch-katholische Kirche“ (in Die beleidigte Kirche“, Freiburg 1986, S. 42 f.). In einem Interview mit der Deutschen Presseagentur (DPA) sprach Deschner Mitte März 2010 wiederum Klartext: Das Interview wurde von der DPA nicht veröffentlicht, ist aber im Internet zugänglich und findet dort umso mehr Zuspruch, z. B. unter http://hpd.de/node/9114.
 
Angesichts des vulgären Geschehens hinter den heiligen Mauern drückte sich Deschner in der adäquaten Sprache aus. Leseprobe: Wie denn nur beispielhalber die Ritter des Deutschen Ordens, verpflichtet, ein Leben ,allein im Dienste ihrer himmlischen Dame Maria’ zu führen, alles vögelten, was eine Vagina hatte, Ehefrauen, Jungfrauen, kleine Mädchen und, wie wir nicht ohne Grund vermuten dürfen, weibliche Tiere. Wie es ja auch im Vatikan, lange, sehr lange, recht locker zuging, etwa – einer für viele – Papst Sixtus IV., Erbauer der Sixtinischen Kapelle und eines Bordells, noch seine Schwester und Kinder besprang, sein Neffe, Kardinal Pietro Riario, sich buchstäblich zu Tode koitierte und auch noch, Ehre wem Ehre gebührt, eines der schönsten Grabdenkmäler der Welt bekam.“
 
So viele Detailinformationen gingen der DPA denn doch etwas zu weit; so viele Details im Klartext wollte man nicht haben und verzichtete auf die Publikation des Interviews, was schon einigermassen schockiert. Deschner ist nicht einfach ein Plauderi, sondern ein anerkannter Historiker, dem meines Wissens noch nie ein Fehler nachgewiesen werden konnte. Im Gegensatz zur üblichen Geschichtsschreiberei drückt er sich einfach unverblümt aus; er ist kein Beschöniger, und das ist das Besondere an ihm. Dass aber bereits Presseagenturen mit ihren annähernden Monopolstellungen eine Zensur ausüben, wie sie in der üblichen Geschichtsschreibung (und auch bei kunsthistorischen Beschreibungen) an der Tagesordnung ist, erschreckt schon. Sie sind in die Manipulationsmechanismen an vorderster Front eingebunden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Agenturmaterial, das die Vorsortierung überstanden hat, ja auch noch die Hürde der Medien-Redaktionen nehmen muss, um Zugang zum breiten Volk zu erhalten. Dabei bleibt vieles auf der Strecke, wie man sich leicht ausrechnen kann.
 
Bei der jetzigen Notlage der Medien (vor allem die Zeitungen sind in der Agonie, geistig und finanziell) sind die Hürden noch höher geworden; denn sie können es sich nicht leisten, weitere Kunden zu vertreiben. Anderseits verlieren sie gerade wegen der Quotenjagd mit Seichtem noch mehr an Bedeutung, was sie aber nicht wahrhaben wollen. Und die umfassende Information mit Hintergründen bleibt auch aus solchen Gründen auf der Strecke. Derartige Einsichten geben einen Hinweis auf den jämmerlichen Informationsstand des Volks, so weit es kein Internet zur Verfügung hat. Die am 25.03.2010 in Allensbach D verstorbene Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neuman prägte den Begriff „Schweigespirale“ für die so genannte Meinungsfreiheit, deren Inhaber sich nicht getrauen, sich unverblümt auszudrücken.
 
Doppelmoral
Der kirchengeschichtliche Rückblick beschwört im Rahmen der aktuellen Enthüllungen eine weitere bemerkenswerte Erkenntnis herauf: Die Kirche erklärte die Sexualität für die Gläubigen zur Sünde und brachte und bringt ihre Untergebenen durch diese ständigen Sexualrepressionen in schwere Gewissensnöte. Sie mass/misst also mit 2 Ellen; denn alles, was für das Fussvolk galt/gilt, hatte/hat für sie keine Gültigkeit. Was im geschützten Kreis innerhalb der Kloster- und Kirchenmauern geschah und geschieht, gehorcht(e) ganz anderen Gesetzen, auch was die Rechtsprechung anbelangt(e). In diesem geschützten Rahmen besitzt die katholische Kirche laut Deschner (im neuen Interview) „– aus bösem Grund – über Jahrhunderte eine eigene Gerichtsbarkeit , mit der man verhinderte, dass derart Belastendes vor den Gläubigen ausgebreitet wurde. Die Heuchelei gehört bis heute zu den widerlichsten, doch wesentlichen Charakterzügen des Christentums. Gemäss der alten Devise ,si non caste caute’ (wenn schon nicht keusch, dann wenigstens vorsichtig), unterschieden viele Päpste zwischen einer heimlichen und einer bekannt gewordenen Sünde, bei der sie die Strafe verdoppelten, ja verdreifachten. Gegen das Sündigen im Allgemeinen hat man selbstverständlich nichts, im Gegenteil, es ist den Herren sehr willkommen; davon leben sie.“
 
Man erhielt kürzlich den Eindruck, dass Papst Georg Ratzinger („Benedikt XVI.“) den erwähnten Tatbestand der eigenen kirchlichen Gerichtsbarkeit und der damit verbundenen Vertuschungen untermauern wollte. In seiner Palmsonntagspredigt 2010 sagte er, viel- und doch eindeutig: Christus führe die Menschen zu einem Leben in Wahrheit und „zu dem Mut, der sich nicht vom Geschwätz der vorherrschenden Meinung einschüchtern“ lasse. Das geschah, nachdem ihm viele Medien persönliche Verwicklungen in die Pädophilie-Skandale vorgeworfen hatten; er war darüber besser als alle anderen informiert und versagte bei der Aufklärung. So ist es beispielsweise kaum denkbar, dass Ratzinger als damaliger Erzbischof nichts von dem Fall eines pädophilen Priesters in seinem früheren Bistum München gewusst haben kann. Laut einem Eingeständnis aus dem Erzbistum hatte der heutige Papst der Versetzung jenes pädophilen Priesters von Essen nach München im Jahr 1980 zugestimmt. Und dieser konnte seinen abartigen Neigungen in der Pfarrseelsorge weiterhin nachgehen. Und weil Ratzinger nicht einschritt, liess er grundsätzlich zu, dass sich das von Geweihten und Gesalbten den Kindern zugefügte Leid beliebig wiederholen konnte. Solche Vorwürfe wiegen schwer und können nicht durch lockere Christus-Bezüge verwedelt werden. Bis jetzt ist das einigermassen gelungen, lange genug; die ersten Pädophilie-Fälle wurden in den USA 1963 bekannt.
 
Abwiegelung
Der Schweizer Bischofskonferenz war es bei solchen Enthüllungen auch nicht mehr ganz geheuer, und sie versuchte sich in einer 11 Punkte umfassenden Erklärung am 31.03.2010 um Schadensbegrenzung, um die Flucht ihrer Schäfchen zu bremsen. Sie zeigte sich laut einer Agenturmeldung (SDA) „beschämt und tief bestürzt über die Fälle von sexuellen Übergriffen“ und räumte Fehler ein, zumal diese ohnehin nicht mehr unter dem Deckel zu halten waren: So habe man das Ausmass der sexuellen Missbräuche unterschätzt. Wahrscheinlich hätte man gescheiter genauer hinschauen als schätzen sollen, wie dem beizufügen ist. Die Verantwortlichen in den Diözesen und Ordensgemeinschaften hätten Fehler gemacht. Die Bischofskonferenz bat für diese Fehler um Entschuldigung, hütete sich aber davor, neue Richtlinien zur Verhinderung sexueller Missbräuche zu erlassen, was schon einigermassen überrascht. Massnahmen wurden auf den Sommer 2010 vertagt; es eilt ja nicht so ... Vielleicht hat sich bis dann die Aufregung etwas gelegt. Die Kirche hat noch alle durch sie hervorgerufenen Skandale ziemlich unbeschadet überstanden. Das gilt auch für den Pädophile-Skandal, der irgendwann wieder abflauen und zum Teil der Kirchengeschichte wird, eine verhältnismässig unbedeutende Episode innerhalb all der historisch belegten Schandtaten. Ihre Stabilität ist bewundernswert.
 
Die Bischöfe ermutigen alle, die Übergriffe erlitten haben, sich bei den Opferberatungsstellen oder den diözesanen Ansprechstellen zu melden und gegebenenfalls Anzeige zu erstatten; am liebsten möchte die Kirche ihre Verbrechen selber untersuchen und beurteilen. Pädophilen Kirchenmitarbeitern rät die Bischofskonferenz, sich „vor Gott und den Menschen ihrer Schuld zu stellen“. Es sei wichtig, dass vorbehaltlose Transparenz in die Vergangenheit gebracht werde, schreiben die Bischöfe weiter. Doch genau daran dürfte der Papst wenig Interesse haben.
 
Es ist überhaupt erschreckend, mit ansehen zu müssen, welche Divergenz zwischen der Behandlung von Roman Polanski, der noch immer in Gstaad unter Hausarrest steht, und den fehlbaren Priestern, die mit gestickten Samthandschuhen angefasst werden, besteht. Nicht einmal an eine Schwarze Liste traut man sich in kirchlichen Kreisen heran.
 
Islam-Einflüsse
Zweifellos rufen die Religionen mehr Probleme hervor als sie lösen. Für weitere Unruhe sorgt in vielen Ländern die Ausbreitung des Islams, welche mit Prophet Mohammed (570‒632) begann. In Arabien vermochte sich diese Religion schnell durchzusetzen. In einem „Heiligen Krieg“ eroberten die Araber daraufhin den ganzen Nahen Osten und Nordafrika. Diese Religion dehnte sich bis nach Asien aus und erfasste auch viele Teile Afrikas. Auch Europa kam dran.
 
Zweifellos ist die Religionsfreiheit im Rahmen der Gesinnungsfreiheit ein wichtiges Gut, für das man einstehen muss. Doch besteht das grundsätzliche Problem darin, dass die fundamentalistischen Religionen, die sich auf irgendwie zusammengestiefelten göttlichen „Offenbarungen“ berufen, diese buchstabengetreu als Wahrheit empfinden und nach deren Vorschriften leben. Die Verantwortung für die eigene Lebensführung wird an den jeweilig zuständigen göttlichen Herrscher übertragen, dem eine blinde Gefolgschaft geleistet wird, beziehungsweise geleistet werden muss. Die einfachste und wohl auch riskanteste Lösung zur Lebensführung. Dadurch greift die Religion über ihren eigenen Garten hinaus und wird auch zum zivilen Gesetz, zur Gesetzesreligion. Der Islam zum Beispiel wird von der Religion zur Ideologie, zum Islamismus. Die Trennung zwischen geistlich und weltlich ist in Auflösung begriffen oder fällt im schlimmsten Fall sogar komplett dahin.
 
Wird ein Land, in dem Staat und Kirche (einigermassen und hoffentlich weitgehend) getrennt sind, von einer fundamentalistischen Religion überlagert, zeichnet sich die Gefahr ihres Übergangs zur Staatsreligion ab. Gott bestimmt. Gott ist der Richter und leitet auch das Jüngste Gericht; die zivile Gerichtsbarkeit kann zusammenpacken.
 
Im Islam gilt die Scharia (Bezeichnungen für das islamische Rechtssystem), die auch zur Werteordnung wird. Wohl aus pragmatischen Gründen haben die Rechtsgelehrten den muslimischen Herrschern zwar die Befugnis erteilt, die Anwendung bestimmter Teile dieses allgemeinen Rechts ausser Kraft zu setzen und dafür weltliches Recht anzuwenden. Dennoch besteht das göttliche Recht weiter – so etwas kann ja nicht ausser Kraft gesetzt werden. Es werden einfach Ausnahmen bewilligt, je nach Anpassungsvermögen und –willen, damit die Ausbreitung erleichtert wird. Das Prinzip bleibt unverändert und sorgt ständig für Konfliktstoff.
 
Konflikte und Ängste sind bei einer solchen Durchmischung von Staatlichem, Rechtlichem und Religiösem programmiert. Das geht einfach nicht auf, führt zu rabulistischen Argumentationen. Beim Widerstand gegen solche Erscheinungen geht es um alles andere denn um einen religiösen Rassismus, nicht um Segregationismus im Sinne des jüdischen Gesetzeslehrers Esra. Dieser war Sekretär (Sofer) des Jahwekults am persischen Hof und rief dazu auf, alle fremden Frauen und Kinder aus den Häusern der Juden zu verstossen (Quelle: Karlheinz Deschner in „Zwischen Kniefall und Verdammung. Robert Mächler, ein gläubiger Antichrist“, Merlin, 1999). Ebenso wenig geht es um eine Befolgung der im Alten Testament zum Ausdruck gebrachten Intoleranz des Bibel-Gottes: „Zerstört alle heiligen Stätten, wo die Heiden, die ihr vertreiben werdet, ihren Göttern gedient haben, es sei auf hohen Bergen, auf Hügeln oder unter grünen Bäumen, und reisst um ihre Altäre und zerbrecht ihre Steinmale und verbrennt mit Feuer ihre heiligen Pfähle, zerschlagt die Bilder ihrer Götzen und vertilgt ihre Namen von jener Stätte“ (5. Mos. 12, 1 ff.).
 
Das Anliegen besteht angesichts solcher verheerenden Grundlagen um des Friedens und des religiösen Respekts willen darin, neben der Religionsfreiheit auch das Freisein des Staats und seiner Institutionen von sämtlichen Religionseinflüssen zu fordern, selbstverständlich ohne die Religionsführer von der staatlichen Gerichtsbarkeit auszuschliessen. Die Trennung von Religionen aller Art (inkl. den biblischen, und der christlichen) und Staat muss in Zukunft klarer, mit der grösstmöglichen Konsequenz erfolgen. Politische Parteien, die aufgrund von religiösem Dogmatismus politisieren, sind mit dem beschädigten Ruf der Religionen verknüpft und werden in deren Schlepptau an Bedeutung und Ansehen einbüssen. Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) denkt schon seit einiger Zeit darüber nach, das hohe C aus dem Namen zu eliminieren. Sie ist allerdings noch immer mit dem Katholizismus verbunden, obschon sie gegelentlich auf Konfrontationskurs zur Kirche geht, um eine gewisse Unabhängigkeit zu dokumentieren. So forderte der CVP-Präsident Christophe Darbellay dieser Tage demonstrativ eine Schwarze Liste für pädohile Priester. Unter den 46 schweizerischen CVP-Bundesparlamentariern gibt es nur 1 Nicht-Katholikin.
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Ich möchte von all dem Religionsgerangel und von den damit verbundenen ständigen Belästigungen und Streitereien und Religionskriegen bitte verschont werden, auch von Kopftuch- und Burka-Auseinandersetzungen. Von den religiösen Dogmen habe ich mich schon in jungen Jahren befreit. Nun gilt es für mich noch, alle Bestrebungen zu unterstützen, welche die ausufernden Religionsideologien zurückdämmen mehr kann ich nicht tun, eine bedeutende staatsbürgerliche, politische und für mich publizistische Aufgabe im Hinblick auf eine paradiesischere Welt – paradiesischer nicht im biblischen Sinne.
 
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