BLOG vom: 11.04.2010
Taubenlochschlucht: Wildes Gemenge aus Natur und Technik
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
Die Taubenlochschlucht bietet alles in verdichteter Form, konzentriert und auf umso eindrücklichere Weise: eine Kultur- und Zivilisationslandschaft in einem wilden, felsigen Gebiet, in welchem dem Wanderer jederzeit ein Stein oder gar ein Felsbrocken auf den Kopf fallen kann. In solchen bewegten Zeiten ist die Schlucht, die sich nördlich von Biel-Bienne in den Berner Jura hineinzwängt, jeweils geschlossen. Das war seit Sommer 2009 bis vors Osterwochenende 2010 der Fall, nachdem ein grösserer Felssturz auf den Wanderweg niedergegangen war. Wie auf Gefahren-Hinweistafeln an den Schluchteingängen steht, lockert der Fels aufgrund von natürlichen Einflüssen (wie Wasser und die Sprengkraft des Eises) ständig auf. Die Chancen, einem Steinschlag zu begegnen, sind bei nassem Wetter und in der frühlingshaften Frost-Auftauphase am grössten: „Steine und Blöcke können den Weg im freien Fall, springend oder rollend erreichen. Die Benutzung des Wegs ist deshalb immer mit einem gewissen Risiko verbunden.“ Mit diesen Worten wird einem bei Betreten der Schlucht von einem Text neben einer Steinschlag-Warntafel Mut gemacht.
Nachdem ich vernommen hatte, die Schlucht sei wieder offen, fuhr ich am Ostermontag 05.04.2010 zum rund 2 km langen Schluchtweg zwischen Bözingen, diesem 1917 eingemeindeten Stadtteil von Biel (Boujean, 447 m ü. M.), und Frinvillier (Friedliswart, 517 m). Die Schüss (La Suze), einer der grösseren Jurabäche mit bildhauerischem Talent, hat in ihrem Unterlauf 3 Bergketten aufgerissen, eine Serie von Klusen geschaffen und damit den Weg zum Bielersee geöffnet. Das Schicksal meinte es mit mir und zahlreichen anderen Schluchtpassanten gut. Die Steine blieben, wo sie waren.
Die Transjurane
In der Regel fahre ich vom Aargau aus über Biel in den Berner Jura und in den Kanton Jura. Östlich von Biel bietet ein Grosskreisel die Möglichkeit zum Einbiegen in die A16, die man auch Transjurane nennt und die bis zur Landesgrenze Schweiz/Frankreich bei Boncourt führen wird; 2013 soll die Strecke durchgehend befahrbar sein. Sie wird an die französische Autobahn A36 (Mulhouse‒Dijon) angeschlossen. Die Transjurane gehört zu den teuersten Autobahnen der Schweiz, weil sie eben durch ein gebirgiges, zerklüftetes Gebiet führt und dementsprechend zahlreiche Brücken und Tunnels erstellt werden mussten. Die Kosten sind auf 5,6 Milliarden CHF veranschlagt.
Im unteren Teil beginnt das bauliche Abenteuer schon im Bözingerfeld (Bergfeld) mit einer kühnen, steil ansteigenden Brücke. Es handelt sich um eine Nationalstrasse 3. Klasse, die auch von Fahrrädern und Traktoren befahren werden darf. Und so ist uns im anschliessenden Tunnel de Pierre Pertuis (2208 m lang), welcher die Wasserscheide Birs/Schüss unterquert, denn auch tatsächlich ein Velofahrer begegnet. In jeder Richtung sind fast durchgehend (ausser bei gewissen Ein-/Ausfahrten) 2 Fahrspuren vorhanden, wobei die A16 in der Mitte getrennt wurde. Die eine der Richtungsfahrbahnen verläuft am westlichen, die andere am östlichen Talhang, wobei die Letztere weitgehend das Trassee der ehemaligen Hauptstrasse benutzt.
Sobald man von Biel aus die Autobahn-Rampe erklommen hat, erhält man einen ersten Eindruck von dieser derben Juralandschaft, allerdings nur beschränkt – weil man sich oft in Tunnels im Jurainnern befindet. Schon lange hatte ich die Wunsch, mich einmal dieser Ansammlung von Felsen und Schluchten in Ruhe zuzuwenden, und so steuerte ich denn zuerst Frinvillier (gehört zur Gemeinde Vaufellin = Füglistal) an. Der Ortsteil Frinvillier liegt am oberen Einstieg in die Taubenlochschlucht, die vom Suze-Wasser bis in eine Tiefe von 150 m ausgehobelt wurde.
Frinvillier ist ein Weiler, der es wahrscheinlich nicht ins Verzeichnis der schönsten Schweizer Ortsbilder schaffen wird – eine Ansammlung verschiedener Bauten west- und deutschschweizerischer Prägung, welche auch architektonisch den Sprachgrenzbereich („Röstigraben“) markiert; der bernische Einfluss ist deutlich zu erkennen. Der tiefer gelegene Teil des kleinen Orts ist unter vernetzten Strassenbrücken begraben und vom Willen, das technisch Mögliche an Energie aus der Schüss herauszufischen, gezeichnet. Ein dünnwandiger, teilweise über die Erdoberfläche hinaus ragender, leicht gebogener Betonkanal fliesst parallel zum Bach der Schlucht entgegen, wo das Kleinkraftwerk Taubenloch und das Kraftwerk Bözingen mitten in der Schlucht „Ökostrom vom Feinsten“ produzieren, wie auf einer runden Hinweistafel geschrieben steht (www.taubenlochstrom.ch). Dieser Schluchtenstrom ist mit dem Label „naturmade star“ ausgezeichnet ... und ich malte mir in Gedanken aus, wie wunderbar eine mit diesem Strom befruchtete Glühbirne alter Schule leuchten muss. Das Kraftwerk Bözingen in der Mitte der Schlucht wurde bereits 1896 erstellt; es ähnelt einer Kirche mit Turm, wie für den Energie-Gottesdienst gemacht. Siehe dazu auch http://taubenlochstrom.inettools.ch/
Am Schluchtausgang in Biel wurde und wird die Wasserkraft noch einmal genutzt: ursprünglich durch eine Mühle, dann durch eine Drahtmühle, aus der noch im 19. Jahrhundert die Drahtwerke entstanden waren. Sie produzierten 1882 erstmals Strom zur Beleuchtung eines Fabriksaals und legten damit den Grundstein fürs Elektrizitätswerk Biel, das seit 1992 Strom ins Netz abgibt. Dieses Schluchtende grenzt an baufällige Industriebrachen und baulückenhafte Stellen, bietet im Moment nicht eben ein erbauliches Bild.
Dort ist die auch äusserlich gepflegte Pendulenfabrik Eluxa stationiert, ein Hinweis darauf, dass der Berner Jura weltweit als Zentrum der Präzisionsindustrie und insbesondere der Uhrmacherkunst gilt.
Schlucht-Impressionen
Die Taubenloch-Aktiengesellschaft machte die Schlucht mit dem Bau eines Wanderwegs 1889 zugänglich und zu Fuss problemlos passierbar. Selbst Kinderwägen der Leichtbauweise mit Inhalt schaffen die Passage. Der teilweise mit Mergel belegte Weg führt durch Felseinschnitte, kleine Tunnels, über Brücken und unter dem Gewirr von einer Eisenbahnbrücke und den Strassenbrücken hindurch, bietet immer neu Bilder. Die vom Wasser polierten Jurafelsen, über 200 m mächtige und etwa 150 Millionen Jahre alte Kalkablagerungen aus dem Jurameer, die unter Druck aufgerichtet und vom Wasser fantasievoll bearbeitet wurden, sind schön und unregelmässig gerundet. Sie werden auf einer Hinweistafel zu Recht mit Rockfalten verglichen. Auch Höhlen, teilweise als Strudellöcher, gehören dazu, insgesamt ein Formenreichtum, wie ihn nur die Natur schaffen kann.
Die Schlucht ist ein offenes Geologie-Bilderbuch, zudem aber auch von botanischem Interesse. Besonders beeindruckt haben mich die vielen Eiben, die bekanntlich den Schatten lieben und in dieser Schlcht in Felsritzen sowie auf kalkigen Schutthalden wild heranwachsen und offensichtlich gut gedeihen. Wie im Eibenwald auf dem Unterwilerberg in Baden AG gedeiht auch hier die rare Hirschzunge, eine geschützte Farnart. Die Zahnwurz, die es hier ebenfalls geben soll, habe ich nicht entdeckt, dafür in einer Felsnische am Weg die Schaftlose Primel (Primula acaúlis) mit ihren hellgelben Blüten und dem orangefarbenen Schlund auf langen, dünnen Stielen und den verkehrt eiförmigen Blättern, die wahrscheinlich aus einem Privatgarten hierhin flüchtete, wie das Einsiedler gelegentlich tun, die genug von ihrer Familie und dem hektischen Leben haben. An flacheren, helleren Lagen kommen Linde, Ahorn, Buche, Ulme und Esche vor, also Mischwälder, wie sie zum kalkigen Juragebiet gehören. Dem Wild aber gefällt es hier kaum, wozu auch das Gewirr von Strassenbrücken und einer Eisenbahnbrücke, die Gefahr von oben signalisieren, beitragen; Reh, Hase und Fuchs sagen sich hier also weder Guten Tag noch Gute Nacht. Gelegentlich soll eine Gämse die Schluchtatmosphäre als Kletterparadies heimsuchen. Immerhin gibt es hier Tauben, die den Namen der Schlucht rechtfertigen, sodann Wasseramseln, Bachstelzen und Graureiher. Im Wasser sind einige Bachforellen, dankbar für die etwas beschwerlichen Fischtreppen bei den Stromproduktionsanlagen (wie ich aus Bachforellen-Kreisen erfuhr).
Von Frinvillier folgten wir der Schüss noch ein Stück weit nach oben. Richtung Rondchâtel gegen die Klus voin Reuchenette, wo man der Rondchâtel Dynamo-Stations (CH-2639 Péry) begegnet, ein opulentes Kraftwerk, dessen Zufahrtssträsschen gesperrt ist („Durchgang verboten“). Es handelt sich um einen Bau aus grauen Zementmauersteinen, Rechteck- und Rundbogenfenstern am Ufer der schäumenden Suze mit den Wehr-haften Anlagen im Bachbett. Ein Teil des Dachs ist von einigen Lukarnen belegt. Aber weil die Zugangsstrasse ja gesperrt ist, darf ich das ja eigentlich nicht alles wissen.
Der Wanderweg weicht nach Westen aus durch einen ansteigenden Wald mit einer grossen Rodungs- und Materialabbaufläche, das sich für die Glasherstellung eignete (Glassand, Quarz). Im lichten Wald hatten sich umfangreiche Bärlauchteppiche ausgebreitet; es lag nahe, davon eine Handvoll der knoblauchartig duftenden Blätter zu pflücken. Ein entgegenkommender Fussgänger mit dem Gourmand-Interesse westschweizerischer Prägung fragte: „Il y a encore?“ – hat es noch davon?
Péry
Abschliessend benützte ich die Gelegenheit zum Besuch einiger Dörfer, vorerst Péry (Büderich), auf 635 Höhenmetern am Südfuss der Jurakette des Montoz und an der Biegung des Schüsstals gelegen, mit der Jakobuskirche (1706) in erhöhter Lage, ein Rechteckbau mit Spitzbogenfenstern und von einem auffallend grossen Friedhof umgeben. Im Dorf sind stattliche, traufständige Bauernhäuser aus der 1. Hälfte des 17. Jahrhundert. Das Haus von 1843 weist 9 Achsen über den Stuben- und Tennteil auf, und am steinernen Tenntorsturz ist ein skulpiertes Hängetuch auszumachen. Mit seinen rund 1350 Einwohnern gehört der Ort zu den grösseren des Berner Juras.
Vauffelin
Um nach Vauffelin (707 m, 415 Einwohner) zu gelangen, musste der Weg über Frinvillier genommen werden. Vauffelin breitet sich als lange Abfolge von landwirtschaftlichen Bauten mit breiten Giebeln und grossen Rundbogentoren in einen Trockental nördlich der Jurakette des Bözingenbergs aus. Um den alten Ortskern mit dem Schulhaus von 1862, einem Brunnen mit 2 Längströgen aus dem 19. Jahrhundert und dem ehemaligen Pfarrhaus haben sich recht viele Wohnbauten entwickelt. Diese Gemeine gehört eindeutig zum französischen Sprachgebiet, ebenso Plagne.
Plagne
Und von Vaufellin aus war es ein kurzer Weg hinauf nach Plagne (Plentsch, 862 m, 360 Einwohner) am Südosthang der Jurakette Montagne de Romont. Im unteren Dorfteil sind einige beachtenswerte ältere, etwas angegammelte Häuser, nach einer Feuersbrunst 1851/54 wiederaufgebaut, weiter oben stehen spätklassizistisch fassadierte Bauten. Im schön gedeckten, von einem älteren Ehepaar geführten Restaurant „Au Chasseur“, in dem uns die Wirtin die Hand schüttelte, tranken wir einen Kaffee. Eine Frau am Nebentisch war hierhin gekommen, um auf einer Wiese einige Aprilglocken zu pflücken, die sie Planscheglogge nannte. Sie wollte uns freundlicherweise einige dieser gelb strahlenden Frühblüher schenken. Die Blumen läuteten die Zeit für die Heimkehr ein, derweil sich die Sonne über dem Chasseral senkte. Wieder einmal haben es mir die Romandie und ihre Menschen angetan.
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