Textatelier
BLOG vom: 01.05.2010

Der goldene Boden des Handwerks kann jetzt auch fliegen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Das Handwerk wird zunehmend auch zu einem Maschinenwerk. Die modernen Werkzeuge haben zum Teil gigantische Dimensionen. Das wurde mir am 22.03.2010 besonders deutlich bewusst, als.4 Facharbeiter der Metallbaufirma Beglinger & Lüscher AG aus Veltheim AG auf der Ostseite unseres Hauses auf einem Aluminiumrahmen ein Glasdach montierten. Die Konstruktion schützt einen kleinen Putzbalkon, der sich auch zum Lüften des Bettinhalts (womit nicht etwa wir Schläfer gemeint sind) eignet und einen darunter liegenden Vorraum vor Regenwasser abschirmt.
 
Die Männer, mit Handbohrmaschinen, zugeschnittenen Aluprofil-Stangen und Schrauben ausgerüstet, kletterten mit alpinistischem Talent herum und machten mit Stützsprüngen (Flanken) über den Handlauf der Aussentreppe auf sich aufmerksam. Vollkommen unerwartet zwängte sich ein Kranlastwagen durch die engen Stellen am Rebweg. Er positionierte sich auf der entgegengesetzten Seite des Hauses, etwa 24 Meter von der Montagestelle entfernt. Zuerst musste der 3-Achs-Laster auf dem schrägen Garagenvorplatz aufgebockt und in der Horizontale seitlich abgestützt werden, so dass ich Angst hatte, die ganze technische Herrlichkeit könnte des grossen Gewichts wegen im darunterliegenden Weinkeller landen. Wären meine Haare nicht schon längst ergraut, dieser Verfärbungsprozess hätte sich jetzt eingestellt. Doch war die Betonhülle dem Druck gewachsen, so dass die edlen Tropfen nicht mit Hydrauliköl vermischt wurden, was mich natürlich entsprechend freute.
 
Die Strecke zwischen Autokran und Baustelle überwand ein Greifarm, der in einem leichten Bogen über das Haus hinaus griff und jeweils ein lautes Schluchzen und Krächzen von sich gab, wenn wieder ein Arm-Element vollständig ausgefahren war.
 
Die schweren, doppelglasigen Scheiben, die übers Haus zu hieven waren, sind in ihrer Mitte mit einer unsichtbaren Folie versehen. Diese hat im Notfall das Zerbrechen in ein Zersplittern zu verwandeln, womit verhindert wird, dass ganze messerscharfe Scheibenstücke auf Menschen oder Tiere fallen, die sich ausgerechnet im dümmsten Moment darunter aufhalten könnten. Eine um die andere der 5 Scheiben wurde von 4 an einem Metallträger befestigten, Essteller-grossen Saugnäpfen erfasst und festgeklammert. Dann begann ihr Flug übers Haus, Scheibe um Scheibe. Im funkelnden Sonnenlicht drehten sie sich langsam, als ob sie die neue Umgebung aus allen Perspektiven erkunden wollten.
 
Am Kommandopult, das sich Peter Kieser aus Rupperswil um den Hals gehängt hätte, konnte mit einer Serie von verstellbaren, laschenähnlichen, leicht nach oben abgeknickten, schwarzen und roten Hebeln das Transportgut millimetergenau an den Bestimmungsort geflogen und dort abgelegt werden. Das Steuergerät funktioniert auch um Hausecken herum, braucht viel Feingefühl, da damit die Auslegerlänge, -höhe und -ausrichtung beeinflusst werden. Für solche Einsätze verlangt die Suva (Schweizerische Unfallversicherungsanstalt), welche den chirurgischen Abteilungen an den Spitälern das Geschäft vermiest, eine spezielle Prüfung. Sie hat eine Kranverordnung verfasst, die auf eine Unfallverhütung abzielt, wozu vor allem die Ausbildung der Kranführer gehört.
 
Der stämmige Vorarbeiter, Josua Lüscher, 80 kg schwer, empfahl mir, das Glasdach keinesfalls zu betreten, was ich mit meinem Ehrenwort quittierte. Doch das Wissen um die Zerbrechlichkeit von Glück und Glas hinderte ihn selber nicht im geringsten, auf dem Dach herumzurutschen und Dichtungsschäume in die Fugen zu spritzen. Ich erinnerte ihn daran, dass es pädagogisch vollkommen falsch sei, das Betreten des Dachs zu verbieten und sich selber nicht an dieses Verbot zu halten. Das hat er eingesehen, ohne aber daraus Konsequenzen zu ziehen.
 
Dennoch ging alles gut. Das Glas hielt der Belastungsprobe stand, und um die Zeit der abendlichen Blauen Stunde war das Wunderwerk inklusive eines kupfernen Dachkännels mehr oder weniger fertig montiert. Tags darauf legte der Kupferpreis, volatil wie fliegende Glasscheiben, wieder zu, obschon dieser 2009 um 150 % gestiegen war.
 
2 Metallbauer standen nach der getanen filigranen Schwerarbeit auf der Wiese oberhalb unseres abgetreppten Gartens, der bereits wilden Schnittlauch und frischen Löwenzahn anzubieten hat. Sie betrachteten ihr Tageswerk mit Genugtuung und genehmigten sich eine Prise eines braunen Schnupftabaks der Marke McChrystals mit Mentholaroma, um die Nase im Interesse einer besseren Luftzufuhr zu öffnen und das vollbrachte Werk auf diese Weise zu feiern. Sie boten mir ebenfalls einen Schnupf an, den ich gern annahm. Mit kräftigen Einatmungsschüben, Nasenloch um Nasenloch, brachte ich das Pulver an den Bestimmungsort, gab mit einem spontanen, kurzen Hustenanfall etwas Gegensteuer und freute mich, dass wir alle auch dieses Prozedere überlebten.
 
Abgesehen vom flüchtigen Mentholduft haben wir dank des noch vorhandenen goldenen handwerklichen Bodens Bleibendes geschaffen. Dass sich trotz all der Hydraulikanwendungen noch gewisse Traditionen erhalten konnten, habe ich mit Befriedigung zur Kenntnis genommen.
 
 
Hinweis auf weitere Feuilletons von Walter Hess
 
Hinweis auf weitere Blogs von Hess Walter
Die unendliche Geschichte der Sondermülldeponie Kölliken
Verkehrsmedizinische Untersuchung für Alte: das Auto-Billett
Aargau: Leben im freiesten Kanton des glücklichsten Lands
Reaktionen auf Blogs (158): Nachwehen zur Blatter-Wahl 5
Auf US-Befehl skandalisierte Fifa. Medien spuren unverzüglich
Reaktionen auf Blogs (157): Duftendes aus dem Ideentopf
Schweiz: Plädoyer für eine selbstbewusste, mutige Politik
Markwalders Kasachstan: Im Dienste der Destabilisierung
Reaktionen auf Blogs (156): Von Günter Grass, vom Lesen
Ein neues Umweltdebakel in Sicht: Solarpanel-Sondermüll
Gerhard Ammann: Naturaufklärer und Auenschutz-Pionier
Ulrich Weber: der Erfinder der 1. Bundesrätin ist nicht mehr
Der Zickzack-Kurs des Weltgeschehens: Desorientierung
Chaos-Praxis: Im Labyrinth der Erkenntnis-Widersprüche
Die Wirkungen von Staatsbesuchen: Hollande in der Schweiz