Textatelier
BLOG vom: 07.05.2010

Schweiz: Ausbruch aus der Enge – zum Glück misslungen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Die 68er-Aufbruchstimmung dauerte gut 20 Jahre an. Die Schweizer Literatur verstand sich als „littérature engagée“, vermengte Politik und Dichtung und wollte Einfluss nehmen. Solche Impulse von aussen können erwünscht und nützlich sein; die Demokratie lebt davon. Denker kann man immer gebrauchen, auch wenn man sie nicht unbedingt als Vordenker betrachten muss.
 
In der Zweimonatsschrift des Schweizerischen Vereins für die deutsche Sprache („Sprachspiegel“ 2-2010) schrieb der an der Universität St. Gallen tätige Sprach- und Literaturwissenschaftler Mario Andreotti zum literarischen Schaffen jener Epoche: „Für die Autoren dieser Literatur, für einen Max Frisch, einen Peter Bichsel, einen Jörg Steiner, einen Adolf Muschg, einen Niklaus Meienberg, einen Franz Hohler, einen Otto F. Walter, einen Hugo Loetscher, einen Otto Marchi mit seiner ,Schweizer Geschichte für Ketzer’ und viele andere, war die stürmische Hassliebe zur Heimat noch so etwas wie die zentrale Triebkraft ihres Schreibens. Der Heimatdiskurs – Heimat stets verstanden als ‚Enge’, die Schweiz als ,Gefängnis’, aus dem man eben ausbrechen musste – gehörte fast zwingend zu ihrem literarischen Repertoire.“
 
Selbstbewusstsein untergraben
So war es. Die Armee galt als suspekt (... was gab es da überhaupt zu verteidigen? ...) und die Unabhängigkeit als noch verdächtiger; die Globalisierung unter US- und Nato-Führung brach wie ein gegen alle Vernunft resistentes Virus in die Gehirne ein, wurde flächendeckend eingepflanzt. Daraus mag zum Beispiel verständlich sein, dass die Schweizerarmee heimlich mit der Nato zu kooperieren begann, vor allem über die euphemistisch so genannte Nato-Partnerschaft für den Frieden (PfP). Die Praxis ging viel weiter, ohne dass das Volk dazu befragt wurde; Nato-Normen wurden gedankenlos übernommen; das Volk aber sollte möglichst wenig davon erfahren.
 
Einer selbstbewussten Schweiz wurde der Untergang vorausgesagt, wenn sie sich nicht öffnen und kopfvoran in den Mainstream, der nur eine einzige Richtung kennt, werfen würde; denn nur von ihr aus könne sie sich bemerkbar machen. Wer dem Modernisieren, Globalisieren, Gleichschalten, Feminisieren, dem Vernichten überlieferter Wertvorstellungen usf. und Mitläufertum hinter US-Vorschriften im Wege stand, wurde lächerlich gemacht, wie ein Staatsfeind behandelt, hatte Nachteile hinzunehmen. Die Medien wurden zunehmend unerfahrenen, leicht beeinflussbaren Jugendlichen anvertraut. Diese wollten ihre Fortschrittlichkeit sowie ihren vorauseilenden Gehorsam beweisen oder schwenkten ein, drängten Traditionalisten und Unangepasste an die Wand, verwiesen sie an den Schandpfahl. Die versammelten fortschrittsgeilen Konquistadoren erhielten immer mehr Zulauf. Wer „in“ sein wollte, musste mitstapfen.
 
Weiter im Pro-EU-Text
In den 1990er-Jahren, als sich die Schweizer Literaten bereits von der Politik verabschiedet, sich dem Neoliberalismus und unter dem Fernseheinfluss aus Absatzgründen der seichten Eventkultur zugewandt hatten, war es mit der Verbreitung globaler Aufbruchstimmung gleichwohl nicht vorbei. Einer, der verbissen daran festhielt und festhält, verbal aber gelegentlich etwas zurückkrebsen muss, ist der Öffentlichkeitsarbeiter Klaus J. Stöhlker, 1941 in Ludwigshafen D geboren, seit 1970 in der Schweiz wohnhaft und heute als Unternehmensberater in Zollikon ZH tätig. Als er im Frühling 1995, also vor 15 Jahren, gerade an der portugiesischen Algarve (bei Carvoeiro) sass, legte er seine überhöhte Denkerstirn in Falten, dachte angestrengt über die Zukunft der Schweiz hinter den 7 Bergen nach und begann ein Buch mit dem bedrohlichen Titel „Bedrohte Schweiz – wohin?“ zu schreiben. Er nahm wahr, wie Portugal mit EU-Hilfe gerade aus einem mehrhundertjährigen Schlaf erwachte, währenddem die Schweizer Bevölkerung, „langsam alternd wie grosse Teile der Wirtschaft“, irritiert das Aufblühen des „äussersten Südens“ von Europa (also auch von Spanien) bewunderte. Ein Überholmanöver zeichnete sich ab. Gerade als übernahmereif (nach DDR-Muster) mochte Stöhlker die Schweiz allerdings vorerst noch nicht bezeichnen. Aber gewisse Auswanderungsahnungen hinsichtlich der Elite plagten ihn schon, mit allen Folgen. Das waren verbreitete Ängste, wie sie als „gefährliche Seuche“ viele Schweizer befallen haben: „Ein Volk ist im Begriff, seine Vergangenheit zu verlieren und hat nicht die Kraft, eine Zukunft zu entwerfen.“ Bis zum emotionalen Durchhänger war es da nur noch ein kleines Stück.
 
Wer das las, war tatsächlich den Tränen nahe, versank in einen anhaltenden Zustand von Depression. Ein Trost stellte sich wenige Jahre später ein, als Portugals Aufschwung um 2000 zu stagnieren begann und auch Spaniens Wirtschaft depressiv und depressiver wurde. Herr Stöhlker und seine Mit-Globalisierer übersahen, dass überall Finanzsysteme auf sich ständig verbreiternden Schuldenfundamenten ausgebaut wurden.
 
Dafür wusste der Prophet von der „drohenden Armut“ in der Schweiz ein Klagelied zu singen. In seine himmeltraurige Elegie hinein verwob er die „erheblichen Schulden, welche die reiche Schweiz seit 10 Jahren aufbaut“ – mit Verweis auf die daraus entstehenden Steuerlasten. Die Schweiz, so flüsterten ihm die Wellen an der südlichen portugiesischen Küste ein, sei mehr gefährdet als ein zahlenmässig grösseres Land, könne sich eine Staatskrise weniger leisten als ein solches; sie sterbe den „gesellschaftlichen Tod“. Die Geschichte habe gezeigt, dass Staaten untergehen könnten – eine Aufgabe, die übrigens zurzeit der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi lösen will.
 
Die Schweiz sei schon immer zu klein gewesen, „um eine eigene Intelligenz ausreichend finanzieren zu können“, erkannte Stöhlker. Da kam also noch eine „materielle Enge“ hinzu, die etwa Schweizer Schriftsteller zur Flucht ins Ausland treibe, wo die Honorare besser seien. Inzwischen läuft der Fachkräftestrom allerdings in umgekehrter Richtung, merkwürdigerweise ... Und auf dem Titelblatt der soeben eingetroffenen „Aargauer Zeitung“ (06.05.2010) steht: „Die Schweiz zieht immer mehr Reiche an.“ Weil sie sich und ihre Habe vor den steigenden Steuerbelastungen in ihren Heimatländern in Sicherheit bringen wollen bzw. müssen. Wörtlich schreibt Christof Forster: „Um ihre Defizite zu decken, beginnen EU-Länder die Steuern zu erhöhen. Das schreckt reiche Deutsche, Franzosen und Engländer auf."
 
Das ist aus Stöhlkers Untergangsprophetie geworden. Den Unternehmen riet der Unternehmensberater in seinem Buch von 1995, sich auf den Weg des Weltmarkts zu begeben, obschon sie das schon immer getan hatten. In ihren selbst mitbestimmten Aussenbeziehungen war die Schweiz schon immer globalisiert, aber nicht eingebunden und damit nicht zu einem Vasallen degradiert. Aber Herr Stöhlker sah für unser Land in seiner rührenden Umsorgtheit eigentlich nur noch den „Fluchtweg in die Europäische Union“, der „uns nicht geschenkt wird“, wolle die Schweiz der Verarmung entkommen. Solche kruden Ansichten sind gestattet, kennen wir doch keine Meinungs- und Geschmacksdiktatur. An den Haaren herbeigeschleifte Argumente sind nicht verboten, dienen sie doch früher oder später der Entlarvung des Schreibers und von dessen Beratertalent.
 
Herr Stöhlker ist eine gewinnende Persönlichkeit, ich mag seine Auftritte, seine prägnanten Aussagen, auch wenn er daraus einfach nicht mehr so richtig herausfinden kann, wenn sie nicht mehr in die Landschaft passen wollen. Er war nicht der einzige Weissager, der sich komplett verrannt hat (auch der Bundesrat war seinerzeit auf EU-Kurs); Zukunftskenner haben manchmal Glück, manchmal weniger. Herr Stöhlker hatte eher etwas Pech – und mit ihm auch die damalige Schweizer Landesbehörde.
 
In einem Vortrag an der Sissacher Tagung 2005 sagte Berater Stöhlker, der Amerikanisierung des Weltmarkts (also der Globalisierung) könne sich die Schweiz nicht entziehen, sei sie doch „in Wirklichkeit das amerikanischste Land Europas, das aufgrund grossen Reichtums sein alemannisch-burgundisch-ostgotisches Erbe bewahren/finanzieren konnte“. Da war also, 10 Jahre nach den Untergangsszenarien, etwas Zuversicht zurückgekehrt, wenigstens was den Wohlstand anbelangt, und man konnte sein Taschentuch trocknen lassen und versorgen. Aber an einen EU-Beitritt glaubte er noch immer – „binnen 10 Jahren“ (von denen 5 glücklicherweise heil überstanden sind).
 
Heutzutage
Die arme, bedauernswerte Schweiz steht heute wesentlich besser als die EU-Länder da; in seiner Amtszeit hat Finanzminister Hans-Rudolf Merz rund 20 Mia. CHF an Schulden abgebaut. Im umgebenden Europa lief alles in der gegenteiligen Richtung. So müssen, um den totalen Staatsbankrott Griechenlands abzuhalten, die EU und der IWF vorerst 110 Milliarden Euro einschiessen, wovon das überschuldete Deutschland (Staatsschulden: mehr als 1,7 Billionen Euro) innerhalb von 3 Jahren 22,4 Mia. Euro bluten muss. Wie bei der Bankenrettung unter dem Motto „Too big to fail“ geht es schon wieder um Solidarität als Selbstschutz, wie immer in Gebilden, die zu gross wurden und deshalb zerfallen (Textatelier.com-Leitsatz: „Too big, must fail“).
 
Die selbstständige Schweiz ist in einer glücklichen Lage: Abgesehen von ihrer Beteiligung am IWF-Hilfspaket für Griechenland von 30 Mia. Euro kann sie nicht zur Kasse gebeten werden. Immerhin sind es rein rechnerisch etwa 480 Millionen Euro aus den Devisenreserven der schweizerischen Nationalbank, die Griechenland mit seinem masslos aufgeblähten Staatsapparat aus den mit 14 Monatslöhnen vergoldeten Beamten, die ab 50 in die Frühpension gehen können (die Gewerkschaften sind dort übermächtig) und seiner Korruption zur Verfügung gestellt werden. Statt das eigene Haus aufzuräumen, generalstreiken die Griechen, was zusätzliche wirtschaftliche Schäden verursacht. Am 05.05.2010 gelang es den Gewerkschaften, das Land lahmzulegen. Der Tränengaseinsatz vonseiten riesiger Polizeiaufgebote erleichterte das Weinen. Bei Protesten als gewerkschaftliches „Signal des Widerstands“ kamen 3 Angestellte der Marfin-Bank ums Leben. Die Touristen ergriffen die Flucht, packten zusammen. So etwas stärkt die Wirtschaft und die finanzielle Gesundheit des Staats nicht besonders. Der Protest richtete sich gegen die Sparauflagen der Euroländer und des IWF, die Milliarden einschiessen müssen und aus Griechenland ein EU- und IWF-Protektorat machten, zumal das Land „am Rande des Abgrunds“ steht, wie Präsident Karolos Papoulias sagte. Die Gehälter schrumpfen um 20, der Benzinpreis steigt um 33 Prozent (1,60 Euro pro Liter).
 
Auch Spanien und Portugal steht das Schuldenwasser bis zum Hals; sie sind „Wackelkandidaten“ („Bild“). Die Rückstufung ihrer Kreditwürdigkeit durch die dubiose Ratingagentur Standard & Poor's bestätigte hinterher nur etwas, das seit Monaten bekannt war. Wie beim US-Schrottpapierhandel hat S&P auch das erst mit Verzögerung geschnallt bzw. wie beim Schrottpapier-Bewerten zuerst einmal die eigenen Interessen wahrgenommen, d. h. aus Profitgier Risiken verschleiert, wie das heute wieder bei der Bewertung von US-Staatspapieren geschieht. Und noch immer schädigt Kollateralschrott aus der US-Hypokrise die Finanzsysteme.
 
Solidarhaftung
„Die Portugiesen wissen, was sie Europa schuldig sind“, schrieb Stöhlker 1995 (auf Seite 11 seines Buchs), was, im Rückblick betrachtet, erfrischend sarkastisch tönt. Alle müssen für jeden bezahlen, und am Ende gibt es niemand mehr, der die ausgebluteten Retter retten kann. Das gesamte Euroland wird in den Abgrund gerissen und muss einsehen, dass eine Währungsunion ohne politische Einheit eine hirnrissige Idee ist. Liederliche werden belohnt, Sparsame bestraft. Die Aufgabe der nationalen Rest-Souveränitäten wäre natürlich ebenfalls ein grosses Übel, wohl das noch grössere. Das zeigt alles nur, dass solche staatlichen Grossgebilde mit Einheitswährungen ins Elend führen. Die Krisen werden sich im unordentlichen EU-Haus der Egoisten selbstständig und teufelskreisartig fortsetzen, weil sich der Euro als Fehlkonstruktion erweist.
 
Der „bisher verzögerte EU-Beitritt der Schweiz“ (Stöhlker-Formulierung) dürfte angesichts des Euro-Debakels wohl weiter hinausgeschoben werden oder (hoffentlich) aus Abschied und Traktanden fallen. Das am 26.05.1992 vom Bundesrat bei der EU hinterlegte Beitrittsgesuch, das schubladisiert ist, müsste man spätestens jetzt zurückziehen. Der Beitritt wird zu einem immer weniger erfüllbaren Wunschtraum einiger unverbesserlicher Spät-68er, derweil die Fortsetzung des „Heimatschutzes“ vor ausländischen Einflussnahmen immer mehr Sympathien empfängt. Umso dankbarer muss man jenen gegenüber sein, die es verhindern konnten, dass wir uns unter links-intellektuellem Druck in die pekuniären Abgründe des Eurolands geworfen haben, so vor allem Christoph Blocher und seinen tapferen SVP-Mannen und -Frauen und der Mehrheit des Schweizervolks, die sich von den Gehirnwäschen von links bis tief in die Mitte hinein, wo der orientierungslose Freisinn und die verwirrte CVP sind, nicht unterkriegen liessen. Das Nein zum „Bundesratsbeschluss über den Europäischen Wirtschaftsraum“ fiel an jenem 06.12.1992 allerdings verdammt knapp aus: 49,7 % Ja und 50,3 % Nein. Aber das genügte, um nicht unter die Totalkontrolle aus Brüssel zu kommen.
 
Natürlich ist die Gefahr der Aufgabe der eigenen Unabhängigkeit, der Neutralität und des Gemolkenwerdens noch nicht aus der Welt geschafft. Bis in den Bundesrat hinein gibt es noch heute viele EU-Fans (wie der sich offen dazu bekennende SP-Mann Moritz Leuenberger, der sicher einen hohen, viel besser bezahlten Job in Brüssel erhalten würde). Der Publizist Roger de Weck, ans Scheitern gewöhnt, besingt unverdrossen die europäische Integration als einen Weg zur „europäischen Eidgenossenschaft“, passiere, was passieren mag. Er spielte (in der „SonntagsZeitung“ vom 02.05.2010) die EU-Krisen als „Wachstumskrisen“ herunter und verstieg sich gar zur Feststellung, sie würden „noch mehr Integration“ bewirken und führten auf den Pfad der Tugend zurück. Derweil wurde Griechenland gerade zum Feindbild der Deutschen. Er überschlägt sich förmlich in Schönrednerei: „Euroland dürfte daraus gestärkt hervorgehen.“ Dieser Dichtkunst fehlt die Praxis- und Volksnähe. Wenn wir Schweizer als EU-Mitglied und EU-Debakel-Financiers die Mehrwertsteuer (wie Griechenland) auf 23 Prozent anheben müssten, würde Herr de Weck wohl enthusiastisch schreiben, das bringe uns auf den rechten Pfad des Sparens, ein Riesenvorteil, auch im nationalen Interesse.
 
Wir könnten uns dann nicht einmal mehr Ferien an der Algarve leisten.
 
Mit den Vertretern der „Durch-Schaden-wird-man-klug“-Mentalität konnte ich noch nie viel anfangen. Mir sind Leute lieber, die uns vor Schaden bewahren, vor allem vor irreversiblem. Und manchmal ist man in einer „Enge“ besser geschützt als auf der freien Wildbahn, den ewigen Jagdgründen der Finanzmafiosen.
 
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