Textatelier
BLOG vom: 01.06.2010

Das Gatter, Juraübergang zwischen Biberstein und Thalheim

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Ein Übergang über eine südliche Faltenjurakette, der ausserhalb von Wandererkreisen kaum bekannt ist, heisst Gatter. Die Leute, die in der Umgebung wohnen, sprechen allerdings nicht vom Gatterpass, sondern schlicht vom Gatter. Damit meinen sie den Homberger Sattel zwischen Biberstein am Jurasüdfuss am Rande des Aaretals und Thalheim im Schenkenberger Tal, dessen unteres Ende bei Schinznach-Dorf ist.
 
In der althochdeutschen Sprache wurde eine Pforte aus Gitterstäben als durchlässiger Bestandteil eines Zauns, eine Einzäunung, eine Abschrankung oder ein Gittertor als gataro bezeichnet. Das englische Gate (Tor, Pforte, Schranke, Sperre, Flugsteig) gehört selbstverständlich in diesen etymologischen Zusammenhang. Wer etwas ergattert (erhascht, erwischt), hat etwas (eher unrechtmässig) über ein Gitter hinweg erlangt. Selbst in die Digitaltechnik ist der Begriff Gatter (Logikgatter) vorgedrungen. Die Aufgabe des Gatters ist in diesem Fall die logische Auswertung von Eingangssignalen an einer Schaltung der Digitaltechnik, indem an Eingängen Zustände von geringer („0“) oder hoher Spannung („1“) angelegt werden.
 
Doch auf dem jurassischen Gatter (643 m ü. M.), das auf dem Blatt „Aarau“ (1089) der Landeskarte der Schweiz schriftlich bezeichnet ist, gibt es kein Gitter und kein Gatter, was weniger logisch ist. Sondern es ist schlicht und einfach eine Waldstrassen- und Waldwegkreuzung, deren Bedeutung erahnt, wer den mit vielen goldgelben Ästen versehenen Wanderwegweiser studiert: die Staffelegg (55 Wanderminuten entfernter Jurapass), Küttigen, Biberstein, Auenstein, Thalheim (Ruine Schenkenberg), Zeiher Homberg, Aarau (1 Std. 35 Min.), Rupperswil, Lenzburg, Wildegg usf. sind als Ziele für eingefleischte Wanderer genannt – und auf die Gisliflue (Gislifluh, 772 m) sind es von hier aus nur noch 20 Minuten. Die Routen laufen sternförmig auseinander beziehungsweise sie treffen sich hier, wie man’s nimmt. Insgesamt ist hier der Treffpunkt von 8 Wanderwegen, zählt man die etwa 80 m weiter unten auf der Thalener Seite liegende Wanderwegabzweigung hinzu.
 
Das Gatter ist aber nicht allein eine Weggabelung, sondern auch ein Gemeindegrenzentreffpunkt. Etwa 100 m in Richtung Gisliflue steht der alte Markstein, der die Stelle bezeichnet, wo sich die Gemeinden Biberstein, Auenstein und Thalheim treffen – und damit auch die Bezirke Aarau und Brugg. Und als Bibersteiner nimmt man mit Schrecken zur Kenntnis, dass der Bibersteiner Hausberg nicht innerhalb der Gemeinde Biberstein liegt, sondern das Triangulationsdreieck auf dem Gislifluekopf markiert die Gemeindegrenze Thalheim-Auenstein.
 
Die felsige, alpin bewachsene Gisliflue besteht aus Hauptrogenstein (kalkige Oolithe) neben Riffkalken von Korallenriffen aus der Jura-Zeitepoche des Doggers. Aber dort oben wird man weniger die Steine unter den Wanderschuhen betrachten, sondern die schöne Aussicht ins Schenkenberger und ins Aaretal, zum Seetal und zu den Alpen. Die heilig gesprochene Gisela, die der Gisliflue den Namen gab, hatte mit Biberstein keinen Bezug; die Gislijungfer soll im nahen Veltheim gewohnt haben, wenn sie sich nicht gerade als Einsiedlerin am Südhang der Gislifluh, die damals noch „Balder“ wie der germanische Lichtgott hiess, zurückzog. Über sie ist wenig bekannt; der Todestag wird mit 12.02.1277 angegeben. Einer Sage nach gilt sie als Stifterin der Kirche Veltheim, und dennoch kam es zu keinem eigentlichen Gisela-Kult.
 
Die mit Mergel befestigten und gut unterhaltenen Waldstrassen im Bereich des Gatters und damit auch der Juraübergang als solcher sind mit einem Fahrverbot belegt; sie dienen vor allem dem Forstwesen und werden, wie ich bei meiner Wanderung vom Pfingstmontag, 24.05.2010 feststellen konnte, von Mountainbikern gern benützt. Die holperigen, mit Wurzeln durchzogenen Wege ihrerseits, welche den gewundenen Strassenverlauf abkürzen, scheinen von ihnen noch beliebter zu sein – Bremsaktionen, Sprünge gehören offenbar zu dieser Variante des Radsports. Der Fussgänger- und Velofahrerverkehr hält sich in Grenzen, so dass auf dem Gatter kein Verkehrskreisel nötig ist.
 
Biberstein (393 Höhenmeter) ist eine Stadt-Gründung der Grafen von Habsburg-Laufenburg aus dem 13. Jahrhundert, die als Bollwerk gegen das kyburgische Aarau aus dem 13. Jahrhundert diente. Das Gatter erreicht man vom Dorf aus in weniger als 1 Wanderstunde. Doch fällt es keinem Menschen ein, diesen Juraübergang als Ausflugsziel zu wählen. Der Laubmischwald mit Ahornen, Buchen usf. im Interesse der Wege aufgelichtet, und ein Aussichtspunkt ist das auch nicht. Nicht einmal eine Ruhebank nimmt dort müde Wanderer auf, und eine Gaststätte, die man auf richtigen Pässen sonst antrifft, gibt es auch nicht. Ich habe mich diesem kaum bekannten Pass hier einfach angenommen, weil er zu meiner Sammlung von Juraübergangsbeschreibungen gehört.
 
Die Beziehungen zwischen Biberstein und Thalheim dürften früher eher intensiver als heute gewesen, waren doch im 14. Jahrhundert Bibersteiner Herrschaftsleute in Thalheim anzutreffen. Den Weg über die Jurafalte gibt es schon seit Jahrhunderten – die Fussgänger hatten hier eine Abkürzung Richtung Laufenburg oder gegen Schinznach-Dorf. Und vielleicht gab es auch Liebschaften zwischen jungen Leuten aus Biberstein und Thalheim. In diesem Falle würde man das Wort „Gatter“ wohl vom Verb „gatten“ (= sich paaren) ableiten, das wiederum etwas mit dem Gatten zu tun hat (Gefährte, Ehemann). Daraus mag man ersehen, wie locker man mit der Interpretation alter Flurnamen umgehen kann.
 
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