Textatelier
BLOG vom: 05.06.2010

Der Stabhochspringer (4): Husseins letzter Sprung

4. Episode
Die Vorbereitungen für Husseins „Meistersprung“ beanspruchten 3 Monate. Vorgängig besuchten Hussein und Piet immer wieder das moderne islamische Zentrum während der öffentlich zugänglichen Besuchszeiten. Sie gingen aneinander vorbei, als ob sie sich nicht kennen würden.
 
Hussein hatte sich ein Kreisbärtchen wachsen lassen und ging vorgebeugt, auf einen gedrechselten Stock aus Ebenholz mit Elfenbeineinlagen gestützt. Fürwahr, er glich einem gebrechlichen Heiligen, Iman oder Gelehrten, wie er in schwarzen Robe gewickelt bei jeder Ecke und Nische des mit Marmor ausgekleideten Gebäudes scheinbar kontemplativ-gedankenversunken innehielt. Die Fenster waren durchwegs zu eng für den Einschlupf und glichen langen, vertikalen Schiessscharten. Die Glaskuppel war uneinnehmbar. Lange verweilte er im Garten des Flachdachs im 3. Stock, der zum Rundgang einlud – eine Oase der Ruhe und Besinnung. Er war von einer Mauer abgeschrankt und von einem einzigen Baumwipfel auf der Westflanke überragt. Der Verkehrslärm drang nicht herauf.
 
Sein Rollenwechsel bereitete Hussein Spass, der so weit ging, dass er eines Tages den grossen Gebetsraum betrat und an der Zeremonie der Gläubigen teilnahm. Ihm war auf seinen Streifzügen durch den sakralen Bau nicht entgangen, dass sich die Islamiten nicht allein auf Allahs wachsame Augen verliessen. Sehr diskret waren viele elektronische Argusaugen im Plafond und in den Säulen eingebaut, teils als Flurlichter getarnt.
 
Piets Rundgänge waren pragmatischer Art. Die Türverriegelungen waren elektronisch gesteuert, stellte er fest. Gleich neben den Haupttüren waren Schalter angebracht. Welcher Code musste zur Türentriegelung eingegeben werden? Er hielt Ausschau nach toten Winkeln in der CCTV-Installation. Wo war das Nervenzentrum des Überwachungssystems? Wer hat es eingerichtet und wer wartet es? Wiederum musste sich Piet auf seine Kontakte berufen. Im Internet fand er die Grundelemente der Baupläne und Hinweise auf das mit der Ausführung beauftragte Team von Architekten. Wer sich hartnäckig bemüht, wird fündig. Auf Umwegen erfuhr er den Namen des Systemherstellers. Piet liess sich einen Satz von Visitenkärtchen drucken (hinter seinem Namen hatte er sich eine ETH-Qualifikation angemasst), trimmte seinen struppigen Bart und vereinbarte ein Treffen mit einem Fachspezialisten der Firma. Er suche einen geeigneten Hersteller für ein kleineres Museum in Holland, gab Piet vor. Verschiedene Modelle wurden ihm vorgeführt und ihre Handhabe erklärt. „Ausserdem liefert unsere Firma auch einbruchsichere Ausstellungsvitrinen. Das Patent ist geschützt! Kein Schlaghammer bricht das Glas, kein Brecheisen löst die ineinander verzahnte Stahlverschalung“, plauderte sein Gesprächspartner gar leutselig aus.
 
„Und was ist das?“, wies Piet auf das Messingplättchen mit dem Schlüsselloch, vorne an der Vitrine angebracht. Verschmitzt erklärte sein Gegenüber: „Eine Attrappe! Wer am Schloss fummelt, löst einen Alarm aus.“
„Das ist gerissen“, gab Piet zu.
„Hier“, zeigte er Piet, „sehen Sie, wie einfach es ist, die Vitrine zu entriegeln.“ Er beugte sich tief: „Sie drücken einfach auf diesen versenkten Knopf – dreimal ‒ hören Sie den Klick? – und Sie können die Glasplatte heben.“ Und wenn Sie den Deckel senken, ist die Vitrine wieder uneinnehmbar verriegelt!“
 
Der gute Mann hatte in seinem Eifer alles ausgeplaudert.
„Haben Sie mir noch einige Referenzen“, fragte ihn Piet zuletzt.
„Ich brauche Ihnen nur eine zu nennen – das ‚British Museum’“, bekam er zur Antwort.
 
In einem libanesischen Lokal im Bayswater-Quartier trafen sich Hussein und Piet öfters. Hussein bestellte Tee und bat jeweils um 2 Nargileh (Wasserpfeifen). Munter pfafften sie drauflos. Ihr Plan nahm Konturen an. Hussein hatte sich bereits einen Ausstellungskatalog gesichert und allerlei kalligraphisch gestaltete Koranblätter und Miniaturen aus den Dynastien zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert, hauptsächlich Mughal und Safavid, vorgemerkt, die leichter zu vertreiben sind als frühere Werke. „Das nenne ich Wertpapiere!“ lobte ihn Piet beeindruckt. „Aber zur Endauswahl musst du dir während der Besichtigungen der Ausstellung nur eine oder zwei Vitrinen vormerken“, gab Hussein zu bedenken, „denn die Zeit ist zu knapp bemessen, um die Blätter zu stibitzen. „Ich kann die Anlage, die erst noch mit Laser abgesichert ist, nur für 3 Minuten stilllegen.“
 
So verblieb ihnen zuletzt nur noch eine Woche zur Feinabstimmung des Diebstahls.
 
Hussein hatte erfahren, dass Faksimili aller Ausstellungsobjekte am 1. Tag der Ausstellung gekauft werden können. Hussein hatte den ganzen Satz vorbestellt und gesagt, dass er jemand schicken werde, um diesen abzuholen und zu bezahlen. Ohne seinen Namen zu nennen, bat er um eine Referenznummer, wogegen seine Vorbestellung eingelöst werden kann.
 
Piet löste am 1. Ausstellungstag die Faksimili gegen Barbezahlung ein. Hussein, wiederum verkleidet, besichtigte die Vitrinen. Die Koranblätter lagen in mehreren Vitrinen verteilt, desgleichen die Miniaturen. Er merkte seine Auswahl im Katalog an. Piet war anderweitig beschäftigt. Allem Anschein hatte er Schwierigkeiten mit seinen Schuhen und musste zweimal tief gebeugt die Schuhbändel schnüren. Dabei entsicherte er mit dreimaligem Knopfdruck die Vitrinen, ohne einen Alarm auszulösen. Auch gelang es ihm, die Elektronik an der Eingangstüre auf der Seite des Dachgartens unbemerkt zu unterbrechen.
 
Hussein und Piet bestimmten den 3. Ausstellungstag für den „Meistersprung“. „Willst du ums Verworgen mit dem Hochsprungstab ins Geäst des Baums springen?“ fragte er Hussein.
„Du kannst keinen Islamisten zum Christentum bekehren“, antwortete Hussein.
„Aber du bist kein Mohamedaner“, wandte Piet ein.
„Eben“, antwortete Hussein kurz angebunden.
 
Alle Vorkehrungen für den grossen Tag waren getroffen. Husseins Ledertasche auf die Grösse der Koranblätter und Miniaturen zugeschnitten, trug er vorne unter seiner Jacke geborgen mitsamt den ausgewählten Faksimili. Piet hatte sich kurz vor Torschluss der Ausstellung nochmals vergewissert, dass er die Elektronik im Griff hatte.
 
Frühmorgens, es war Dienstag, ging es los. Auf der stillen Seitenstrasse hatten sie in der Strassenmitte eine Umleitungstafel von der nahen Baustelle aufgestellt. Das Wetter war miserabel. Regenböen jagten einander kreuz und quer durch die Strassen. Sie werweissten, ob sie den „Meistersprung“ nicht vertagen sollten. Bei solchem Wetter ist niemand auf der Strasse. Das ist von Vorteil, kamen sie zum Schluss. Nichts konnte sie mehr aufhalten.
 
Hussein trug einen Zeitmesser in der Ohrmuschel, den Piet genau um 3 Uhr 30 aktivieren würde. Die Wurfleine für den Überstieg vom windgepeitschten Baum auf die Dachterrasse lag griffbereit in seiner Jacke. Ja, Hussein gelang der Meistersprung ins wankende Geäst. Die Wurfleine krallte sich auf der Mauerbrüstung ein. Innert 2 Minuten war Hussein im Dachgarten. Der Zeitmesser war angeschaltet – eine Spanne von 3 Minuten nur verblieb Hussein. Er huschte durch den Eingang ins Gebäude, sprang die Treppe zum 2. Stock hinunter, hob die Platte der 1. Vitrine hoch und tauschte Blatt um Blatt die Originale gegen die Faksimili ein – schneller als es einem Kartenspieler gelungen wäre. Damit wollten sie verhindern, dass ihr Diebstahl nicht schon anderntags entdeckt werde. 2 Minuten verblieben ihm noch, wie er die 2. Vitrine plünderte. Nach Ablauf der 3 Minuten war Hussein wieder im Dachgarten und seilte die Tasche mit der Beute ab, die Piet unten empfing und mit einem Pfiff quittierte.
 
Und dann geschah das Malheur – das zu schildern der 5. Episode vorbehalten bleibt.
 
Hinweis auf die vorangegangenen Stabhochspringer-Blogs
30.05.2010: Der Stabhochspringer (3): Bis zum zweitletzten Sprung
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