Textatelier
BLOG vom: 29.06.2010

Fussball-WM (5): Abwehr durchlöcherter als Schweizer Käse

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Die Deutschen waren die bessere Mannschaft. Sie hat hochverdient gewonnen (…)“
(Steven Gerrard, englischer Mittelfeldspieler)
*
„Du bist ein nutzloser Referee“
(The Sun)
*
„Ein trostloses England erleidet WM-Herzschmerz“
(Independent)
*
Bevor der alte Klassiker England gegen Deutschland im Free State Stadion in Bloemfontein bei der WM 2010 in Südafrika angepfiffen wurde, tobte in der Presse ein Krieg ohnegleichen. So wurden beispielsweise die Engländer in den Zeitungen hoch gelobt, und manch ein Tipp ging an den Trainer Fabio Capello. Dann wurde von einer „Kriegsführung“ gesprochen und so manches andere Vokabular aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgekramt. Aber auch die deutsche Presse hielt sich nicht zurück. Sie war voll überzeugt, dass die deutschen Spieler das englische Team niederringen würden.
 
Die englischen Wettbüros waren auf einen Sieg Englands eingestellt. Father Leo Heakin von Salford hängte am Morgen des Spiels über den Altar eine St. Georgs-Fahne und sprach ein Gebet „zum besseren Gelingen“. Aber nichts half, wie wir jetzt wissen.
 
Der schlaue Oktopus
Dass das englische Beten nicht helfen konnte, wusste ich schon vorher, da der Oktopus Otto Armstrong im Sea Life Hannover, schon viermal mit den „Vorhersagen“ richtig lag. Man ging so vor: Es wurde ein Acryl-Labyrith in Form eines Fussballfeldes ins Becken gelassen. Links und rechts des Behälters sind Fussballtore aufgestellt, in denen sich identisches Futter (Sardellen, Muscheln) befindet. Das Labyrinth ist auf der linken Seite mit einer Deutschlandfahne und die rechte Seite mit der Fahne des jeweiligen Gegners geschmückt. Kriecht nun der schlaue Oktopus durch eine kleine Öffnung ins Labyrinth und lässt sich auf der Seite mit der Deutschlandfahne nieder und futtert genüsslich die Leckereien, ist ein deutscher Sieg gewiss, kriecht er jedoch zur anderen Seite, ist eine Niederlage fällig.
 
Nun, ich halte von solchem Mumpitz wenig, ich war seltsamerweise bei den siegreichen Spielen gegen Ghana und England relativ ruhig, während ich vor dem Serbienspiel nervöse Zuckungen hatte. Da half auch kein Melissentee mehr. Waren es Vorahnungen?
 
Dann kam das mit Spannung erwartete Spiel vor 40 510 Zuschauern. Nach der schnellen 2:0-Führung (Tore durch Miroslav Klose und Lukas Podolski) dachten sich die deutschen Spieler wohl, man könne sich etwas ausruhen. Dann kamen die Engländer mit aller Macht und stürmten auf das gegnerische Tor. So erzielte in der 37. Minute Mathew Upson das 2:1, und eine Minute später folgte ein Schuss von Frank Lampard. Der Ball sprang von der Unterkante der Latte ins Tor und von dort wieder nach oben und wieder nach unten; dann fing ihn Torwart Neuer und schlug den Ball schnell ab. Der Schiedsrichter und der Linienrichter sahen den Ball nicht hinter der Torlinie und entschieden auf kein Tor. Die „Badische Zeitung“ titelte am 28.06.2010 so: „Rache für Wembley“. 1966 wurde nämlich ein Tor von England anerkannt, obwohl der Ball eindeutig nicht die Torlinie überschritten hatte. Aber diesmal war der Ball eindeutig hinter der Linie.
 
Chip im Ball
In der Online-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ wurde eine im Internet kursierende amüsante Montage abgedruckt. Da war die Torlinie in Dreiecksform, wo der Ball die Torlinie überschritten hatte, ausgebeult. „Kein Tor, eindeutig kein Tor“, titelte die Zeitung.
 
Nach dieser krassen Fehlentscheidung fordern viele wieder den Video-Beweis oder einen Torrichter. Oder es wird im Ball ein Chip versenkt, der dann beim Überfliegen einer Linie ein akustisches Signal an den 4. Mann am Spielfeldrand sendet. Dieser informiert dann wiederum den Hauptschiedsrichter.
 
Ich finde, dass man gegen die Schiedsrichterentscheidungen nicht angehen kann. Manchmal treffen sie Entscheidungen zugunsten und ein anderes Mal zuungunsten derselben Mannschaft. So hatten wir diesmal Glück; im Spiel gegen Serbien aber wurde die deutsche Nati benachteiligt, ebenso die Schweizer Mannschaft gegen Chile.
 
Die Schiedsrichter muss man auch etwas in Schutz nehmen. Sie sind nicht immer auf Höhe des Balls. Der Linienrichter stand bei dem nicht gegebenen Tor im Englandspiel etwa 28 m vom Tor entfernt. Und der konnte den Ball gar nicht genau sehen. Dazu kommen noch das schnelle Spiel und der ungewöhnlich springende Ball. Die Schiedsrichter sind in der Tat in manchen Spielsituationen überfordert.
 
Nun, am 27.06.2010 um 17:50 Uhr, war alles entschieden. Deutschland siegte mit 4:1 Toren (in der 2. Halbzeit fielen noch 2 Tore durch Thomas Müller). Damit schickten die Deutschen die Engländer mit der höchsten WM-Pleite aller Zeiten nach Hause.
 
Die Deutschen zerschmetterten England
Hier einige Schlagzeilen:
 
„Die Three Lions wurden von den Deutschen weggemüllert – und vom Schiedsrichter“ („Mirror“).
 
„Die Nation trauert, als die Three Lions zerrissen wurden, England stürzte aus der WM, als der stümperhafte Schiedsrichter in beschämender Weise den Ausgleichstreffer von Frank Lampard die Anerkennung verweigerte“ („The Sun“).
 
„Lassen sie sich nicht von Fabio Capello Vernebelungsmanöver über Frank Lampards ,Tor’ in die Irre führen. Selbst wenn das aussergewöhnliche Tor des Mittelfeldmannes gegolten hätte, was es hätte sollen, kann sich England nicht der brutalen Erkenntnis entziehen, dass Deutschland in allen Belangen überlegen war“ („Daily Telegraph“).
 
„The Independent“ schrieb von einer „grausamen Ungerechtigkeit, aber am Ende wurde England zu Recht geschlagen“. Die Deutschen waren gegenüber den trägen Engländern gewitzter.
 
Auch die internationale Presse sah das so ähnlich. „The Herald“ (Südafrika) bezeichnet die Deutschen als Kids, die die englische alte Garde hinweggefegt haben. „The Citizen“ (Südafrika) sah in den Deutschen eine Dampfwalze, die über das glücklose England hinwegrollte.
 
Sogar aus Israel kam ein vernichtendes Urteil für die englische Mannschaft. „Jediot Achronot“ betonte, dass das Fussball-Mutterland zwar sehr gute Clubmannschaften hat, aber „eine alte, langweilige, ziellose, planlose, unintelligente WM-Mannschaft ohne echte Verteidigung. Die Abwehr hatte mehr Löcher als Schweizerkäse.“
 
„Deutschland verprügelt England und marschiert“, titelte die Zeitung „USA-Today“.
 
Grenzenloser Jubel
In vielen Städten fieberten zahlreiche Fans beim Public-Viewing den jeweiligen Spielen mit. Bei Siegen der deutschen Mannschaft war der Jubel grenzenlos. In Schopfheim D brach nach dem Sieg die Hölle los. Überall erklang das schaurige Siegesgeheul aus den Vuvuzelas. Im Nachbarhaus rannte ein Mann mit seinen Kindern aus dem Haus und blies auf einer Grünfläche die Tröte, dann durften auch mal die Kinder hinein blasen. Das machte ihnen sichtlich Spass.
 
Dann folgte ein Autokorso mit mehr als 100 Fahrzeugen. Laut hupend fuhren die Fans mit ihren Vehikeln durch die Stadt, und das mindestens 2 Stunden lang. Als ich nach einem kurzen Schlaf so gegen Mitternacht durch lärmende und wohl angetrunkene Fans, die an unserem Haus vorbeizogen, aufwachte, hört ich einen lallen: „Wir haben die Hose der Engländer nass gemacht.“ Weitere Sprüche verhallten in der Ferne.
 
Christoph Härringer  nahm in seiner „Spottschau“ in der „Badischen Zeitung“ vom 28.06.2010 die Vuvuzelas und das Gebaren der Fans auf die Schippe: Sitzt ein Vater mit seinem kleinen Sprössling auf dem Sofa und beobachtet ein Spiel im Fernsehen. Dem Vater geht das Trööööööt aus den afrikanischen Plastiktrompeten auf die Nerven, und er hält sich dabei die Ohren zu. Nach dem Sieg schnappt er sein Söhnchen und rennt aus dem Haus und setzt sich in sein Auto und fährt mit Gehupe durch die Gegend. „Die deutschen Traditionen“, schreit er begeistert. Nun stören ihn die Vuvuzelas nicht mehr, denn das Gehupe macht eben mehr Spass und auch viel Lärm.
 
Was war in England los?
Vor wenigen Tagen las ich in der Online-Ausgabe des „Spiegels“ (www.spiegel.de), wie ein Deutscher, der eine englische Freundin hat, bei einer früheren WM-Begegnung zwischen Deutschland und England, das Spiel in einem Pub erlebt hat. Er gab sich nicht als Deutscher zu erkennen und musste sich mit Emotionen gewaltig zurückhalten. Als die Deutschen das Elfmeterschiessen gewannen, flüchtete er mit seiner Freundin auf die Strasse. Ein Schotte rief alkoholumsäuselt überschwänglich „Germany, Germany!“. Da wurde der Schotte von 3 Engländern verfolgt, und es kam fast zu einer Schlägerei. Die Freundin des Deutschen ging dazwischen und verhinderte eine Keilerei. Dann flüchteten die Drei in einen anderen Pub. Eine kräftig gebaute und resolute Wirtin, die alles beobachtet hatte, stellte sich den Engländern am Eingang entgegen. Keiner von ihnen traute sich hinein. Es ist immer gut, wenn man eine solche imposante Wirtin in der Nähe hat.
 
Von Rolf P. Hess, der derzeit in London ist, wollte ich wissen, welche Eindrücke er gewonnen hat. Hier einige Auszüge aus seiner E-Mail vom 28.06.2010:
 
„Ich hatte geplant,  mit Alice (Rolfs Ehefrau) in einen lokalen Pub zu gehen, um die Stimmung mitzuerleben. Louis (er ist der Schwiegersohn) empfahl, dass wir besser zu Hause bleiben sollten, oder dass ich zumindest unter allen Umständen vermeiden soll, mit meinem deutschen Akzent grosse Hurras für Deutschland zu schreien. In den Pubs gibt es zu viele Betrunkene (…).“
Sie blieben dann zu Hause. Rolf schrieb dann weiter, dass die Kommentare der BBC absolut vernünftig waren. Deutschland habe um Klassen besser gespielt, und das Spiel verdient gewonnen. Es wurde auch der Wunsch geäussert, endlich elektronische Überprüfungen einzuführen.
 
Rolf P. Hess fuhr in seinem Augen- und Ohrenzeugebericht weiter: „Heute Morgen hörten wir von einem Kindermädchen, einer jungen Dame aus Finnland, dass sie in einem Pub war. Eine Frau hätte sich grausam schlecht aufgeführt, betrunken, geschrien, bis sie vom Ehemann aus dem Pub geführt wurde. Sonst aber seien alle ruhig geblieben, enttäuscht natürlich (…).“
 
Das war für mich die Überraschung des Tages: Die Presse in England ging mit den Verlieren hart ins Gericht, und sie lobte die Leistung des Gegners (aber auch der Spieler Steven Gerrard). Die Presse war fair und sah ein, dass Deutschland besser war. Über diese faire Selbstkritik kann man nur so staunen. Wir Deutsche könnten von den Engländern einiges lernen.
 
Nachtrag
Im 4. Teil berichtete ich von einem jungen Italiener, der mit seiner deutschen Freundin im Haus gegenüber wohnt und eine italienische und eine deutsche Fahne auf dem Balkon im Wind wehen liess. Erst 2 Tage nach der Niederlage seiner Azzurri hat er die italienische Fahne abgehängt. Jetzt grüssen 2 deutsche Fahnen zu mir herüber. Ein Nachbar erzählte mir, dass dieser Italiener nach der Niederlage der Azzurri ihm weinend entgegengelaufen kam. Nun dürfte er sich wieder beruhigt haben. Die Freundin hat ihm dabei sicherlich geholfen.
 
Internet
http://owl.business-on.de (Infos über den Oktopus im Sea Life Hannover)
 
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