BLOG vom: 14.07.2010
Turtmanntal 3: Staumauer und Gletscher unterm Weisshorn
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
„Das Turtmanntal ist in seiner Formation sehr einfach. Gegen das Haupttal der Rhone öffnet es sich bei dem Dorfe Turtmann in einer Waldschlucht. Der Bach, der dasselbe durchströmt, hat sich nicht zwischen den Felsen durchgefressen, sondern stürzt in schönem, 80 Fuss hohen Falle zu Tale. Hat man die Waldschlucht passiert, so öffnet sich ein kleines, schmales, zirka 4 Stunden langes Alpental, in welches sich im Hintergrund der Turtmanngletscher herabsenkt, von dem Weisshorn gekrönt. Das Tal ist nur im Sommer bewohnt, von den Hirten, die das Vieh besorgen. In die zur Seite liegenden Täler kann man auf verschiedenen Wegen gelangen; der Hauptpass aus dem Nikolaital ist der Jungpass von St. Nicolaus aus, beim Schwarzhorn vorbei. Gegen Westen führen mehrere Wege ins Eifischtal.“
Diese Beschreibung stammt aus dem Jahr 1850 und findet sich im Buch „Die Seitentäler des Wallis“ von M. Ulrich und kann heute, 160 Jahre später, 1:1 übernommen werden. Wir haben das Tal am 02. und 03.07.2010 erwandert und „erfahren“, bis hinauf zur Zunge des Turtmanngletschers am Fusse des 4506 m hohen Weisshorns. Eine etwas enge, aber problemlos befahrbare Strasse mit engen Kurven und Ausweichstellen führt ab Turtmann in die Höhe nach Unter- und Oberems, kleine Walliser Dörfer, von denen aus weite Strecken des Rhonetals und viele Berner Alpen überblickt werden können. Anschliessend führt die Strasse, die im Winter von hier aus nicht mehr geräumt wird, an farbigen Wiesen vorbei und dann durch Wälder (Rottannen, Lärchen, Arven), wie man sie in dieser Wuchskraft auf bald einmal 1800 Höhenmetern nicht mehr erwartet. Normalerweise würde man so hoch oben eigentlich nur noch so genanntes Knieholz antreffen. An manchen Stellen sind die Waldflächen durch Steinlawinen und Schneestürzen von den Bella-Tola-Abhängen aufgerissen. Die Strasse ist schattig, steinschlaggefährdet, windet sich um Felsen. Die Tannen und Föhren sind mächtig; nirgends in ganz Europa liegt die Waldgrenze so weit oben wie ausgerechnet hier.
Von Gruben zum Turtmanngletscher
Dann öffnet sich ein lichtes Hochtal mit den Weilern Gruben und Meiden (letzterer Name ist von Pferd, Wallach, abgeleitet) auf 1822 m Höhe, die vor allem talflüchtigen Alpinisten, die von hier aus ihre Bergwanderungen und Hochgebirgstouren unternehmen, dienen. Verstreute Stafel, im Blockbau errichtete, braun gebrannte Hütten und Ställe auf Trockenmauern und mit Satteldächern, wie sie für die Sömmerung von Vieh gebraucht werden, beleben das von Schnee, Eis und Bergen umrahmte Bild. Stafel sind eigentlich kleine landwirtschaftliche Weiler, von denen es im Wallis unzählige gibt. Sogar das opulente, klobige Hotel „Schwarzhorn“ mit den roten Fensterläden, um 1900 vergrössert und seit 1914 mit Telefon, steht zu Diensten. Über eine bombierte Naturstrasse erreicht man in dessen Nähe einen grossen Parkplatz mit Naturbelag. Von Turtmann aus sind es bis hier hinauf etwa 20 km. Ein Busbetrieb bietet einen wertvollen Service an; der Fahrplan findet sich unter http://www.unterems.ch/tourismus/04sts/fahrplaene.php.
An der Strasse in Gruben steht seit 1708 eine von den Alpgenossen der Alpen Gruben und Meiden erstellte, heute weiss getünchte Kapelle, eine halbe Kirche. Von Gruben aus gingen wir zu Fuss weiter, dem Gletscher entgegen, obschon das Strässchen bis zur Alpsiedlung Vorderes Sänntum weiterführt. Für diese Wanderung muss man gut 2 Stunden rechnen. In etwas vertiefter Lage neben der Strasse fliesst die Turtmänna dem Rhonetal entgegen. Eine grosse Kuhherde weidete an ihrem Ufer, und Tipis und andere Zelte waren von jungen Touristen belebt.
Wir folgten anschliessend der für den allgemeinen Verkehr gesperrten, steinigen Werkstrasse neben der tiefen Turtmänna-Schlucht gegen den Stausee (2174 Höhenmeter). Das Firnrevier weitet sich ständig aus, ostwärts zum Barrhorn, dem mit 3610 m höchsten Berg, der ohne Steigeisen und Seil zu bezwingen ist, und westwärts zu den Diablons und natürlich zum zerklüfteten, wie ein erstarrter Wasserfall herabhängenden Gletschereis, eine schimmernde Pracht, die ihre Gletschermilch grosszügig freigibt. Ein Felszirkus, an dem man sich gar nicht sattsehen kann.
Das Studium der 1:50 000 „Montana“ (Blatt 263) und „Visp“ (Blatt 274) ist denkbar mühsam, befindet sich doch das Turtmanntal exakt am Kartenrand, so dass die beiden Blätter immer nebeneinander gehalten werden müssen.
Nicht allein die Fern-, sondern auch die Nahsicht ist grandios: Die Flora ist wunderbar, manchmal in grün-braune Moospelze eingebaut. Der strahlend gelbe Alpen-Hornklee leuchtete neben verblühten orangeroten Blättern, das Einblütige Hornkraut schmückte ein silbern strahlendes Silikatgestein, und blau-violette Alpenleinkräuter mit gelb-orangem Gaumenfleck präsentierten ihre Schönheit, allerdings ohne auf Bewunderer zu warten.
Stausee mit Geschiebefangbecken
Der Stausee hinter der verhältnismässig kleinen, gebogenen, 32 Meter hohen Staumauer hatte wenig Wasser; 780 000 m3 Wasser fänden im Turtmannbecken Platz, bevor es unterirdisch in den Stausee Moiry in der Nähe von Grimentz weitergeleitet wird. Umso mehr traten die Sandablagerungen am Seegrund und ein gewaltiger Felswürfel aus Porphyr hervor, ein erratischer Block. Am Abhang des Stellihorns, an der Schafalpu, ist offenbar eine Art Suone erstellt worden, damit das Wasser nicht ins Tal, sondern in der Gegenrichtung zum Stausee fliesst, den es wenig oberhalb der Bogenmauer erreicht.
Wir wanderten dem Seeufer entlang. In die Sedimente hatte sich ein ganzes Bachnetz gegraben, linksufrig, wo uns, nahe bei der Staumauer, von der Turtmannschafalpu (das u gehört im Walliserdeutsch dazu), ein weiss schäumender Bach entgegensprang. Wir tranken vom herrlichen, lebendigen eiskalten Wasser eine grössere Menge, aber nicht, bis es fast obenaus kam, sondern wir füllten Plastikflaschen damit. Das war Medizin.
Etwas weiter oben und durch einen Steinschüttdamm abgetrennt ist ein Geschiebesammelbecken, das offensichtlich seine Aufgabe ernst nahm; es ist praktisch voll von Steinen, die vom Gewicht des langsam fliessenden Gletschers zermalmt wurden. Auf dem Urgestein des Damms setzten dichte Polster mit dem Stiellosen Leimkraut (Silene excapa) zum Blühen an, kleine, helle Blüten wanden sich aus dem grünen Kissen heraus. Über grosse Gesteinsbrocken, worunter einige stark angerostete eisenhaltige, kämpften wir uns bis zum einem Bach mit Gletschermilch vor, der uns das Weiterkommen verunmöglichte. Ich war ohnehin mit den Wanderschuhen in einige Rinnsale gestanden, was die Füsse aufweichte und mir eine grosse Blase am rechten Fussballen bescherte, ein zusätzliches Polster sozusagen. Ich hätte ja wissen müssen, dass das passieren kann, aber im jugendlichen Übermut vergisst man das gelegentlich.
Inzwischen bauten sich über den weissen Bergen noch höhere weisse, scharf abgegrenzte Wolkenberge vom Typ Cumulus congestus velum auf, eigentliche Schauerwolken. Immer neue Wolken, die sich gewaltig aufblähten, konkurrenzierten mit den vielen Hörner, stellten sie auch grössenmässig in den Schatten. Das Spiel des Lichts wurde intensiver, herrliche Stimmungen. Und da wir keinen Regenschutz dabei hatten, da der Wetterbericht nichts von Gewittern hatte verlauten lassen, machten wir uns zügig auf den Rückweg nach Gruben. Und tatsächlich setzte Regen ein, als wir etwa 2 km vor Gruben angelangt waren. Unter einer riesigen Föhre am Strassenrand fanden wir einen behelfsmässigen Unterstand. Der Regen wurde stärker – eine Wohltat für die alpine Natur. Doch versiegte er bald wieder, und wir konnten unsere Wanderung, wenn auch nicht trockenen Fusses, so doch bei ziemlich trockenem Wetter fortsetzen.
Gewitterstimmung auf der Heimfahrt
Als wir mit dem Prius III gemächlich dem Rhonetal zufuhren und die Batterie wegen der Umwandlung der beim Bremsen frei gewordenen Energie fast platzte, hörten wir von Radio DRS, zwischen Aarau und Brugg habe es aussergewöhnlich schwere Gewitter gegeben – ausgerechnet dort also, wo wir wohnen. Es wurde von überschwemmten Strassen gesprochen. Fürchterlich musste es um unser Haus aussehen ... Auch die Innerschweiz sei von Gewittern hart getroffen worden.
So entschlossen wir uns zur Heimfahrt über Grimsel und Brünig. Offenbar hatte der Grimsel viel Wasser abbekommen, flossen doch von allen Hängen Bächlein der Strasse zu, und die Felsen waren mit Wasserfilmen überzogen. Man fühlte sich wie in einem kunstvoll angelegten Wassergarten.
Die Fahrt war herrlich; wir bildeten praktisch das einzige Verkehrsaufkommen. Und genau so war es auf dem Brünig und in der Innerschweiz – von Gewitterschäden keine Spur. Auf der Autobahn nach Luzern und Zofingen konnten wir die Fahrspur beliebig auswählen; Konkurrenten um den Platz gab es kaum. Geisterfahrer wären nicht sonderlich aufgefallen. Zustände wie auf den schmaleren Strassen der 1950er-Jahre.
Das Radio lieferte gleich die Begründung: Die deutschen Fussballer kickten gegen die Argentinier, wenn ich mich richtig erinnere, und später spielte Spanien gegen Paraguay. Offenbar sind dabei Argentinien und Paraguay aus Südafrika vertrieben worden. Mich geht das nichts an; ich möchte mich da als Bewohner eines neutralen Lands nicht einmischen.
Für mich war das verkehrstechnische Resultat bemerkenswert: Fussball-Übertragungen ziehen den Verkehr aus dem Verkehr; dann hat man die Strassen für sich allein. Gegen 22 Uhr kamen wir im angeblich völlig zerstörten Biberstein an ... Nur sahen wir davon nichts, aber auch gar nichts. Rund ums Haus war alles trocken, und der Regenmesser gähnte vor Leere. Hier hatte es weit und breit kein Gewitter gegeben.
Soll ich nach alledem an die Fussball-WM glauben? Vielleicht war sie nur eine Chimäre, ein Hirngespinst wie das Gewitter. Wie auch immer, uns kam der bereits verblichene Sportanlass sehr zustatten. Und war vielleicht auch das Turtmanntal nur ein Traum?
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