BLOG vom: 15.07.2010
Halten Sie noch etwas durch, Bundesrat Hans-Rudolf Merz!
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Der Idealzustand wäre, wenn die jene Person ein Amt oder eine Führungsposition wahrnehmen würde, welche die besten Voraussetzungen dafür mit sich bringt. Das gibt es ausnahmsweise schon, etwa in der Person von UBS-Chef Oswald Grübel. Doch in der Regel rekrutieren sich besonders politische Führer aus einem Prozess von Ränkespielen und Schlaumeiereien, die sich nicht an den Begabungen der Kandidaten orientieren, sondern sich aus parteipolitischen Konstellationen ergeben. Dabei kann es auch passieren, dass fähige Führungspersönlichkeiten, die sich für das Wohlergehen des Landes einsetzen (Beispiel: Christoph Blocher) sogar abgewählt werden; manchmal wird das Mittelmass einer starken politischen Haltung vorgezogen.
Jeder Kandidat verkörpert ein Programm. Und die Mitglieder der Wahlbehörde, denen dieses Programm zuwider läuft, werden die entsprechende Person nicht wählen, mögen deren Talente noch so überzeugend sein. In der Vielparteienlandschaft Schweiz, wo nicht eine Regierung und eine Opposition einander das Bein stellen, ist die Sache komplexer. Entsprechend umfangreicher sind die Möglichkeiten für Schachzüge.
Das Wohl des Landes steht bei Wahlen nicht an erster Stelle, sondern der Machterhalt der Parteien. Die Spielanlage wird darauf ausgerichtet. Die Schweiz erlebt das in diesen Tagen und nächsten Monaten nach der Bekanntgabe des Rücktritts von Bundesrat Moritz Leuenberger (Sozialdemokratische Partei, SP) auf Ende 2010. Misst man die Vertretung der SP (2 Bundesräte) mit einem Wähleranteil von 20,4 % (Parlamentswahlen 2007), so ist sie im 7-köpfigen Bundesrat übervertreten; ihr würden mathematisch 1,43 Bundesräte zustehen. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) mit 24,8 % Wähleranteil hätte Anspruch auf 1,74 Bundesräte; in Tat und Wahrheit hat sie einen einzigen Vertreter in der Landesregierung. Noch bescheidener sind die Ansprüche der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) mit 16,7 % und der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) mit 15,3 Prozent. Und 1 Sitz ist von der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) mit Eveline Widmer-Schlumpf belegt, die gewählt wurde, um Blochers Wiederwahl zu verhindern.
Auch wenn es keine Bruchteile von Bundesräten gibt, so ist doch erkennbar, dass die SVP als wählerstärkste Partei mit 1 Vertreter in der Landesregierung untervertreten ist. Das heisst, dass im Prinzip eine der übervertretenen Parteien 1 Sitz abgeben müsste. Und da hört die Gemütlichkeit auf. Mit allen zur Verfügung stehenden Tricks versucht nun eine jede von ihnen, ihren Besitzstand zu wahren. Dazu kann zum Beispiel auch ein vorzeitiger Rücktritt dienen. Dann kommt es zu einer Ersatzwahl ausserhalb der kollektiven Wiederwahl.
Von diesem Trick machte Bundesrat Leuenberger am 09.07.2010 Gebrauch; natürlich werden bei solchen Manövern alle anderen als die wahltaktischen Gründe vorgeschoben. Da sich die SP-Parteistrategen der Gefährlichkeit dieses Schachzugs bewusst waren – es könnte ja auch etwas Anderes als ein SP-Mitglied herauskommen –, wollten sie zusammen mit der FDP einen Doppel-Rücktritt (Hans-Rudolf Merz steht schon seit rund anderthalb Jahren auf der Abschussliste). Dann könnten sie beide, sich bei den Neuwahlen gegenseitig unterstützend, ihren schwankenden 2. Sitz sichern. Und was man hat, das hat man: Bei den Erneuerungswahlen 2011 kann man anständigerweise nicht einen Jung-Bundesrat gleich wieder in die Wüste schicken.
Aber die Rechnung mit dem Doppelrücktritt ist (jedenfalls bisher) nicht aufgegangen, möglicherweise durch ein Vorpreschen Leuenbergers. Die beiden Rücktrittsverdächtigen haben angeblich mehrmals über eine allfällige gemeinsame Strategie gesprochen; doch versandeten die Gespräche, und Leuenberger handelte allein. Er outete sich noch immer als EU-Begeisterter und Beitrittswilliger, wie es sich für Linksintellektuelle gehört, weshalb die Rücktrittsmeldung bei der Mehrheit des Schweizervolks Freude auslöste. Sogar der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk, ein origineller und unabhängiger Denker, kann die Schweizer Linksintellektuellen (unter ihnen Adolf Muschg und Roger de Weck) verstehen. Gegenüber der „Aargauer Zeitung“ vom 05.06.2010 sagte er, noch niemand habe ihm kohärent (im Zusammenhang) erklären können, worin der Vorteil eines Beitritts der Schweiz zur EU bestehen sollte, die Verkehrserleichterungen abgerechnet.
Mit Leuenberger verschwindet also ein Euroturbo aus der Regierung, was selbstredend im Endeffekt auch der von der SP irregeführten Arbeiterschaft dienen würde – die grösste Leidtragende des Wahns der Globalisierung (neuer Begriff: New Economy), zu der Länderzusammenschlüsse gehören, ist natürlch das Proletariat. Und jetzt sieht es darnach aus, dass bei der Leuenberger-Ersatzwahl die SP allein im Regen stehen könnte. Wie FDP-Präsident Fulivio Pelli dem Sonntagszeitungen-Mainstream vom 11.07.2010 sagte, drängt er darauf, dass Merz bis zum Ende der Legislaturperiode (2011) durchhält: „Bei einer Doppelvakanz drohen undurchsichtige Parteimanöver“, und dabei wäre es auch möglich, dass die FDP ihren Sitz an die CVP verlieren könnte.
Ob Merz dieser Argumentation folgt, wird sich weisen. Er war unter einen Rücktrittsdruck geraten, weil er das Schweizer Bankgeheimnis, entgegen seiner ursprünglichen Zusicherung, allzu leicht preisgab und nach seiner Herzoperation einen schwächlichen Eindruck machte. Dass es ihm nicht gelang, auf eigene Initiative die beiden Schweizer Geiseln aus Libyen zurückzuholen, mag ich ihm demgegenüber nicht ankreiden. Er hat das Mögliche getan, wenn auch nicht in jeder Beziehung auf geschickte Weise. Dafür hat er sich als Schweizer Finanzminister bewährt; die Schweiz steht – eine internationale Ausnahme – finanziell glänzend da. Und so besteht, nachdem das Bankengeschirr ohnehin in Scherben liegt, eigentlich kein Grund mehr für einen vorzeitigen Merz-Rücktritt. Ja, im Schatten des Leuenberger-Rücktritts möchte man ihm die Durchhalteparole auf den Weg geben, ganz im Sinne Pellis.
Dank des Einzelrücktritts von Leuenberger ergibt sich für die SP eine ungemütliche Lage: Wenn FDP und die CVP schlau genug sind, könnten sie den zweifellos auftauchenden SVP-Kandidaten wählen. Dann wäre der Mist geführt: Die SVP hätte ihren berechtigten Anspruch auf 2 Bundesratssitze erfüllt, und die beiden Mitteparteien hätten ihre Doppelvertretung gesichert. Der gregorianische Medienchor mit seinem sozialistischen Repertoire hat sich auf den Dauerbeschuss von Merz eingeschossen, um den SVP-Erfolg verhindern zu helfen.
Im Gegensatz zu Ländern mit 2-Parteiensystemen (Konkurrenzdemokratie) hat die Schweiz eine Konkordanzdemokratie: Alle Gruppierungen, Landesteile usf. sollen angemessen vertreten und ein Herz und eine Seele sein. In der lateinischen Sprache bedeutet concordare = übereinstimmen, im Interesse des Volkswohls. Aber ein Ermessensspielraum besteht allenthalben. 0,42-Bundesräte gibt es nicht, auch keinen 40-Prozent-Job, sondern nur 100-Prozent-Stellen, die nach Möglichkeit mit 200-prozentigem Einsatz ausgefüllt werden müssen. Dieser Spielraum wird mit politischen Sandkastenspielen ausgefüllt, besonders gern in der Sauregurkenzeit, wenn das Strandleben lockt. Ans allzu viele Strandgut hat man sich inzwischen gewöhnt.
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