BLOG vom: 12.09.2010
Wo denn hört der Strauch auf und wo fängt der Baum an?
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
Die journalistische Kurzfutter-Produktion ist das Resultat der sich ausbreitenden Schreib- und Lesefaulheit, eine Folge davon, dass sich nur noch wenige Berufsschreiber bemühen, lesenswert zu schreiben. Dabei wird oft mit der einfältigen Schutzbehauptung operiert, es sei viel schwieriger, einen Tatbestand auf wenige Worte zusammenzufassen als ausführlich, detailliert darzustellen. In diesem Fall wäre das Schreiben einer 5-Zeilen-Meldung oder gar eines SMS (Short Message Service, engl. für „Kurznachrichtendienst“) unendlich viel aufwendiger und schwieriger als die Niederschrift eines ausgereiften Romans von mehreren Hundert Seiten.
Bei der verkürzten Schreibe genügt die Mitwirkung einer ebenso verkürzten Denke im Oberstübli. Es genügt, zu verallgemeinernden Begriffen Zuflucht zu nehmen und beispielsweise Bäume, Sträucher, Blumen, Kräuter, Moose usw. unter dem Sammelbegriff „Pflanzen“ sprachlich zu begraben. Und wer diesen Begriff gerade vergessen hat, kann von Lebewesen sprechen.
Die Verwendung von Oberbegriffen, die eine grosse Zahl von Wörter subsumieren, vereinfacht das Schreiben, dem das Denken, wo immer möglich, vorauseilen sollte. Doch dem so entstandenen Text fehlt es an Präzision, an Klarheit. Das Schmuddelige obsiegt.
Wer dem Schreiben die nötige Zeilenzahl gönnt und vor exakt differenzierenden Wörtern nicht zurückschreckt, macht sich das Leben manchmal schon fürchterlich schwer. So habe ich mir kürzlich darüber Rechenschaft zu geben versucht, wo denn ein Strauch aufhöre und ein Baum beginne. Das geschah im Zusammenhang mit dem Verfassen eines Begleittexts für einen Bildband aus dem Wegwarte-Verlag, CH-3065 Bolligen BE, über Bäume (Titel: „Bäume. Träume. Lebensräume“) von Fernand Rausser, einem der bekanntesten Schweizer Fotografen. Dabei habe ich festgestellt, dass diese Abgrenzung eigentlich nicht genau zu machen ist, und was immer man auch als Kriterien dafür herbeiziehen mag, verwedeln Ausnahmen die Klarsicht.
Baum
Ein Baum ist in der Regel ein ausdauerndes Gehölz (ein grosses Holzgewächs, ein verholzendes Gewächs) mit einem einzigen, kräftig bewurzelten, holzigen Stamm, aus dem Äste wachsen; diese tragen Blätter oder Nadeln. Allerdings kennt jedermann auch Bäume, die vom Boden aus oder oberhalb des Bodens in mehrere Stämme verzweigt sind (manchmal weil die Hauptachse gekappt wurde und sich Stockausschläge gebildet haben oder wegen Störungen im Untergrund und ähnlichen Gründen). Es würde niemandem einfallen, bei solchen Erscheinungsformen nicht von einem Baum zu sprechen.
Bäume sind vor allem an ihrer Grösse zu erkennen, auch wenn die Grösse nicht das massgebende Kriterium dafür ist, dass eine Pflanze Baum genannt wird. Die Gestalt ist bedeutender. Sonst müssten Zwerg- und Bonsaibäume umbenannt werden.
Höhen zwischen 30 und 50 Metern sind bei Bäumen normal; der australische Eukalyptusbaum und der Riesenmammutbaum werden sogar bis 115 Meter hoch – die grössten Lebewesen dieser Erde. Der Eukalyptus in seinen Hunderten von Variationen widersteht allem, dank der bis 30 cm dicken Rinde selbst dem Feuer – ein Phönix aus der Asche. Der Mammutbaum seinerseits, dem man oft in Parkanlagen begegnet, ist die überlegene pflanzliche Erscheinungsform, auch weil er sehr alt werden kann, angeblich bis gegen 3500 Jahre. Dieser Baum, auch Riesensequoia genannt, wird selbst mit stattlichen Höhenlagen fertig: in der kalifornischen Sierra Nevada wächst er in Höhen bis gegen 3000 m ü. M.
Ein Sonderfall ist der indische Banyan (Ficus benghalensis), der aus seinen horizontal wachsenden Kronenästen laufend Luftwurzeln treibt, die dem Boden zustreben und zu Stützsäulen für die sich ständig verbreiternde Krone werden. Ein einziger Baum bildet so einen ganzen Wald.
Bäume wachsen eigentlich immer weiter – in alle Richtungen, auch wenn das Tempo mit zunehmendem Alter nachlässt. In unseren Zonen ruhen die Knospen zur Winterszeit, um dann im Frühling zu erweiterten Dimensionen aufzubrechen. Und zum Wachstum verhilft auch das Kambium, das unter der Rinde den Stamm umhüllt. Seine Zellen, die mit Wachstumsstoffen gefüllt sind, werden stets grösser, bis sie sich teilen. Holz- und Phloemzellen (Innenrinde) bilden eine neue Schicht um den holzigen Kern herum, Jahr für Jahr. Der Baum wird allmählich zum Riesengebilde.
Strauch
Der Strauch seinerseits gehört ebenfalls zu den Gehölzen (zu den verholzenden Pflanzen), wobei man auch einen Bestand an niedrigen Bäumen und Sträuchern in Feld- oder Wiesenfluren als Gehölz bezeichnen kann – der Oberbegriff verschont uns vor der Unterscheidung von Baum und Strauch.
Im Unterschied zu Bäumen haben Sträucher keinen dominanten oberirdischen Stamm. Sie verzweigen bereits von der Wurzel aus oder in deren Nähe, bilden also mehrere ähnlich starke kleine Stämme oder Seitenachsen. Man spricht von einer basalen (von der Basis ausgehenden) Verzweigung. Sträucher werden nie so hoch wie ein Baum; meistens erreichen sie immerhin bis 5 Meter, können aber durchaus auch 10 Meter hoch werden. Doch die Begriffe Baum und Strauch oder Busch, letzterer ein Synonym für Strauch, allein durch die Höhe bei 5 Metern abgrenzen zu wollen, funktioniert nicht, denn auch ein junger, 2 Meter hoher Apfelbaum ist eben ein Baum und kein Strauch.
Vergesellschaften sich die Sträucher, steht dafür ein ganzes Arsenal von botanischen Ausdrücken zur Verfügung. Die bei uns gebräuchlichste ist Hecke. Man kann sprachlich auch zwischen hoch- und niedrigwüchsigen Gesellschaften unterscheiden: So werden hochwüchsige Strauchformationen Maquis (Frankreich), Macchia (Italien), Mallee (Australien) und Chaparral (Kalifornien) genannt. Für die niedrigwüchsigen Strauchformationen gibt es die Bezeichnungen Garrigue (Frankreich), Tomillares (Spanien), Phrygana (Griechenland) oder Jaral (Chile) usf. Überregional haben sich die Begriffe Macchie für hochwüchsige Strauchformation etabliert. Von einer Staude spricht man, wenn die strauchartigen Stängel im Herbst absterben und im Frühjahr wieder austreiben.
Oft sind die Grenzen zwischen Bäumen und Sträuchern und ihren Ansammlungen fliessend, zumal sich die Natur erfreulicherweise in kein Schema pressen lässt und sich unserem Katalogisierungsstreben entzieht. Lorbeer, Haselnuss, Flieder, Holunder, Magnolie und viele andere gibt es als Sträucher mit mehreren Stämmchen und als Bäume mit einem Hauptstamm. Man hat es also mit strauchartigen Bäumen beziehungsweise baumartigen Sträuchern zu tun. Und es wird nie jemandem gelingen, die weltweit vorkommenden annähernd 15 000 verschiedenen Arten von baumförmigen Gehölzen exakt in Bäume und Sträucher unterteilen zu können.
Doch es gibt allerbeste Gründe, sich an allen Bäumen, Sträuchern und Mischformen zu freuen.
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