BLOG vom: 26.08.2010
Stilbener-Wein gegen Mehltau, Krebs, Kreislauf-Entgleisung
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
1977 habe ich an der Südwand unter unserer Garage hier am Bibersteiner Rebweg eine Gelbe Muskatellertraube gepflanzt, eine von etwa 200 Muskateller-Mutationen. Der Muskateller-Clan gehört zu den ältesten der alteingesessenen Traubenfamilien dieser Welt. Jedes Jahr hoffe ich auf einige süsse Trauben, garantiert ungespritzt. Aber Jahr für Jahr verdirbt mir der verfluchte Echte Mehltau (Oidium) schon im Sommer die Vorfreude auf das Tafeltrauben-Vergnügen gründlich, obschon ich das einjährige Holz, in dessen Winterknospen das Pilzmyzel gemütlich überwintert, immer wieder frühzeitig entferne. Regelmässig produziert die Rebe zwar im Frühjahr ihre Ranken, Blätter und Traubenbeeren. Doch eines unschönen Tages sehe ich nur noch grau bis schwarz, ein Schleier der Trauer. Der Mehltau ist wieder da, lässt die Beeren platzen, Kerne schauen zur aufgesprungenen Haut heraus (Samenbruch), die Blätter werden bald braun und fallen ab. Ein jämmerliches Bild. Aber gespritzt wird in meinem Garten grundsätzlich nicht, auch nicht mit Fungiziden, nicht mit Schwefelpräparaten. Ich bin konsequent, weil ich mich weigere, in einem Chemikalienumfeld zu leben, von Selbstvergiftungen nichts halte. Ich entehre, vergifte und beleidige meinen Boden doch nicht.
Gleich neben dem Mehltau-Muskateller habe ich andere Reben, die Wände und Pergolabalken empor klettern: Sie sind vom Mehltau, der schon 1848 aus Amerika nach England eingeschleppt und von dort aus weiterverbreitet wurde (auf dem gleichen Weg wie so viele andere Amerikanismen), nicht im geringsten betroffen und verwöhnen uns jeden Herbst mit süssen Beeren.
Daraus schliesse ich baumscherenscharf, dass es längst mehltauresistente Sorten gibt. Infolgedessen hat mich die am 24.08.2010 verbreitete bundesamtliche Meldung „Die Rebe kann uns Gutes tun, indem sie ihre Feinde ausschaltet“ nicht von der Leiter geworfen. Darin stand, die Forschungsanstalt Agroscope Changins-Wädenswil ACW habe neue Rebsorten gezüchtet, die gegenüber Falschem Mehltau, Echtem Mehltau und Traubenfäule resistent seien. Damit könne der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln deutlich gesenkt werden: „Diese Rebsorten verteidigen sich auf natürliche Weise, indem sie Substanzen produzieren, welche die erwähnten Schadpilze abwehren. Diese Substanzen finden sich im Wein wieder und gelten als gesund für Menschen. Sie sollen Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs vorbeugen helfen.“ „Sollen“ ... das ist im 2. Konjunktiv vorsichtig ausgedrückt: möglicherweise. Da ist nichts sicher.
Die Sache mit der Krankheitsverhütung schien mir dennoch etwas dick aufgetragen zu sein. Obschon ich einen reinen, nicht durch Chemikalien vergällten Wein mit seinen Stilbenen als etwas Gesundes und einen idealen Begleiter zu einem festlichen und sogar zu einem alltäglichen Mahl betrachte und schätze, widerstrebt mir der Gedanke, dass darin durch Züchtung markant vermehrte Stoffe enthalten sind, die Herz-Kreislauf-Krankheiten und gar Krebs verhindern, also einen präventivmedizinischen Nutzen haben. Die Abwehr von solch einem Krankheitselend geschieht bei mir auf eine mehr oder weniger geschickte Weise durch das besagte Zurückweichen vor Industriechemikalien, synthetischen Medikamenten, Impfungen und durch eine möglichst naturbelassene Ernährung aus vernünftigem Anbau, der auch der Natur gegenüber fair ist. Wein möchte ich als gesundheitserhaltendes Vergnügen trinken; wenn er auch als Arznei fungiert, nehme ich das gelassen hin, traue der Sache aber nicht ganz.
Die neuen, resistenten Rebsorten aus der ACW heissen Garanoir, Diolinoir, Carminoir, Galotta und Mara. Eine wenigstens gegen Traubenfäule widerstandsfähige Sorte gibt es bereits seit 2003: Gamaret, die in der Schweiz inzwischen zur Sorte mutierte, die am häufigsten angebaut wird. Sie wurde zudem in den Katalog der in Frankreich zugelassenen Sorten aufgenommen, was etwas heisst. Und anschliessend ging’s den Mehltau-Variationen an den Kragen und zwar mit natürlichen Kreuzungen zwischen resistenten Wildreben-Sorten ausgerechnet aus Amerika oder Asien, das sich nicht eben durch eine Traubenreichtum auszeichnet.
Die ehrenwerten und zweifellos begabten ACW-Tüftler entwickelten eine schnelle und wirksame Auslesemethode von Zuchtsaatgut, die sich auf die angeborene Fähigkeit der Keimlinge stützt, natürliche Substanzen - so genannte Stilbene - zur toxischen Abwehr gegen Pilze zu produzieren. Die amtliche Mitteilung gerät angesichts der Resultate ins Schwärmen, als sei sie von den Forschern höchstpersönlich verfasst: „Diese Substanzen sind allesamt Nebenprodukte des Resveratrols, eines für Pilze unproblematischen Moleküls, das zudem als gesund gilt ‒ es kann etwa Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Krebs vorbeugen helfen. Die natürlicherweise daraus entstehenden Moleküle, hauptsächlich die Viniferine, sind in der Pilzabwehr der Pflanze äusserst erfolgreich und gelten ‒ wie das Ausgangsmolekül ‒ als gesund für Menschen.“ Ende Zitat. Die Neuzüchtungen strotzen offenbar geradezu vor Stilben-Konzentrationen; sie seien 20 Mal höher als im herkömmlichen Gamay oder Pinot noir, habe ich noch erfahren dürfen.
Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass man den überreichen Stilben-Segen so leicht mit Kreislauf- und Krebsprävention gleichsetzen kann. So etwas überhaupt nur feststellen zu können, scheint mir unter normalen Bedingungen unmöglich zu sein und dürfte wohl eher einem Wunschdenken entsprechen. Zudem enthalten Pflanzen nicht einfach reines Stilben (1,2-Diphenylethen), sondern verschiedenartige Stilben-Derivate, wie sie bei der Biosynthese nun einmal entstehen. Dazu gehört das Resveratrol, ein Antioxidansvon hohem Ansehen, das sich in verschiedenen Pflanzen befindet (auch in Himbeeren, Pflaumen, Erdnüssen, aber insbesondere in der Haut von roten Trauben). Ich schätze diesen Stoff im natürlichen Gefüge durchaus, aber ob die Gleichung stimmt, dass mehr von ihm umso gesünder ist, kann nicht gesagt werden. Die Vermutungen von den Gesundheitseffekten des Resveratrols stammen aus In-Vitro-Versuchen, also nicht von solchen am lebenden Menschen; wir sind ja keine mobilgemachten Petrischalen. Das müsste man ehrlicherweise zugeben. Und auch, dass verschiedene Stilben-Derivate eine hormonähnliche Wirkung (es sind Phytoöstrogene) entfalten und gelegentlich gar krebserregend wirken.
Bei den Hormon-Fleischskandalen, so weit sie bereits aufgeflogen sind, wurden Stilbene wie Diethylstilbestrol (DES) als Masthilfsmittel genannt und verteufelt.
Das Wort „Stilbene“ ist eine Mehrzahlbildung, und auch in der amtlichen Mitteilung wird es korrekt so gebraucht. Das aber ist auch der Grund dafür, dass die Sache mit den Gesundheitszusammenhängen nicht auf einen ganz einfachen Nenner zu bringen ist und man mit solchen Aussagen eher zurückhaltend sein sollte. Neuzüchtungen ohne oder mit Gentechnik sind immer vielversprechend und abenteuerlich, weshalb sich mein Jubel in Grenzen hielte, wenn überhaupt er sich einstellen würde.
Ich werde meine durch Mehltau versaute Muskateller-Rebe demnächst entfernen, aber wohl kaum durch eine Stilben-Schleuder ersetzen.
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