BLOG vom: 25.10.2010
Corporate Identity 1: Sind Namen nur Schall und Rauch?
Autor: Ernst Bohren, Teufenthal AG/CH
„Corporate Identity ist die Einheit und Übereinstimmung von Erscheinung, Worten und Taten eines Unternehmens (einer Körperschaft) mit seinem formulierten Selbstverständnis“.
Dass diese von unseren professionellen Imagepflegern formulierte Definition nicht nur für Unternehmen und sonstige Körperschaften gilt, sondern auch für jedes einzelne Individuum, und dass der Name eben nicht nur „Schall und Rauch“ ist, wurde mir erst kürzlich wieder so recht bewusst: Meine angetraute Lebensgefährtin Esther und ich nutzten Anfang Oktober 2010 ein Angebot von Railtour Suisse: Die Reise ging von Aarau nach Landquart und weiter auf der schmalen Spur der Rätischen Bahn über Davos, Klosters und durch den Vereinatunnel nach Zernez ins Unterengadin. Von dort führte der gelbe Wagen der Schweizer Post seine Gäste über den Ofenpass ins Münstertal – durch die unberührten Wälder des Nationalparks, vorbei an den bereits gelb lodernden Lärchen, am Weltkulturerbe, dem Kloster Mustair, das von der UNESCO in die Liste der bedeutendsten Denkmäler des Weltkulturgutes aufgenommen wurde, und weiter über die Grenze nach Mals im Oberen Vinschgau. Nach Meran führte uns die Vinschgerbahn. Dieser Regionalzug wurde 1906 in Betrieb genommen und ist nach etlichen Unterbrüchen und Stilllegungen 2004 wieder im neuen Glanz auferstanden.
Wir fuhren durch eine Landschaft, die geprägt ist von Obstplantagen so weit das Auge reicht. Hier reifen die marktgängigsten Apfelsorten, natürlich nicht an Nieder- oder gar an Hochstammbäumen, sondern eher an staudenähnlichen Stecklingen, woran zumindest die Nistgelegenheiten suchenden Vögel und Obstbaunostalgiker keine grosse Freude haben dürften. Anfang Oktober neigte sich die Apfelernte dem Ende zu. Einen ganzen Sommer lang werden die Kulturen bewässert, denn der Vinschgau ist das Tal mit den geringsten Niederschlägen des gesamten Alpenraumes. Angesicht der unendlichen Obstplantagen kommt beim unkundigen Durchreisenden aber auch die Frage auf, woher in aller Welt denn die Bienen kommen, die im Frühjahr die Abermillionen Apfelblüten zu befruchten haben.
In Meran, diesem für Österreich über die Jahrhunderte hinweg wichtigsten Hauptort jenseits der Alpen, haben wir nebst reizvollen Wanderungen hoch über dem Etsch- und Passeiertal auch das Schloss Tirol im Burggrafenamt besucht. Das markante Bauwerk war die Stammburg der Grafen von Tirol und die Wiege des Landes Tirol. Bis ins 16. Jahrhundert, als die politische Verwaltung ins verkehrstechnisch günstigere Innsbruck verlegt wurde, war die Burg Residenz der Landesfürsten. 2003 wurde im Schloss Tirol das Südtiroler Landesmuseum für Kultur- und Landesgeschichte eröffnet. Der Museumsparcours durch die in Laufe von Jahrhunderten gewachsene Burganlage präsentiert in Form von Zeitreisen diese wechselvolle Geschichte – von der ersten Besiedlung in vorgeschichtlicher Zeit bis zur jüngsten gesellschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes. Und hier hatte ich mein Aha-Erlebnis zum Thema „Italienisierung der Orts- und Familiennamen in Südtirol“.
Doch zuerst ein Exkurs in die jüngste Geschichte: Nach dem Waffenstillstand des Ersten Weltkriegs besetzten ab dem 3. November 1918 italienischen Truppen Südtirol, und im Herbst 1919 wurde im Vertrag von Saint-Germain das Land dem Königreich Italien definitiv zugesprochen. So hatten es die Mächte der Entente in London 1915 geheim vereinbart, um das neutrale Italien für den Eintritt in den Krieg auf ihrer Seite zu gewinnen. Die Machtergreifung der Faschisten in Italien 1922 führte zu Repressionen gegen die Tiroler, beziehungsweise deren Kulturgut.
Die Repressionen gegen das Kulturgut in Südtirol äusserten sich in der Hauptsache im sprachlichen Bereich: Haupttäter war der 1865 in Rovereto geborene Ettore Tolomei. Während seines Studiums der Geografie und Geschichte sowie Sprachwissenschaften und Literatur in Florenz und Rom wurde er zum Verfechter der These, dass die Staatszugehörigkeit gemäss der Wasserscheide am Alpenhauptkamm zu erfolgen habe. 1890 wurde Tolomei Herausgeber der nationalistischen italienischen Zeitschrift La Nazione Italiana. Bereits ab 1901 begann er intensiv mit seinen Bestrebungen der Einverleibung Südtirols ins italienische Königreich. Dazu zählten vor allem die Übersetzungen aller geografischen Bezeichnungen ins Italienische und in sehr vielen Fällen mangels historischer Namen auch italienische Neubenennungen, um eine angebliche Italianità des gesamten Gebiets bis zum Alpenhauptkamm vorzugaukeln.1906 gründete er das Archivio per l'Alto Adige mit Sitz in Montan im Südtiroler Unterland.
Die Machtergreifung des Faschismus 1922 gab Tolomei umfangreiche Möglichkeiten, sein Programm zur „Assimilierung“ der Südtiroler Bevölkerung und auch der Sprachinseln der Zimbern im Trentino, in Venetien und im Friaul durchzusetzen. Dies sollte unter anderem durch die „Italienisierung“ nicht nur der geografischen Namen, sondern auch der Vor- und Familiennamen erreicht werden. Dabei wurde arg geschludert: Die allerwenigsten „Rückübersetzungen“ beruhen auf sprachwissenschaftlichen (etymologischen) Erkenntnissen. Die meisten italienisierten Orts- und Familiennamen sind eindeutig falsche Übersetzungen oder Verballhornungen, indem der Wortstamm einfach mit O erweitert wurde. Beispiele: Meran = Merano, Brenner = Brennero. Der Ort Auer wurde zu Ora umbenannt. Dies ist besonders krass, denn der ursprüngliche Ortsname Auer dürfte ganz gewiss nichts mit dem italienischen Ora = Stunde zu tun haben.
Die konkreten Massnahmen und Verfügungen in zeitlicher Reihenfolge: Ab 1923 wurden deutsche Zeitungen zensiert und mit Ausnahme der faschistischen Alpenzeitung verboten. Die Tiroler Ortsnamen wurden durch italienisierte ersetzt, die fälschlich als „Rückübersetzungen“ deklariert wurden. Gleichzeitig wurde der Schulunterricht in deutscher Sprache durch die „Lex Gentile“ abgeschafft“, der daraufhin organisierte Privatunterricht wurde strafrechtlich verfolgt.
Ab 1924 wurde in allen Kindergärten die Verwendung der italienischen Sprache angeordnet. Im Herbst des gleichen Jahres wurden private Spielstuben verboten.
Am 1. März 1924 wurde Italienisch als alleinige Amtssprache eingeführt und in den folgenden Jahren die deutschsprachigen Beamten grösstenteils entlassen.
Ab 1925 wurde bei Gericht nur noch die italienische Sprache zugelassen.
Ab 1927 wurden deutsche Inschriften auf Grabsteinen verboten. Alle Neubauten mussten im italienischen Baustil ausgeführt werden.
Die Südtiroler machten nicht mit. Nach dem weitgehenden Scheitern seiner Massnahmen propagierte Tolomei die Umsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung und der Zimbern nach Deutschland. 1939 kam es schliesslich zum entsprechenden Abkommen zwischen Hitler und Mussolini, der so genannten Option, wobei Tolomei als Hauptinitiator und Organisator fungierte. Danach wählte eine grosse Mehrheit der deutschsprachigen Südtiroler die „Option“ für das Deutsche Reich, und Zehntausende verliessen bis 1943 das Land als Umsiedler.
Für seine „Verdienste“ um die Nation wurde Tolomei von den Faschisten zum Senator ernannt und im Jahr 1938 von König Viktor Emanuel III.zum „Conte della Vetta“ geadelt. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Italien 1943 wurde er von der deutschen Wehrmacht verhaftet und in einem Lager im Thüringer Wald interniert. Nach seiner Befreiung 1945 übergab er die Leitung seinem Schüler und Assistenten. Er behielt seinen Titel, den er während der Faschistenzeit erhalten hatte, wurde wiederum Berater der italienischen Regierung und erhielt nach seinem Tod am 26. Mai 1952 ein Staatsbegräbnis mit allen Ehren.
Soweit die historischen Fakten zu diesem staatlichen Angriff auf die Souveränität einer ganzen Region und seiner Bürger. Wer dem Volk das Maul verbietet, beraubt es seiner Identität. Staatliche Zugehörigkeit lässt sich nicht durch Dekrete erzwingen. „Assimilation“ ist in jedem Fall das denkbar schlechteste Mittel; das Rezept heisst Integration, es muss aber von beiden Teilen in gutwilliger Partnerschaft jeden Tag aufs Neue gelebt werden. Integration verlangt von allen Beteiligten, dass sie die Kultur der anderen Menschen ebenso achten wie sie ihre eigene Kultur und Lebensweise hochhalten und pflegen. Mit ihrem Widerstand gegen die sprachliche Vereinnahmung haben die Südtiroler ihre Identität verteidigt und der Welt gezeigt, dass sich kein Volk auf Dauer vergewaltigen lässt.
Zur „Bedeutung der Sprache für unsere Identität“: Zurzeit wird in unseren Medien das Thema „Hochdeutsch oder Dialekt im Kindergarten“ diskutiert. Peter von Matt, Germanistik-Guru, emeritierter Professor der Universität Zürich und vielfach preisgekrönter Buchautor, fühlte sich bemüssigt, in der Samstagausgabe vom 16.10.2010 des „Tages Anzeigers“ gegen den Dialekt anzuschreiben. Unter dem zweizeiligen Titel „Der Dialekt als Sprache des Herzens? Pardon, aber das ist Kitsch!“ bezeichnete er die Deutschschweizer Dialekte als „eine bunte Wunderblüte“. Er verglich die Dialektbeispiele für „Ameise“ und „Brotanschnitt“ mit Wortschöpfungen der Dadaisten, „die ohne weiteres auf ihrer verrauchten Bühne im Zürcher Niederdorf hätten rezitiert werden können“ und beschimpfte in Zwischentiteln die Schweizer Dialekte als „denkschwach und sentimental“ sowie als „ungehobelt und bäurisch“.
Dem hielt Guido Kalberer in der Dienstagausgabe (19.10.2010) der gleichen Zeitung unter dem Titel „So wie ich spreche, so bin ich auch“ dagegen, dass die Art und Weise, wie wir denken, entscheidend mit der Sprache zu tun hat. Er zitierte den Philosophen Martin Heidegger, der 1927 mit dem knappen Satz „Die Sprache ist das Haus des Seins“ für Resonanz in ganz Europa gesorgt hatte. Dass Sprache ein wesentliches Element unserer Identität ist, war schon den Philosophen der Antike geläufig: «Sprich, damit ich dich sehe», soll Sokrates einmal gesagt haben.
Für die Südtiroler ist es schliesslich noch einigermassen „gut“ ausgegangen: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Südtirol in einem schwierigen, langwierigen Prozess zur autonomen Provinz. Heute sind alle Ortsnamen zweisprachig angeschrieben, wobei ausschliesslich die (in vielen Fällen erfundenen) italienischen Ortsnamen amtlich sind. Die deutschen Namen werden auf neueren Schildern in der Regel zuerst genannt. Alle offiziellen Dokumente werden ebenfalls zweisprachig ausgestellt. Die geforderte Zweisprachigkeit der Bevölkerung ist aber nur teilweise realisiert.
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