BLOG vom: 19.12.2010
Putten, lieb und mollig: Suche nach der nackten Wahrheit
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
In vielen Prunkräumen, insbesondere in überladenen Kirchen mit Renaissance-, Barock- oder Rokoko-Ausstattung, hängen sie mit Vorliebe herum, die Putten (Putti, Mehrzahlform von Putto). Der Begriff ist vom italienischen putto = Knäblein abgeleitet.
Putten sind modellierte oder geschnitzte Figuren von kleinen nackten Knaben oder geschlechtslosen Kindern, an die manchmal auch gespreizte Flügel montiert wurden. Man bezeichnet sie, wenn man sie überhaupt erwähnt, gelegentlich auch als „Biskuitfigürchen“, weil sie in ihrer Molligkeit ja so süss sind. Ein weiterer Ausdruck für die Liebesgötter in der Gestalt von geflügelten Knaben ohne Alter und in naturalistischer Farbtötung lautet Amoretten. Auch Panisken und Bacchuskinder und Genien nennt man sie gelegentlich. Hat man einmal ein Auge für diese plastischen oder gemalten Kleinkunstwerke entwickelt, sieht man sie nicht allein als Dekorationsgegenstände an barock überladenen Altären und in Bildern, sondern auch an Wänden, an Decken, bei Orgeln, wobei sie meist auf das Thema abgestimmt sind, das sie begleiten. Als Porzellanmotiv konnten sie sich in modernisierten Ausprägungen bis ins 20. Jahrhundert halten.
Und selbst an Weinflaschen-Hälsen kommen sie vor. 3 Jahre nach dem Zusammenschluss der Weinbauern in der klassischen Chianti-Zone in der italienischen Toskana (zwischen Pisa und Montalcino) zur Consorzio del Marchio Storico Chianti Classico, deren Kennzeichen der schwarze Hahn (Gallo nero) ist, vereinigten sich 1927 etwa die Hälfte der Produzenten aus den restlichen Anbauzonen zum „Consorzio des Chianti Putto“, und ihr Markenzeichen ist die von einer Rebe umgarnte, rosafarbene Bacchus-Putte und führen die Ursprungsbezeichnungen Chianti Colli Aretini, Chianti Colli Fiorentini, Chianti Colli Pisane, Chianti Colli Senesi, Chianti Montalbano und Chianti Rufina. dabei handelt es sich meistens um angenehme Tafelweine ohne grosse Ambitionen, und dementsprechend passen die Putti zu ihnen.
Bibliotheksputten
Selbst in die Stiftsbibliothek St. Gallen haben sich etwa 20 der Nackedeis mit vergoldeten Lendenschürzchen – der Stoff wurde sehr sparsam eingesetzt – vorgewagt. Sie fallen wegen ihrer geringen Körperlänge von 31 bis 34 cm im Umfeld all der Bücherrücken aber kaum auf. Sie befassen sich hier aber nicht mit dem Thema Buch, sondern sie spielen auf verschiedene Künste, Wissenschaften und Gewerbe und damit auf Buchinhalte an. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, Nischen in der Holzverkleidung zu füllen und zu beleben – gewissermassen als Versatzstücke aus dem göttlichen Kindergarten. Ihnen ist das Buch „Die Stiftsbibliothek St. Gallen. Der Barocksaal und seine Putten“ von Johannes Duft (Verlag Ostschweiz, St. Gallen) gewidmet. In diesem Werk sind sie (auf Seite 63) folgendermassen beschrieben: „Es handelt sich um holzgeschnitzte, polychrom gefasste Zierstücke der Kleinplastik des Rokokos, die nach Linus Birchler an Porzellan-Statuetten, nach Adolf Fäh an Majolika-Werkchen, nach André Trofimoff an die Porzellan-Figurinen von Nymphenburg erinnern. Wären sie grösser, so würden die zierliche Anmut und die lächelnde Liebenswürdigkeit dieser nur wenig bekleideten Geschöpfchen kaum zum Ernst des gemalten Saalprogrammes passen.“ Wer die Puttenschar geschnitzt hat, ist nicht auszumachen. Der Autor ermuntert zum Hinschauen: „Wer Augen hat, zu sehen, der sehe und freue sich!“
Von bekannten und unbekannten Künstlern
In manch anderen Fällen ist der Künstler bekannt. So etwa schuf beispielsweise der französische Skulpteur Claude Michel Claudion (1738‒1814) ganze Kindergruppen (Terrakottafiguren), die besonders filigran ausgearbeitet sind (siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Claude_Michel). Bekannt sind auch die Putten des deutschen Bildhauers Johann Joseph Christian (1706‒1777), zum Beispiel am Altar Johannes des Täufers in der Abteikirche von Ottobeuren D, der um 1765 entstanden sein könnte.
Diese Putten sind eine Neuauflage der gotischen Kinderengel, ohne zu Gottmenschen zu werden, die sich von Normalmenschen abheben, auch wenn sie fliegen können, dazu sind sie zu drollig. Sie umschwirren seit der Frührenaissance, besonders aber seit dem optisch wollüstigen Barock, aus dem der Rokokostil mit seinem beschwingten Geist hervorging, religiöse Kunstgegenstände, Rankenwerk und Klimbim, einen Hauch von lieblicher Natürlichkeit vermittelnd. Sie wollen nicht zu Heiligen werden, vollbringen nicht wie jene Guinness-Buch-verdächtige, wunderbare Spezialleistungen.
Vorbilder der Putten waren gemäss übereinstimmender Ansicht der Kunsthistoriker die antiken Eroten (Eros-Gestalten), die im Hellenismus als Zugaben zu Plastiken beliebt waren und auch in Wandmalereien auftauchen, so etwa in Pompeji. Im „Lexikon der Kunst“, Band 9, Freiburg i. Br. 1989, steht auf Seite 307: „Die Putte geht auf antike Eroten (...) in Gestalt von Kleinkindern zurück und ist sinnverwandt mit den Amoretten, geflügelten, Pfeil und Bogen tragenden Knaben, die aus den Eroten entwickelt wurden.“ Anderweitig sind die Putten als „im christlichen Zusammenhang erscheinende Eroten“ beschrieben, auch als Kinderengel (spiriti volanti).und als Nachfolger „griechischer Venuskinder“ (so Theodor Birt in „Engel und Dämonen“, München 1962), die gelegentlich zum Kind von Maria aufstiegen und sich dadurch einer besonders markanter Karriere erfreuten und sogar das Zeug für Himmelfahrten hatten.
Herumziehende Stukkateure
Am 02.12.2010 habe ich mit dem kunstbewanderten Bibersteiner Bildhauer Josef Perchthaler gesprochen, der feststellte, dass die Putten selten stilisierend, sondern naturalistisch und spontan, mithin keiner Schule zuzuordnen sind. Er erzählte mir, wie insbesondere zur Zeit des Rokokos, diesem auf eigene Ideale fixierten Spätstil, ganze Künstlergruppen, vor allem Stukkateure, aus Italien in Europa umherzogen und bei der Ausstattung grosser Bauwerke mitwirkten. Sie waren in der Lage, freihändig und ohne Form Figuren wie Putten zu formen, z. B. aus Gips. Perchthaler machte mich noch darauf aufmerksam, dass in der Kirchenkunst in der Regel die höher oben angesiedelten Gestalten mit weniger Sorgfalt ausgearbeitet sind, weil man sie nur aus Distanz sieht.
Perspektiven
Tatsächlich. Die verschiedenen Höhenlagen führen, wenn man von unten nach oben schaut, zu perspektivischen Verzerrungen. Gute Künstler begegnen diesem notwendigerweise falsch angesiedelten, das heisst dem zu tief liegenden Augpunkt, dadurch, dass sie die Figuren verzerren, auf dass sie, von unten besehen, in den richtigen Proportionen erscheinen. Hat man die Putten aber nahe vor sich, erscheinen sie gelegentlich wie Missgeburten mit Wasserkopf. Denn ihr Kopf ist ja am weitesten vom Betrachter entfernt und würde und bei normalen Proportionen als zu klein erscheinen. So kommt es denn, dass aus diesen unförmigen Köpfen die Augen dumm zum vergoldeten Jahrmarkt religiöser Eitelkeiten und Drohbotschaften glotzen. Ihre Backen, Bäuche und Extremitäten sind aufgeschwollen; manchmal gehört auch ein Doppelkinn dazu. Und die Pobacken, die zum Draufklatschen einladen, offenbaren sich aus der Untersicht besonders eindrücklich. Da immer mehrere Betrachtungsstandorte, sozusagen verschiedene Augenhöhen der beobachtenden Unfähigkeit, möglich sind, mussten die Gestalter Kompromisse machen, so dass aus den himmlischen Wesen oft Racker (Schlingel) wurden, die nie zu Erwachsenen aufspriessen werden. Sie vertreiben die Zeit mit aufreizendem Unfug, balgen und verknäueln sich ineinander, schlafen den Schlaf der Gerechten.
Der „himmlische Kindergarten“
Eine schwelgerische Beschreibung dieser Menschenwesen, welche die Konsole des Geists noch nicht erklommen haben, findet sich im Buch „Ein himmlischer Kindergarten“ aus dem Verlag F. Buckmann, München 1939. Rudolf Gläser formulierte: „Man kann ihnen ihre Streiche nicht übelnehmen, und man fürchtet auch nicht für sie, wenn man sie auch bedauert wegen der Kümmernisse, denen sie manchmal in ihrem Kindsein ausgesetzt sind und die aufgrund ihres unirdischen Wesens über sie kommen. Sie machen zwar oft mit Tränen und grossem Geschrei eine furchtbare Gegebenheit daraus, doch ein kleiner Kerl mit grossem Weh bietet ja einen komischen Kontrast, und Unsterblichen kann es nicht ans Leben gehen.“
Eros, der Amor der Römer, hatte hier seine Hände im Spiel. Der Drang zum Schönen, getragen von Verlangen und Sehnsucht, wie sie selbstredend in der klösterlichen und kirchlichen Männerwelt offenbar kaum zu bändigen sind, kommt überdeutlich zum Vorschein.
Beziehungen zur Pädophilie
Die Pädophilie-Skandale, wie sie in der katholischen Kirche in den vergangenen Monaten und Jahren zu Tausenden aufflogen und bis dahin offenbar nicht einmal von päpstlicher Seite unterbunden worden waren, sprechen eine Sprache über Fehlentwicklungen in der Persönlichkeitsstruktur, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Die Katholische Kirche der USA hat gut 2 Milliarden USD an Missbrauchsopfer bezahlen müssen, nachdem die Ausrichtung von Schweigegeldern nicht den erwünschten Erfolg gezeitigt hatte. Auch in Europa sind sexuelle Missbräuche von Kindern durch geistliche Würdenträger in Serie aufgeflogen, wenn auch kaum zum Himmel. Allein in Irland wurden 15 000 Kinder deren zu Opfern. Auch Deutschland, Österreich und die Schweiz gerieten in diesen Strudel, der sicher durch das Zölibat genährt worden war.
Ich weise im Putten-Zusammenhang aus einem durchschaubaren Grund auf die Pädophilen-Enthüllungen hin, weil sie die Vermutung aufleben lassen, es könnten Querverbindungen vorhanden sein: Sind die molligen Knäblein an Altären, Chorgestühlen und übrigen Kirchenausstattungen ein Hinweis auf eine Jahrhunderte alte Tradition der Pädophilie, die spätestens mit den Lustknaben in der Antike begann? Sie (und auch Lustmädchen) dienten der sexuellen Befriedigung und hatten auch die verschiedene Musen zu verkörpern.
Die Pädophilie ist die sexuelle Ausrichtung auf kindliche Körper, eine im Rahmen einer entgleisten Persönlichkeitsentwicklung erworbene und nicht etwa angeborene Verlangung. Die Betrachtung erotischer oder pornografischer Bilder sexuellen Inhalts muss für diese Leute offenbar sehr anregend wirken, wie ja auch die Internet-Pädophilie beweist. Es wäre blauäugig, den heiteren Reigen der Putten von solchen Geschehnissen zu separieren, auch wenn sich die Kunsthistorie um die Darstellung der Vertrautheit mit der Begierde, die in der nach Geschlechtern trennenden katholischen Kirche besonders aufblühte, herumdrückt.
Die Putten, die ihre Glanzzeit im Barock hatten, oft in ganzen Rudeln auftreten und sich auch gern unter Nymphen mischten, sind Mischwesen zwischen Engeln und Genien, also Schutzgeistwesen, die auch strafen und zu Untaten verführen können. Rudolf Gläser beruhigt: „In der Gesellschaft Christi und der Heiligen, am Chorgestühl der Kirchen, an Beichtstühlen und Altären ist man gewiss, nur christliche Engelkinder zu treffen.“ Gewiss, diese Puppen werden durch ihre Umgebung geadelt, führen in eine wonnige Versunkenheit.
In vergangenen Epochen ging das beste Kunstschaffen zwangsläufig in die Kirchen; die Geistlichen hatten Techniken entwickelt, das Volk mit ihren unüberprüfbaren Himmelsversprechen nach Strich und Faden auszunehmen. Das Geld floss derart üppig, dass selbst in kleinen Dörfern prunkvolle Kirchen, Jahrmärkte überbordender priesterlicher Eitelkeiten, entstanden. Es sind kulissenhafte Theatersäle des Glaubens, denen heute das Geld oft fehlt, anständig instand gehalten zu werden, weil sich immer weniger Menschen davon angesprochen fühlen.
Kunst und Pruksucht
In den vergangenen, reiferen Jahren habe ich mir angewöhnt, beim Augenschein in Kirchen die christliche Prunksucht kritischer zu betrachten und neben unbestrittenen Meisterwerken auch die verkitschten Seiten der katholischen Selbstdarstellung zu beachten. Nach dem Wissen um die sexuellen Verirrungen der niederen und hohen kirchlichen Würdenträgern von Priestern über Bischöfe bis zu Kardinälen und Päpsten ist mir kein unbefangen geniessender Blick auf die knackigen Knaben mit ihren schön ausgearbeiteten Schwänzchen mehr möglich, und mögen sie als Kastraten den Himmel der Zwangs-Eunuchen noch so sehr zu verschönern suchen.
Die Darstellung von nackten Körpern ist grundsätzlich nicht anstössig oder obszön. Aber wenn sich kaum bekleidete Kindchen in einen Bereich verirren, der die Prüderie predigt und das sexuelle Leben auf das Kinderzeugen reduzieren möchte, wird man diesen Spielchen mit einer gewissen Skepsis begegnen dürfen. Amor, dem Gott der Liebe aus der griechischen Mythologie, den man sich als halbwüchsigen Knaben vorstellt, ist es offenbar gleichwohl gelungen, Amörchen in rauen Mengen zu zeugen.
Die Geschichte und die liebreizenden Geschichten wirken bis heute nach.
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