BLOG vom: 25.12.2010
Sollte man die Weihnacht besser nicht gleich abschaffen?
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
In den Medien wird im Dezember jeweils gern darauf aufmerksam gemacht, wie das rituelle Familienfest Weihnachten häufig zu innerfamiliären Streitereien führt. Besonders innerhalb von konfus verzweigten Patchworkfamilien, deren bunte, nur lose zusammengeheftete Einzelteile sich oft feindlich gegenüberstehen, soll die Aufgabe der Organisation einer gemeinsamen Feier auf unüberwindbare Hürden stossen. Einige würden nur kommen, wenn andere nicht kämen, und füge sich die Gesellschaft aus rituellen Gründen, gebe es gern Krach, habe ich gehört. Verstimmungen scheinen zum Weihnachtsritual zu gehören.
Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat eine Lebenshilfe zum Thema „Wie überlebe ich Weihnachten?“ publiziert; die herrlichen Illustrationen dazu sind dem Buch „Der Karpfenstreit oder Die schönsten Weihnachtskrisen“ des Berliner Malers Michael Sowa entnommen. Auch die höchst delikate Frage „Muss ich mich über selbst gemachte Geschenke besonders freuen?“ wird beantwortet. Und selbst diese: „Muss ich Weihnachten feiern den Kindern zuliebe, auch wenn es mir zum Hals raushängt?“
„Die Zeit“ vom 22.12.2010 taucht gleich auf der Frontseite frontal ins Thema ein: „Die Grosseltern sind gekränkt, die Eltern am Ende, die Kinder ausser Rand und Band. Und dann ist auch noch die Gans zäh.“
Wieder andere Medien-Berichte stellen die Weihnachtstage als Zeit der schmerzlichen Einsamkeit und der Depressionen dar. Das will so gar nicht zum sogenannten Heiligen Christfest passen – das „Fest der Geburt Jesu Christi“. Ich habe diese Umschreibung so heruntergegoogelt, weil es mir selber nie ganz klar war, was denn mit all den stress- und geschäftemachereibetonten Feierlichkeiten überhaupt genau gefeiert wird. Viele kritische Historiker bezweifeln nämlich ernsthaft, ob es den Jesus von Nazareth überhaupt gab. Der auf diesem Gebiet führende Schriftsteller und Historiker Karlheinz Deschner und Mitautor Horst Herrmann bezeichnen Jesus „als jenen Menschen, den eine fast zweihundertjährige Evangelienforschung und Bibelkritik aus dem Schutt der Legenden herausgelöst hat“ (in „Der Anti-Katechismus“ (Goldmann 1991, Seite 43). Und auf Seite 135 desselben Buchs steht geschrieben: „Jesus aus Nazareth in einem Atemzug mit einer Kirche zu nennen, die sich auf ihren ,Stifter’ beruft, fällt schwer, auch wenn die heutigen Kirchen alles versuchen, um sich den Menschen als Jesus-Kirchen vorzustellen. Oder als Christus-Kirchen? Ganz einig sind sich die ,gestifteten’ Kirchen nicht. Jedenfalls kann zum einen nachgewiesen werden, dass ,Jesus’ – wenn es ihn gegeben hat – keine einzige Kirche gegründet oder auch nur angeregt hat.“
Und unendlich viel schwieriger ist es, von einem Menschen das genaue Geburtsdatum zu bestimmen, von dem man nicht einmal sicher weiss, ob es ihn überhaupt gegeben hat. Ich habe also gute Entschuldigungen dafür, dass ich noch nie so richtig drausgekommen bin, was da unter dem Oberbegriff Weihnachten denn eigentlich gefeiert wird. Den Schwindel mit dem Christkind habe ich schon auf Kindsbeinen durchschaut. Allein schon die Plausibilitätskontrolle, ob es denn ein Christkind schaffen würde, in Hunderttausenden von Stuben an einem einzigen Tag überall einen Christbaum zu dekorieren, war mir Hinweis genug. Unsere Stube durfte während etwa 3 Stunden nicht betreten werden – so lange brauchte das Christkind allein für uns – was ich mit Fassung trug. Auf die Päckli freute ich mich nicht besonders. Ich kannte ja die Strickmuster und Schneiderei meiner verehrten Mutter, die jeweils an Bekleidungsstücken in Weihnachtspapier einpackte, was ich sowieso erhalten hätte. Schon das Anfassen eines weichen, biegsamen Päcklis machte mich auf den textilen Inhalt aufmerksam. So spielte ich denn halt auch Freude vor, wenn man ja schon am Schwindeln war, um die Stimmung nicht zu trüben.
Als erster Schritt beim Rückzug aus dem verkitschten Weihnachtsrummel, als Erlösung von all dem Übel, schlug ich, selber zum Vater geworden, interfamiliär vor, das Austauschen von Geschenken unter Erwachsenen abzuschaffen, zumal dieses ja gelegentlich auch der Einsparung der Entsorgungsgebühr für Plunder dient, den man selber nicht mehr braucht. Wer wagt es schon, ein Weihnachtsgeschenk mit der Bemerkung, „Behalte diesen Schrott gefälligst selber“, zurückzuweisen? Als unsere Töchter älter und reifer wurden, haben wir in meiner Phase ökologischen Bewusstseins auch den Christbaum abgeschafft. Zumal ich keine amputierte, sterbende Fichte mit dem braunen Nadel-Nieselregen im Wohnzimmer herumstehen haben mag. Ich schlug stattdessen einen Spaziergang in einen verfichteten Winterwald vor, wo man mühelos lebende Bäume mit echtem Schnee statt Engelshaar aus Glaswolle, vor der man Kinderaugen schützen muss, oder Lamettastaniol mit hohem Bleigehalt antreffen kann. Auch von elektrischen Lichterketten, die Strohschmuck in Brand setzen können, bleibt man hier verschont. Zum grandiosen Weihnachtskitsch passt der neusprachliche Begriff X-mas oder Xmas (Kurzform von Christmas) besonders schön. Darauf muss einer erst einmal kommen.
So wurde denn die Weihnachtsfeier sukzessive allmählich auf ein festliches Essen reduziert, wie es bei uns weiss Gott nicht auf Weihnachten allein beschränkt ist. Gegen einen Festfrass habe ich nämlich das ganze Jahr über nichts einzuwenden, und infolgedessen auch am 24. und/oder 25. Dezember nicht. Es läuft alles reibungslos. Wer will, lädt ein, und wer mag, sagt zu. Wer ein anderes Programm hat, ist entschuldigt, kein Problem. Verwandtschaftliche Hochspannungen werden daraus nicht aufgebaut.
Weihnachten bedeutet also die Freiheit, zu feiern oder eben nicht zu feiern, fröhlich oder traurig zu sein, eine gute Stimmung zu verbreiten oder einen kleinen Streit anzuzetteln, was unter lockeren, zwangslosen Voraussetzungen allerdings recht schwierig ist. Dabei gelten also keine anderen Spielregeln als das ganze Jahr über auch. Wo eine hausinterne Gesangkultur herrscht, ist auch das Absingen der Weihnachtslieder und ähnlichen Kulturguts gestattet.
Der Kulturkalender Aarau hat das Programm des Christmonats 2010 unter das Motto „Burning down the Tannenbaum“ gestellt, was ich mit „Abbrennen des Tannenbaums“ übersetze. Das empfinde ich schon fast als einen Aufruf zum Christbaumverbrennen, eine Variante der verwerflichen Bücherverbrennungen. So weit wollte ich nie gehen. Weihnachten darf als Ritual für viele sein.
Und wer auf das feierliche Getue mit all dem Drum und Dran verzichtet, muss sich bloss bewusst sein, dass er eine der feierlichsten Jahreskrisen, die Weihnachtskrise eben, halt nicht geniessen darf. Denn von wo soll er denn die Zutaten für einen Weihnachtskoller überhaupt hernehmen?
Hinweis auf ein weiteres Weihnachtsblog von Walter Hess
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