Textatelier
BLOG vom: 17.01.2011

Take away und „Über d’Gass“: Ein Lob der Vielsprachigkeit

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Wenn Gesprächspartner die gleiche Sprache perfekt sprechen, erleichtert das den Gedankenaustausch. Aber deshalb nach Globalisierungsart auf eine Einheitssprache drängen zu wollen, würde auf eine ungeheure Verarmung hinauslaufen. Wer möchte denn schon ohne typische regionale Spezialitäten leben? Der Genuss wäre bescheidener, gäbe es nur globale Normware ab Stange.
 
Dieser Tage ist mir eine Papiertüte mit dem grossen Aufdruck „take away“ zu Gesichte gekommen. Sie stammt von der SV Group mit Sitz in Dübendorf ZH, ein Schweizer Catering-Konzern, der aus dem gemeinnützigen Schweizer Verband Soldatenwohl und dessen Nachfolgeorganisation SV-Service Schweizer Verband Volksdienst herausgewachsen ist. 2000 übernahm SV-Service von der Grossbank UBS die Culinarium AG, welche während knapp 4 Jahrzehnten die Personalrestaurants der seinerzeitigen Schweizerischen Bankgesellschaft führte. Seit 2004 tritt die gesamte Konzerngruppe unter der Dachmarke SV Group auf.
 
Das englische Wort Catering steht für die Versorgung mit Speisen und Getränken an einem beliebigen Ort. Wir Anwohner am Rebweg in Biberstein bereiten für unser alljährliches Rebwegfest jeweils etwas in der privaten Küche zu und bringen es mit, wobei sich viele Hausfrauen als Kochkünstlerinnen entpuppen. Stattdessen könnte man einen Catering-Service beauftragen, für das leibliche Wohl zu sorgen. Und auch der SV macht es gut, wie man immer wieder hört. Zwar scheint bei ihm das Englische die Firmensprache zu sein, doch hat das Unternehmen auch ein Herz für Anderssprachige. So steht auf dem oben erwähnten „take away“-Papiersack in mehreren Sprachen, was das heisst: „Zum Mitnehmen“, und sogar als Schweizer Redensart ist sinngemäss dasselbe wiedergegeben: „Über d’Gass“ (über die Gasse). Französisch heisst das „à emporter“ (emporter = mitnehmen). „Prender cun sai“ ist die rätoromanische Version (noch sprechen oder verstehen schätzungsweise knapp 100 000 Bündner Rätoromanisch), und „Da portare via“ (= zum Wegtragen) sagen die Italienischsprachigen auf der Alpensüdseite.
 
Schon als Kind hatte ich immer eine grosse Freude daran, dass die Lebensmittel auf den Packungen in den 4 Schweizer Landessprachen benannt waren. Daraus war die Ähnlichkeit der romanischen Sprachen zu erkennen. So weiss ich jetzt, das Hagebutten-Konfitüre in der Westschweiz Confiture de cynorrhodon und im Tessin Confettura di bacche rosa canina heisst. Wenn ich dereinst in einem Restaurant ein Dessert mit Cynorrhodon erhalte, weiss ich, womit ich es zu tun habe und muss nicht befürchten, es handle sich um ein Zyankali-Derivat.
 
Die Sprache hat nicht allein den Zweck der Verständigung, denn dafür gibt es ja auch viele sprachartige Mittel wie Gesten, Zeichen, Symbole, Kreuzchen auf Fragebögen und Stimmzetteln usf. Wenn ich ein schön gesungenes Lied in einer mir unbekannten Sprache oder eine Person fremdländisch sprechen höre, kann ich mich am Klang erfreuen und vermuten, was ausgedrückt wird. Wie einst die Naturheilkunde, die Ernährung, das Bauen und Wohnen, ist auch die Sprache ein Ausdruck der kleinräumigen Verhältnisse des Biotops, in dem jemand lebt; die fast von Ort zu Ort wechselnden Dialekte sind beredte Beispiele dafür. Die Sprache bedient sich auch naheliegender Bilder (Metaphern) – einer spricht wie ein Buch. Und wenn im Gefolge von Missionierungen und Kolonialisierungen die traditionelle Lebensweise von Ureinwohnern und abgeschieden lebender Gruppen zerstört und im Alkohol ersäuft wurde, starb auch ihre Sprache – in jeder Beziehung ein schwerwiegender Verlust an Diversität. Denn nur aus dieser heraus können sich neue Formen, neue Sprachklänge und auch neue Gedankengänge entwickeln. Die Kreolsprachen, in denen mehrere Ausgangssprachen vereinigt sind, können als Exempel dafür herhalten. Sie haben sich manchmal aus reduzierten Pidginsprachen entwickelt, so etwa das Balkan-Deutsch: Ich nicht wissen mehr. Du verstehen?
 
Die momentane Spracheinebnung geschieht global durch das Amerika-Englische, das selber allerdings eine durchaus reichhaltige Sprache ist, die aber häufig den Tiefpunkt – den hit rock bottom – erreicht, wenn sie bloss in Schnellkursen alltagstauglich gemacht wird. I bear it calmly – ich trage es mit Fassung. Wie das Futter in der vielsprachig beschrifteten Take-away-Tüte.
 
Hinweis auf weitere Blogs zur Sprache
Hinweis auf weitere Blogs von Hess Walter
Die unendliche Geschichte der Sondermülldeponie Kölliken
Verkehrsmedizinische Untersuchung für Alte: das Auto-Billett
Aargau: Leben im freiesten Kanton des glücklichsten Lands
Reaktionen auf Blogs (158): Nachwehen zur Blatter-Wahl 5
Auf US-Befehl skandalisierte Fifa. Medien spuren unverzüglich
Reaktionen auf Blogs (157): Duftendes aus dem Ideentopf
Schweiz: Plädoyer für eine selbstbewusste, mutige Politik
Markwalders Kasachstan: Im Dienste der Destabilisierung
Reaktionen auf Blogs (156): Von Günter Grass, vom Lesen
Ein neues Umweltdebakel in Sicht: Solarpanel-Sondermüll
Gerhard Ammann: Naturaufklärer und Auenschutz-Pionier
Ulrich Weber: der Erfinder der 1. Bundesrätin ist nicht mehr
Der Zickzack-Kurs des Weltgeschehens: Desorientierung
Chaos-Praxis: Im Labyrinth der Erkenntnis-Widersprüche
Die Wirkungen von Staatsbesuchen: Hollande in der Schweiz