BLOG vom: 21.01.2011
Freiämter Sagenweg: Wo Elfen und Hexen bei Tannen tanzen
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Meiner Lebtag habe ich jede Gelegenheit benützt, mich im Freien aufzuhalten: Luft, Licht, auch die Dunkelheit, sauge ich wie Delikatessen unlimitiert ein. Tief atmen. Man kann davon gar nicht satt werden, nie genug bekommen. Und so haben mich auch immer wieder Kunstwerke wie Skulpturen besonders angesprochen, die irgendwo in der Landschaft stehen, sich mit dieser verbinden. Man könnte ja auch Häuser, Brücken usf. zu diesen Landschaftsobjekten zählen, wobei selbstredend der Kunstbegriff gelegentlich zu relativieren wäre.
Immer wieder finden sich Möglichkeiten, wo sich Kunstschaffende draussen austobend entfalten können: Kunst am Bau, Kunst in Gärten und Parkanlagen. Dann wiederum gibt es befristete Kunstdarstellungen wie eine Ausstellung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder abgeräumt wird. Mit Vergnügen erinnere ich mich an die Skulpturen-Ausstellung „bodybild“, die im Sommer 2006 von der Siedlung „Heiligkreuz“ in der Entlebucher Gemeinde Hasle LU den Weg hinauf zum „First“ begleitete.
Daran dachte ich, als ich im Zusammenhang mit dem kleinen Ausflug zum Erdmannlistein, dem „historischen Epizentrum des Freiamts“, auf dem Wagenrain zwischen Wohlen/Waltenschwil und Bremgarten am 16.01.2010 den „Freiämter Sagenweg“ entdeckte. 12 Sagen, oft grausliche Geschichten, sind im Wald „Churzholz/Murhau“ als Einzel- und Gruppenskulpturen künstlerisch dargestellt, zu neuem Leben erweckt; die Initianten wurden die Freiämter Bildhauer Rafael Häfliger und Alex Schaufelbühl. Die einsetzende Abenddämmerung erhöhte die rätselhaft unergründliche Atmosphäre im dunstigen, aber schneefreien Winterwald, der mit Figuren und allerlei Gegenständen aus Holz, Stahl, Beton und Kunststoff wie einem vergrösserten Kegler-Sortiment und dem Drachenbänkli bestückt ist. Zuerst begegnete ich 5 eleganten, bis 4 Meter hohen Hexenfiguren, die mit Hilfe einer Kettensäge aus Eichenstämmen herausgeschnitten und über dem Feuer geschwärzt worden waren; sie tanzen einem schwarzen Holzschnitzelring. Sie verrenken ihre Körper und suchen, einem modernen Disco-Publikum ähnlich, in ihrer Bewegung Glücksempfinden und Befreiung.
Auf Orientierungstafeln wird jeweils die Sage erzählt, welche die Künstler (im vorliegenden Fall Pat Stacey aus dem solothurnischen Hauenstein) zur Geltung brachten: „Bei Zufikon gab es am alten Spielweg einen Tanzplatz, von dem man erzählte, dass hier die lustigen Reussjungfern mit gänsefüssigen Waldmännchen ein vertrauliches ,Stelldichein’ hielten und gerne miteinander tanzten. Auch Hexen seien auf dem Besenstiel hierher geritten zu einem nächtlichen Treffen. Schwarze Grasringe auf dem Tanzplatz zeugten vom wilden Feuertanz der nächtlichen Gäste mit dem gehörnten Bösen. Heute ist aber alles verschwunden, und niemand kann mehr sagen, wo einst der düstere Tanzplatz genau lag.“
Nächste Sagen-Station: Wegen der dramatischen, vielsagenden Schilderung wirkt eine grosse Steinplatte aus bruchrohem Mägenwiler Muschelsandstein, die als trennende Wand zwischen den Bäumen steht, besonders originell. Im oberen Teil ist ein Loch durchgebohrt. Eine Frau, über und über rot eingefärbt, möchte aus diesem Bancomaten offenbar Bargeld beziehen. Doch auf der Rückseite des Geldautomaten hockt der münzenzählende Teufel und schaut aufs Geld. Auf seine Wirbelsäule ist eine Reihe von 5-Rappen-Stücken aus Aluminiumbronze (Kupfer, Aluminium, Nickel) aufgeklebt.
In der dazu gehörenden Sage soll der Teufel jeweils am Karfreitag seinen glänzenden Goldschatz hervorgeholt haben, um ihn in der Frühlingssonne leuchten zu lassen – und heute steckt er im Bancomaten. 2 mutige Männer beschlossen einst, als es noch keine Geldautomaten gab, dem Bösen den mächtigen Goldschatz zu rauben. Auf dem steinigen Weg zur Isenburg, wo man vor Jahren römische Ruinen fand, stiessen sie auf eine riesige Kröte, welche ihnen den Weg versperrte. Sie spritzte einen Saft aus und vertrieb die beiden Gesellen, die mit einem mächtig geschwollenen Kopf davon kamen.
Was sagt uns solch eine Sage? Zuerst einmal stört, dass man eine Kröte, die ohnehin keine Sympathieträgerin ist, mit dem Teufel in Verbindung bringt. Im Übrigen ist man nie sicher, wie gross der Wirklichkeitsanteil in Sagen ist. Angesprochen ist im vorliegenden Beispiel sicher die menschliche Zuwendung nach Gold und Geld, nach Reichtum, der, aus Einschränkungen befreit, alles möglich macht. Und der Teufel, der das Böse personifiziert und deshalb in der christlichen und islamischen Philosophie seinen festen Platz problemlos behauptet hat, dient möglicherweise als Warner im Hinblick auf den ausser Rand und Band geratenen, ausgeuferten Kapitalismus, an dem nicht allein der Westen zugrunde geht.
Früher, da sass man an langen Winterabenden zusammen, erzählte einander Sagen, und was man so sagte, unterlag keinen strengen Gesetzen. Die Fantasie hatte ihren festen Platz. So liessen sich Phänomene erklären und Ängste abbauen, und es wurden Bögen zur Gegenwart geschlagen. Heute schaut das Schweizer Volk dahindösend den beinahe allabendlichen Fernseh-Ratespielen zu, von denen ein grosser Teil Lotterie-Werbung ist. Das moderne Kulturgut. Und auch hier geht es wieder ums Münzen- und Banknotenzählen. Hier hockt der Teufel nicht im Bancomaten, sondern im TV-Gerät. Und zu erzählen gibt es nicht mehr viel; die Sinnlosigkeit ist keine Diskussionsgrundlage.
Wer dem abhelfen will, findet übers Internet zu den restlichen 10 Freiämter Sagen: www.freiämtersagenweg.ch – oder noch besser: Er unternimmt einen Ausflug auf den Wagenrain mit den geheimnisvollen erratischen Blöcken und den wieder für befristete Zeit (seit September 2010 während 5 Jahren, das heisst bis 2015) lebendig gewordenen Sagengestalten, die eine etwa 400 Meter lange Strecke des Waldwegs bevölkern.
Begeht man den Waldweg in Richtung Cholmoos-Weiher tiefer in den Wald hinein, begegnet man neben dem Weg einem mit farbigen Bändern umspannten Platz, und ein beschriftetes Tuch ruft dazu auf, dieses Elfen-Refugium zu schonen, in Frieden zu lassen: „Lieber Mensch, bitte zerstöre unsere Heimat nicht! Dies ist ein heiliger Ort, und die Bäume sind unser Schutzkreis. Wir Elfen leben schon viele Jahre hier und sind Euch immer wohlgesinnt.“ Der Kraftplatz mit seinem Durchmesser von schätzungsweise 8 bis 10 Metern ist von grossen Fichten umrundet und in der Mitte steht ebenfalls ein solcher Tannenbaum mit geradem Stamm. Trotz der Januarkälte war der Boden von einem frisch-grünen Moosteppich überzogen. War das ein Tanzplatz für Waldelfen? Die allzeit dienstbereiten Hauselfen ihrerseits haben ja gerade in den Harry-Potter-Romanen zu tun.
Mit Elfen (Alben) steht das Wort Albtraum (Alptraum) im Zusammenhang, mit einem angsterfüllten Traum. Solche Albträume sind in den Sagenweg eingewoben, so etwa die Sage von den brennenden Männern, die Weinfuhren aus dem Elsass voranschritten und den Weg beleuchteten. Die Weintransporteure hatten wohl Angst vor Überfällen oder befürchteten eine Verirrung im Dunkel der Nacht.
Auch auf der Südwestseite des Wagenrains, wo der Sagenweg vorbeiführt, brach das Dunkel herein. Die sagenhaften Gestalten versteckten sich. Und der auf ein Paar übergrosse Reitstiefel reduzierte Stifeliryter, ein übler, hintertriebener und raffgieriger Geselle, der mit seinem verdrehten Kopf oft Wanderer erschreckte, liess mich in Frieden, da ich ihn aus verschiedenen Erzählungen nur zu gut kenne.
Da der Stifeliryter gelegentlich verkehrt auf dem Pferd sitzt, liess ich mich von ihm immerhin zum Rückwärtsgehen inspirieren – ein Bestandteil der chinesischen Bewegungskultur. Denn nur so findet man zu ausgleichenden Haltungs- und Wahrnehmungsmustern zurück. So konnte ich beim Zurückwandern im Rückwärtsgang zum Ausgangspunkt beim Tierpark die Freiluft-Sagenwelt länger im Auge behalten, als dies beim Vorwärtsgehen möglich gewesen wäre, und der Austritt aus ihr geschah weniger abrupt. Ich atmete noch einmal tief durch.
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