BLOG vom: 16.02.2011
Fahrt auf neuer Strassenstrecke in Richtung Vergangenheit
Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
Ich war gwundrig (neugierig). Jedesmal, wenn ich aus der Bahnhofunterführung Zürich-Altstetten herauskam und in die rechtwinklig wegführende Aargauerstrasse hineinschaute, hoffte ich, dass hier eines Tages ein Veloweg wegführe und ich dann schnurgerade zur Pfingstweid in unsere Werkstatt fahren könne. Aber gerade da, wo mein Traum seinen Ursprung hatte, war die Strasse leicht gebogen und verwehrte mir die freie Sicht. Ich nahm lediglich die Baustelle und die dazugehörigen Abschrankungen wahr. Bis hieher werde die Tramlinie 4 verlängert. Hier entstehe die Endstationschlaufe – das wusste ich aus Publikationen. Und Teile der neuen Strassen- und Streckenführung hatte ich bereits im animierten Film „Virtuelle Fahrt Zürich West" gesehen.
Primo begleitete mich hinaus in die Realität, machte mich auf vieles aufmerksam. Alle paar Minuten stellte ich mein Rad wieder ab und fotografierte. Und wir liessen die neuen, noch unbekannten Silhouetten auf uns wirken. Spannend und aufregend zugleich. Es beschwingte mich, die Orte, die zu meiner Jugend gehören, aus neuer Warte und zum Teil umgestaltet zu sehen. Wir befanden uns auf einer Parallelstrasse zum bisher benützten Veloweg neben der Autobahn. Jetzt zeigte sich die Sicht auf die Rückseiten jener Häuserzeilen und Geschäftsbauten, die uns bis dahin nur von vorne her bekannt waren. Obwohl noch nicht alles, was geplant wurde, auch schon gebaut ist, wirkt das Neue ganz ähnlich wie in der Darstellung im animierten Film der VBZ (Verkehrsbetriebe Stadt Zürich). Strasse, Tramführung, Stationen und Veloweg sind bald vollendet. Sie wirken klar und übersichtlich, führen in 2 Etappen schnurgerade zum Knotenpunkt beim verlassenen GC-Fussballstadion und danach in neuer Richtung zur Hardbrücke.
Weisse Bauwände riegeln grosse Bauplätze ab. Dahinter, weit entfernt, wie auf einem Balkon, ist die Kirche Höngg zu sehen. Näher bei uns winkten Birken und Pappeln. Sie liessen den Eindruck aufkommen, hinter dieser langen Wand befinde sich ein Paradiesgarten. In ihrem Umfeld die südlich anmutende Container-Siedung für Emigranten. Die fröhlichen Fassadenfarben Gelb, Orange und Sand strahlen aus. Eindrücklich signalisieren 13 Satellitenschüsseln das Bedürfnis nach Kontakt mit der Heimat.
Und auf dieser Fahrt bin ich endlich einmal zum Engros-Markt für Früchte und Gemüse gelangt. Er lag immer jenseits meiner Wege. Er befindet sich an der Aargauerstrasse 1 beim Knotenpunkt, wo sich Aargauer- und Pfingstweidstrasse treffen, wo sich auch das Hardturm-Parkhaus und die Ruine Grasshopperstadion befinden. Hier wird täglich, ausgenommen sonntags, ab 04.45 Uhr auf 6300 m2 Verkaufsfläche in 3 Hallen gehandelt. Die Atmosphäre dieses Markts möchte ich bald einmal erleben und im dazugehörigen Restaurant essen.
Lustig empfanden wir die an der gerundeten Rückwand des verlassenen Fussballstadions ausgeschnittenen Fenster, die Aussicht bis zu den Bernoullihaus-Dächern und den Wohnbauten am Limmatufer zulassen.
Bei der Migros Herdern angekommen, hatte sich die Wissenslücke geschlossen. Nun kenne ich die Verbindung Altstetten‒Pfingstweid.
Von hier aus liessen sich noch die Bauten im letzten Abschnitt Hardturm- und Förrlibuckstrasse überblicken. Mit freier Sicht über die verlassenen Fussball-Trainingsplätze hinweg. Es zeigte sich ein Ort, an dem verdichtetes Bauen bereits vollzogen ist. Wohnbauten und Geschäftshäuser stehen dicht an dicht. „Der rote Block", eine hufeisenförmige Wohnsiedlung, die für sich beanspruchen kann, vor allen anderen Häusern hier als erste erbaut worden zu sein, tut mir gerade leid. Vor Jahrzehnten erbaut und mit ziegelrotem Verputz versehen, wurde sie als roter Block wahrgenommen und bei diesem Namen ist es bis heute geblieben. Jetzt aber steht nebenan ein knallrotes Haus und drängt sie optisch zur Seite.
Weiter stadteinwärts Richtung Hardbrücke wird es vornehm. Von hier aus gestaltete sich die Umwandlung vom Industriequartier zum modernen Zürich West. Hier gibt es Raum zwischen den neuen Geschäftshäusern. Hier wurde ein Quartierteil ganz neu und grosszügig gestaltet.
Und was war früher?
Als ich 1947 mit meinen Eltern und Geschwistern nach Zürich übersiedelte, gab es an unserem Wohnort an der Hardturmstrasse viele Fabriken. Südlich von ihr aber auch viele Wiesen, Viehweiden, Obst- und unzählige Familiengärten, den Bauernhof der Familie Johann Buob, eine Schafweide und das erste Fussballstadion „Förrlibuck". Auf einer Foto aus der Pionierzeit der Flugfotografie (1925) ist dieser Fussballplatz verewigt. Hier fand die Sportprüfung zum Schulabschluss statt. Primo, Schüler aus dem Limmatschulhaus, erinnert sich an die Limite, die gesetzt war: 1 km rennen in maximal 5 Minuten.
Dieses Fussballfeld grenzte an die Herdern, heute Terrain von Migros Herdern. Zu jener Zeit ein grosses Familiengarten-Areal. Es reichte bis zu den Bahnlinien hin. Ein Fussweg führte sogar über die Geleisestränge hinweg zur Hohlstrasse hin. Es brauchte nur etwas Geduld, bis die Barriere jeweils für eine Weile hochgezogen wurde. Für Primo und mich ist der damalige Zugang zu dieser Geleiseüberquerung von der Hohlstrasse her noch gut sichtbar. In solchen Augenblicken wundern wir uns, wie sich der Bahnverkehr zu einem Geleisegerangel entwickelt hat.
Am Rande dieser Herdern haben nur wenige Familiengärten überlebt. Unter anderen auch der Schrebergarten und das Gartenhaus meines Vaters. Wir kennen seinen Nachfolger nicht, sehen immer nur, dass hier so liebevoll gegärtnert wird, wie einst. Es ist eine kleine Gruppe Hobbygärtner, die sich gewehrt hat, das Land zu verlassen, bevor die Bagger auffahren. Geplant sind hier Wohnhäuser, ein Schulhaus und ein Erholungspark. Ansätze dafür sind schon sichtbar. Die Auflösung der Gärten steht bevor.
Zum Umfeld dieses Orts gehören die Hochhäuser Prime Tower und Mobimo Tower, mit denen sich Zürich neuerdings brüstet. Andere werden folgen. Auf dem Heimweg schaute ich vom Sportweg her nochmals zurück. Da präsentierten sich die beiden Türme zusammen mit dem Migros-Hochhaus Herdern zu einer direkt liebenswürdigen Dreiergruppe. Wie wenn sie mit einander im Gespräch wären. Ich meinte, sie fragen zu hören: Wer von uns ist der grösste?
Das Gebiet Sportweg sei auch noch erwähnt. Auch es grundsätzlich ein Schrebergärtenareal. Mit vielen Wegen, schmalen Strassen, grösseren und kleineren Hütten. Abbruch-Firmen lagerten hier noch verwendbares Baumaterial. Hier suchte man z. B. nach einem Lavabo, gut erhaltenen Fenstern, Elektromaterial, usw. Es war ein schummeriger Ort, verkommen, ungepflegt, bei Regen verschlammt, bei Trockenheit voller Staub. Primo erinnert sich gut an den erdigen Geruch, der sich hier verströmte. Und an die interessanten Menschen, die dieses Ghetto belebten. Gärtner, Handwerker, Tüftler und Clochards. Diese Siedlung ist im Gelände des Engros-Marktes untergegangen.
Bald untergehen wird wohl auch das Gebäude der Seifensiederei Kolb an der Förrlibuckstrasse. Schon lange ist hier die Produktion eingestellt. Der Raum wird jetzt für Partys benützt.
Alle kleinen Nischengewerbe sind ausgestorben. Man braucht sie nicht mehr. Hütten und Häuser wurden abgebrochen, die Erde umgegraben, die Spuren verwischt. Es leben nur noch die Bilder in jenen Menschen, die hier alt geworden sind. Und bald können nicht einmal mehr Fotos das Leben von einst fühlbar oder zumindest verständlich machen.
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