BLOG vom: 02.03.2011
Richtig gemischte Körpersäfte: Humoralpathologie im Ernst
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
„Wer von einer Schlange gebissen worden ist,
fürchtet sich vor einem gerollten Seil.“
Ägyptische Weisheit
*
Ganz neu ist sie nicht: die Säftelehre. Sie wird mit dem modernen medizinischen Fachausdruck Humoralpathologie benannt, wobei der Wortbestandteil humoral nichts mit dem zu tun hat, was Stimmung und gute Laune hervorbringt, sondern für die dem Latein zugewandten Mediziner bedeutet Humor = (Körper)Flüssigkeit, humoral bedeutet also: die Flüssigkeiten betreffend.
Die Säftelehre geht auf die babylonische und ägyptische Medizin zurück und wurde von Hippokrates von Kos (Griechenland), der eigentliche Begründer der wissenschaftlichen Medizin, und vom ebenfalls griechischen Arzt Galen, der in Rom wirkte und die damals (im 2./3. Jahrhundert) über ein halbes Jahrtausend alte hippokratische Tradition fortsetzte, übernommen. Sie sieht die Ursache aller Krankheiten in einer fehlerhaften Zusammensetzung bzw. Mischung der Körpersäfte (Dyskrasie). Damit hat auch die vom deutschen Arzt Rudolf Virchow (1821‒1902) begründete Zellenlehre zu tun, derzufolge der Organismus ein „Zellenstaat“ mit gegenseitiger Abhängigkeit und Zusammenarbeit ist.
Als Körpersäfte gelten Blut, Schleim sowie die gelbe und schwarze Galle. Darauf fussen die verschiedenen naturheilkundlichen Verfahren der Humoralpathologie:
• Die ableitende Therapie ist darauf angelegt, durch bestimmte Behandlungen wie ansteigende Arm- oder Fussbäder die Entzündungsstoffe, gestaute Körpersäfte (wie bei Ödemen), Blut und Energie umzuverteilen und zur Haut umzuleiten.
• Bei der ausleitenden Therapie werden diese Körpersäfte und Körperschlacken zur Ausscheidung aus dem Körper gebracht, insbesondere durch Verfahren wie den Aderlass, die Blutegeltherapie, das Baunscheidt-Verfahren (Anregung des Lymphflusses durch Provokation einer grossflächigen Quaddelbildung) und das blutige Schröpfen.
Die alten Ärzte verstanden die Medizin als Gesundheitslehre und damit auch als Weisheitslehre mit Bezug zur Philosophie. Gesundheit und Krankheiten wurden innerhalb des Umfelds betrachtet, auch des kosmologischen, das heisst, der Zustand des Menschen wurde auf die Natur bezogen, in der auch Götter wirkten und sich das Zusammenfliessen der Säfte abspielte ... und sicher auch heute noch abspielt, unterschiedliche Götter und Gottesbegriffe hin oder her.
Die Lehre von den Säften beeinflusste die Esskultur bis ins Mittelalter hinein, wie die Professorin Ursula Hasler am Slow-Food-Anlass über die Zitronen vom 25.02.2011 im Cave du Luc in Baden ausführte (siehe Blog vom 01.03.2011: „Slow Food AG/SO: Süsssaures Leben mit Zitronenvariationen"). Von den Zitronen ist ja vor allem der Saft begehrt, auch wenn die Schale, die das ätherische Zitronenöl enthält, eigentlich nicht vernachlässigt werden dürfte; die Aroma- und die Parfümindustrie haben es schon längst entdeckt. Der Zitronensaft verdrängte den Agrest (Agraz, Verjus), der aus grünen, „unzeitigen“ Weinbeeren gewonnen wurde, jetzt aber wieder produziert wird, z. B. im Wallis (Kellerei Nouveau Salquenen, CH-3970 Salgesch).
Kalt, warm, feucht oder trocken
Laut den Ausführungen von Ursula Hasler wurde in der Humoralpathologie jeder Speise und jeder einzelnen Zutat eine Reihe von Eigenschaften, Kräften und Wirkungen zugeschrieben, die jeder Koch zu beachten hatte. Die Nahrungsmittel wurden als „warm“ oder „kalt“ und „feucht“ oder „trocken“ klassifiziert. Den Köchen, die sich darin auskannten, oblag es nun, die Lebensmittel so zu kombinieren, dass sich ihre Eigenschaften ausglichen und ergänzten. Auf diese Weise sollten die Körpersäfte im Einklang gehalten, also temperiert werden.
Bei den Chinesen ist das seit je ebenfalls üblich, wie den Ausführungen beizufügen ist: Nach dem Yin-und-Yang-Prinzip werden Nahrungsmittel in erhitzende und kühlende unterteilt, und ein Ausgleich wird immer angestrebt.
Die Nahrung war, wie man sieht, ein Heilmittel. Und das trifft auf die aus den subtropischen Klimazonen stammende Zitrone besonders zu: Sie hat eine fiebersenkende, bakterienhemmende und -tötende Wirkung, ist ein Hausmittel gegen alle sogenannten Erkältungskrankheiten.
Doch lauschen wir Ursula Hasler: „Cholerikern wurde empfohlen, ihre Nahrungsmittel nicht zu stark zu würzen. Gewürze galten als ,heiss’ und ,trocken’ und Choleriker (leidenschaftliche, reizbare Menschen), die sich zu viel Feuer zuführen, riskieren nach den Erkenntnissen der Humoralpathologie eher einen Herzinfarkt. Der Fisch aber ist ,kalt’ und ,feucht’. Er soll in einer Weise zubereitet werden, die als ‚trocknend’ und ,erhitzend’ galt: frittieren oder im Ofen backen, und die Fischgewürze mussten ,heiss’ und ,trocken’ sein, um den Ausgleich zu bewerkstelligen. Wacholderbeeren haben solche trocknenden und wärmenden Eigenschaften.
Das Rindfleisch ist ,trocken’ und ,heiss’, also feurig. Deshalb wurde es nur in Wasser gekocht, um einem Übermass an Feuer vorzubeugen. Das hellere Schweinefleisch aber ist kühler als das Rindfleisch und auch ,feucht’. Somit empfiehlt es sich, dieses Fleisch am offenen Feuer zu rösten – das Feuer wird über die Zubereitungsart zugeführt. Als ideale Nahrungsmittel galten in der Säftelehre diejenigen, die als ,warm’ und ,feucht’ eingestuft wurden.
Der Essig galt als ,kalt’ und ,trocken’, und er konnte jedoch Zutaten, die als ,heiss’ und ,feucht’ galten, in ihrer Wirkung noch verstärken, statt sie zu temperieren, wodurch eine Speise aus ihrer diätischen Harmonie zu fallen drohte und so der Gesundheit schadete.
Die Kunst des Temperierens, die jeder höfische Koch beherrschen musste, schuf den Ausgleich bei Tische. Der Agrest, der als ,kalt’ und ,trocken’ eingestuft wurde, war eines der Hilfsmittel, insbesondere um den Essig zu temperieren. Folglich finden sich mit dem Aufblühen der Agrestküche im 16. und 17. Jahrhundert in vielen Rezepten immer wieder eine Kombination aus Essig und Agrest. Als dann im 17. Jahrhundert der Handel mit Lebensmitteln aus den Kolonien und auch mit Zitrusfrüchten zunahm, verbreiteten sich die Zitronen, auch in der bürgerlichen Küche. Sie übernahmen die Rolle des Agrest, der in Vergessenheit geriet, mittlerweile aber wieder in handelbaren Mengen produziert wird.“
Soweit die Ausführungen von Referentin Hasler. Es würde mich nicht wundern, wenn der Agrest demnächst als Slow-Food-Presidio (unterstütztes regionales Produkt) auftauchen würde. Im Ernst (ohne Humorales): Der Ausgleich unserer Säfte könnte alleweil eine Neubelebung ertragen. Wir sind von der (ungiftigen) Äskulapnatter gebissen, fürchten uns vor Neuem und neu belebtem Altem, anderen Denkmodellen, neuem Schwung.
Hatte Wilhelm Busch etwa an die Humoralpathologie gedacht, als er über die Ohrfeige dichtete:
„Die Kraft, infolge der Erregung,Verwandelt sich in Schwungbewegung.Bewegung, die in schnellem BlitzeZur Backe eilt, wird hier zu Hitze.Die Hitze aber, durch EntzündungDer Nerven, brennt als SchmerzempfindungBis in den tiefsten Seelenkern,Und dies Gefühl hat keiner gern.“
Kräfte und Hitze entfalten also schon eine Wirkung ... Deshalb: Auf zu neuen gastrosophischen Kombinationen und Gefühlen!
Quellen
Busch, Wilhelm: „Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter“, 6. Kapitel (1883).
„Der Gesundheits-Brockhaus“, Verlag F. A. Brockhaus, Mannheim 1999.
Rätsch, Christian: „Heilkräuter der Antike in Ägypten, Griechenland und Rom“, Eugen Diederichs Verlag, München 1995.
„Roche Lexikon Medizin“, Verlag Urban & Schwarzenberg, München 1987.
Schneider, Ernst: „Nutze die Heilkraft unserer Nahrung“, Saatkorn Verlag, Hamburg 1985.
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