Textatelier
BLOG vom: 24.03.2011

Mont Vully: Der grosse Hocker, der mitten im Mittelland steht

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Wer sich das schweizerische Mittelland zwischen dem Jurabogen und den Alpen, das etwa 30 % der Landesfläche einnimmt, als ausgeebnetes, breites, von einstigen Eisströmen modelliertes Flusstal vorstellt, ist auf dem Holzweg. Zudem ist die Abgrenzung schwierig, fliessend, besonders im Süden und im Norden; an den Schmalseiten sind Genfer- und Bodensee eindeutige Begrenzungen. Die Reliefgestaltung auf einer durschnittlichen Höhe von 400 bis 600 m ist komplex und damit abwechslungsreich. Hügel und Berggebiete ragen auf, wie etwa der Napf, der 1408 m höher als der Meeresspiegel ist. Die Flachheit dominiert vor allem das Waadtland, wo der dortige Mittellandanteil zutreffend als Plateau Suisse bezeichnet wird. Vor allem 2 Flüsse entwässern das Mittelland: im Südwesten die Rhone mit dem Genfersee und die Aare im Mittelteil als grösstem Schweizer Rheinzufluss. Im Deutschschweizer Mittelland ist die sogenannte Zertalung tiefer, die Reliefunruhe also grösser. Ursprüngliche verästelte Kerbtäler gibt es noch im Napfgebiet und im Tössbergland. Die gegen den Jura hin leicht abfallende Mittelland-Landschaft mit ihren grossen Grundwasserströmen ist ebenso abwechslungsreich wie ihr zwischen ozeanischer und kontinentaler Prägung schwankendes Klima. Westwinde schaufeln Regen heran, und von Nordosten weht gelegentlich die kühle Bise.
 
Der Rundhöcker Mont Vully
Ein Hügel, den man zwischen 2 der 3 einst zusammenhängenden Jurarandseen, dem Neuenburger- und dem Murtensee, nicht erwarten würde, ist der Mont Vully (Wistenlacherberg, 653 Höhenmeter und damit 224 m über den nahen Seespiegeln). Er hat die Form eines riesigen Rundhöckers und weist damit auf die Einflüsse der einstigen Eismassen hin. Der Berg fällt ziemlich steil ins Grosse Moos (der fruchtbaren Gemüsekammer) ab.
 
Der aus Molasse (Ablagerungsgestein) bestehende, entzückende Vullyrücken, der die beiden erwähnten Seen trennt, beginnt etwa auf der Linie Coudrefin‒Vallamand (Kanton Waadt). Dann steigt er in nordöstlicher Richtung nach Haut-Vully (bis 1977: Vully-le-Haut, Kanton Freiburg) an und erreicht auf dem Inselberg seinen Kulminationspunkt. Wer es eilig hat, kann auf einer schmalen, asphaltierten Strasse von Sugiez (Zentrum von Bas-Vully beiseits des Broyekanals an der Nordostecke des Murtensees) an Rebbergen vorbei und durch Wald hinauf auf dem Mont Vully fahren, wo genügend Parkplätze und Ruhebänke zur Verfügung stehen.
 
Bei meinem Ausflug vom 12.02.2011 hatte mich der angekündigte Föhn enttäuscht; ich hatte erwartet, dass er die hochnebelartige Trübung der Atmosphäre wegblasen würde; doch dieser Traum erfüllte sich nicht. Durch die noch unbelaubten, stattlichen Laubbäume auf dem Mont Vully war der Murtensee auf der einen und der Canal de la Broye auf der anderen (nordwestlichen) Seite zwar auszumachen, doch schon die Entdeckung des Neuenburgersees, der Jurahöhen, der Voralpen oder gar der schneebedeckten Gipfel des Hochgebirgs bereitete Mühen oder war unmöglich.
 
Hochsitz zur Verteidigung
Die eingeschränkte Sicht durch den Hochnebel verschaffte mir die Musse, die reich beschriftete Orientierungstafel (OT) „Sentier historique“ (Geschichtspfad) zu studieren, die in der Nähe des Triangulationspunkts auf dem Mont Vully davon erzählt, was der Raum Murten vom 1. und 2. Weltkrieg abbekam. Hier wurden 1914/18 Massnahmen getroffen, um einen Durchmarsch der französischen Armee zu verhindern. Der Auftrag an die Schweizer Wehrmänner lautete: „Behelfsmässige Befestigung der Linie Zihlkanal–Vully–Murten–Salvenach–Laupen zum Zweck der Sicherung Berns gegen Angriffe über die Zihl und aus dem Kanton Waadt.“ Und auch 1939/45 wurde der Abschnitt Murten zwischen Jura und Saane von der 2. Division verteidigt. Auf dem Mont Vully war das bernisch-freiburgische Infanterieregiment 1 aktiv. Die neueren Sperren befinden sich 2 bis 4 km westlich derjenigen aus dem 1. Weltkrieg. Auf der OT ist auch aufgelistet, was auf dem Vullyrücken alles hergerichtet wurde und zum Teil noch zu sehen ist: Beobachtungsposten, Schützengräben und Hindernisse zwischen Infanteriewerken (Bois du Mont), Werke für Maschinengewehre (La Lomberta), Artillerie-Stellungen (8,4 cm-Kanonen, Le Tonkin) und anderes mehr.
 
Die Anlagen erinnern an Zeiten, die von einem unbedingten Verteidigungswillen der Schweiz gekennzeichnet waren und zu denen der Bau von Befestigungen und Festungen kraftvoll vorangetrieben wurde. Im 2. Weltkrieg, als die Schweiz von hochgerüsteten faschistischen Staaten umzingelt war, zog sich nach dem Reduit-Entschluss das Gros der Divisionen in den Zentralraum zurück, aber 5 Divisionen verblieben in der „vorgeschobenen Stellung“. Diese verlief vom Zürichsee entlang der Limmat zum Bözberg und weiter über das Gempenplateau, Mont Raimeux, Chasseral, Chaumont, Mont Vully, Saane bei Laupen bis nach Hauteville am Greyerzersee. Den Raum Murten belegte die 2. Division, unter anderem mit den Infanterieregimenten 1 (BE/FR) und 13 (Berner Seeland). Zwischen Saane und Sense wurde die Leichte Division eingesetzt. Ab Sommer 1940 entwickelte sich eine intensive Bautätigkeit. Die umfangreichen Verteidigungsanstrengungen machten fürs Hitler-Deutschland einen Einmarsch unattraktiv; dank des Milizsystems hatte die Schweiz eine der grössten Armeen Europas, der die Landesverteidigung ein Anliegen war.
 
Höchstmöglicher Eintrittspreis
Die Schweizerarmee blieb in Landestreue fest und befestigte das Land, um den Eintrittspreis heraufzuschrauben. Eine gut unterhaltene, das heisst originalgetreu erneuerte „Helvetische Befestigung“ befindet sich nur 5 Minuten vom Mont-Vully-Parkplatz entfernt, falls man eine Distanz in Fussgängerminuten angeben darf. Das Oppidum, im vorliegenden Fall eine mit Steinen verfüllte Schanzanlage, ein Fort als Teil einer Fluchtburg, besteht aus senkrecht stehenden Eichenstämmen mit waagrechten Verbindungen, die mit flachen, leicht bläulichen, kompakten Sandsteinen, wie sie sich in der Region Bern finden, verfüllt sind; dahinter ist Aushub eingefüllt, so dass sich eine Rampe ergab. Natürlich ist dieses Bauwerk aus der Zeit der Helvetier nicht mehr im Originalzustand, sondern nach altem Muster wiederhergestellt.
 
Die Helvetier wanderten im Jahr 58 vor unserer Zeitrechnung nach Gallien (Frankreich) aus und verbrannten ihre 12 Städte und 400 Dörfer und unzählige Hofsiedlungen. Das erwies sich als ausgewachsener Blödsinn, zumal sich ihnen der römische General Gaius Julius Cäsar bei Bibracte (nahe Autun im Burgund) in den Weg stellte und sie gleich wieder zurückschickte, womit der 7 Jahre dauernde Gallische Krieg (58‒51/50) begann.
 
Die Orientierungstafel am Kulturweg auf dem Mont Vully mit dem Wehrturmsymbol auf den grünen Wegweisern belehrt den Wanderer auch dahingehend, dass während der ausgehenden Eisenzeit, also in den letzten 2 Jahrhunderten vor Beginn der neuen Zeitrechnung, in Europa die ersten keltischen Städte entstanden, die ebenfalls Oppida genannt werden und von mächtigen Wällen geschützt waren. Der Mont Vully nahm schon damals eine dominante strategische Stellung ein. Von hier aus konnte die Ebene und die Brücken über die Broye überwacht werden. In etwa 3 km Entfernung, wo die Zihl den Neuenburgersee verlässt, ist die Fundstelle von La Tène, die der jüngeren Eisenzeit (5. bis 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) den Namen gab: La-Tène-Zeit.
 
Der Kulturweg führt von der an der oberen Hanglage angesiedelten Befestigungsanlage hinunter in die ausgedehnte, landwirtschaftlich genutzte, wellige Hochebene und weiter zum Restaurant „Mont Vully“ bei der Innerortstafel Sur-Le-Mont, wo ich mit einem Kaffee das Bedürfnis nach einem Mittagsschläfchen erfolgreich vertrieb. Die Wirtin fragte bei meiner Bestellungsaufgabe: „Un verre d’eau?“ Das hörte sich wie Yverdon am Südwestende des Neuenburgersees, wo Wasser ja auch eine besondere Bedeutung hat. Meine Fehlinterpretation kam zustande, weil ich noch nicht aufs Französisch umgestellt hatte und es in der Deutschschweiz nur in besonders guten Häusern üblich ist, zum Kaffee ein Glas Wasser anzubieten, was eigentlich selbstverständlich sein müsste. Die nette Inhaberin Manuela Haupt deckte mich mit einem reichhaltigen Prospektmaterial ein, bot sogar noch ein Couvert dazu an.
 
Die Lamberta-Grotten
In der Nähe des Restaurants war ein grösseres, mit Folien abgedecktes Rhabarberfeld. Einige der aufstrebenden Pflanzen hatten die Kunststoffabdeckung bereits emporgehoben und kündigten die holde Zeit der Gâteaus à la rhubarbe an.
 
Der Weg führt über eine Treppe in den Wald und hinunter zum Fort de la Lomberte (Grotten von Lamberta) oberhalb von Môtier. Ein Sandsteinfels wurde in den Jahren 1916/17 in Handarbeit (ohne Sprengungen) mit vielen, insgesamt 200 m langen Gängen in organischen Formen versehen – ebenfalls zur Verteidigung des Mittellands. Wie überdimensionierte Augen schauen ovale Öffnungen (Schiessscharten für Maschinengewehre, mit denen man 2500 m weit schiessen konnte) in die Ferne. Früher war der Abhang unbewaldet. Die Schlitze sind mit stabilen Steinplatten wie mit Augenbrauen überdacht. Kinder tollten sich am abgeschliffenen, schrägen Hang, veranstalteten Rutschpartien, und Mütter sorgten sich wegen des Schmirgeleffekts um die Kinderkleider. Rund um die Hinterhangstellung, auf der Places des Roches Grises, herum brieten ganze Familien Würste und freuten sich des naturnahen Lebens in Gesellschaft.
 
Weinkauf an der Riviere fribourgeois
Ich wanderte über das Réduit du Vully zum Auto zurück, denn ich wollte noch einen Eindruck von der Dörferzeile am Fusse des Mont Vully am Murtensee (gegenüber von Murten), der „Freiburger Riviera“, erhalten: Môtier, Praz, Nant und Sugiez, in deren Rücken sich die ausgedehnten Wistenlacher-Rebberge ausdehnen, in denen die Chasselastraube das Sagen hat. Die Bauten in den Dörfern, worunter viele Weinbauernhäuser, schwanken zwischen bernischen und waadtländischen Einflüssen, als ob man zu einer Bernerrösti eine Saucisson essen würde. Viele dieser stattlichen Bauten wurden von Berner Bürgern als Sommerresidenzen gebaut.
 
In Môtier stand bei der Weinbauernfamlilie Eric Simonet eine Tafel „Cave ouverte“, was ich nicht zweimal lesen musste. Umgeben von einem grossen, um die 20 Spezialitäten umfassenden Sortiment von Flaschen von Wein bis zu Eau-de-vie de Lie (ein Lebenswasser aus Weindrusen), kam ich mit Anni Simonet ins Gespräch. Was denn ein Eau-de-vie du Vin sei, fragte ich sie im Cave du Petit Château: „Eigentlich ein Cognac, der aber nicht so genannt werden darf.“ Die EU verbietet das. Den Vully-Weinen wurde die Bezeichnung „Appellation d’Origine Contrôlée“ (AOC) aberkannt, weil die Kriterien für diese Ursprungsbezeichnung als nicht mehr erfüllt galten. Das Weingebiet erstreckt sich über die Kantonsgrenze Freiburg/Waadt, und weil die Waadtländer mit Litern und die Freiburger mit Kilos abrechnen und den minimalen Zuckergehalt anders definieren, war den auf Vereinheitlichung tendierenden EU-Vorschriften nicht mehr Genüge getan. „Aber wir Schweizer sind doch meines Wissens nicht in der Europäischen Union“. Ja, aber immer mehr unter deren Fuchtel.
 
An der Route Principale 27 in Sugiez (Zentrum von Bas-Vully FR) lud die Grappoli Vini AG ein, in der das erstaunlich umfangreiche Vully-Wein-Sortiment aus von dem meisten Weinbauern zu haben ist. Die Beratung durch eine deutsche Verkäuferin ist gut, freundlich, unaufdringlich. Ich deckte mich mit einigen Raritäten ein, die noch etwas Ruhe brauchen und auf eine günstige Degustationsgelegenheit warten.
 
Vully mit dem Vullyberg, mitten im Mittelland, war eine lohnende, angenehme Entdeckung, unspektakulär, aber eindrücklich genug – ein Hocker, der oben und unten sehenswert ist.
 
Quellen
Gutersohn, Heinrich: „Geographie der Schweiz in 3 Bänden“, Band III (Mittelland), Verlag Kümmerly & Frey, Bern 1968.
 
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